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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2003:T045199.20030314
Datum der Entscheidung: 14 März 2003
Aktenzeichen: T 0451/99
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0002/03
Anmeldenummer: 86902998.3
IPC-Klasse: C12Q 1/70
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: GENETIC SYSTEM CORPORATION
Name des Einsprechenden: Dade Behring Marburg GmbH
Roche Diagnostics GmbH
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:
Ist die Aufnahme eines von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht gestützten Disclaimers in einen Anspruch zulässig und dementsprechend der Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ gewährbar, wenn der Disclaimer dazu dient, einen Neuheitseinwand nach Artikel 54 (3) EPÜ auszuräumen?
Wenn ja, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit des Disclaimers zu beurteilen?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
European Patent Convention 1973 Art 84
European Patent Convention 1973 Art 112(1)
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
Schlagwörter: Zulässigkeit von Disclaimern – gemäß Artikel 123 (2) EPÜ – Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ – anzuwendende Kriterien – Vorlage an die Große Beschwerdekammer”
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/89
G 0001/93
G 0002/98
T 0004/80
T 0433/86
T 0124/87
T 0170/87
T 0288/92
T 0434/92
T 0597/92
T 0653/92
T 0710/92
T 0426/94
T 0917/94
T 0982/94
T 0596/96
T 0608/96
T 0863/96
T 0013/97
T 0323/97
T 0934/97
T 1125/97
T 0318/98
T 0339/98
T 0351/98
T 0043/99
T 0525/99
T 0664/00
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0001/03
G 0002/10
T 0590/98
T 1049/99
T 0426/00
T 0810/00
T 1131/01
T 1107/06
T 1870/08
T 1872/14

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 0 220 273 mit der Bezeichnung “Synthetische Antigene zum Nachweis einer mit AIDS zusammenhängenden Krankheit” wurde mit 43 Ansprüchen auf die internationale Anmeldung Nr. WO 86/06414 erteilt.

Anspruch 1 in der erteilten Fassung lautete wie folgt:

“1. Verfahren zum Nachweis von LAV/HTLV-III-Viren oder Antikörpern gegen das LAV/HTLV-III-Virus, bei dem eine Probe mit einem Gemisch zusammengebracht wird, das Epitope aufweist, die immunologisch mit Epitopen von LAV/HTLV-III konkurrieren, wobei Antikörper an ein solches Proteingemisch binden und dadurch einen spezifischen Bindungspaarkomplex bilden, und das Ausmaß der Komplexbildung bestimmt wird, dadurch gekennzeichnet, daß:

als Reagenz im Testmedium ein Gemisch verwendet wird, das zumindest ein Peptid enthält, das mindestens 6 und weniger als 50 Aminosäuren aufweist, wobei zumindest 6 jener Aminosäuren aufeinanderfolgen und durch einen Teil der codierenden Region von LAV/HTLV-III von bp 450 bis bp 731 aus der gag-Region oder bp 900 bis bp 1421 (aus der gag-Region) oder bp 7210 bis bp 7815 (aus der env-Region) codiert werden.”

II. Gegen das Patent wurden Einsprüche gemäß Artikel 100 a) bis c) EPÜ eingelegt (mangelnde Neuheit, mangelnde erfinderische Tätigkeit, unzureichende Offenbarung, Erweiterung). Die Einspruchsabteilung beschloß, das Patent nach Artikel 102 (3) EPÜ auf der Grundlage des dritten damaligen Hilfsantrags in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.

III. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I) legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und beantragte ihre Aufhebung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines neuen Hauptantrags oder eines neuen ersten Hilfsantrags, die beide zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden. Ein neuer Anspruchssatz, als zweiter Hilfsantrag zu berücksichtigen, ging mit Schreiben vom 24. Mai 2002 ein. In einem dritten Hilfsantrag (in der Beschwerdebegründung als zweiter Hilfsantrag bezeichnet) beantragte die Patentinhaberin die Aufrechterhaltung des Patents in der in der angefochtenen Entscheidung festgehaltenen Form.

Die Einsprechende 2 (Beschwerdeführerin II) legte gleichfalls Beschwerde ein und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Mit Schreiben vom 29. Dezember 1999 nahm die Einsprechende 1, die gemäß Artikel 107 EPÜ am Verfahren beteiligt ist, Stellung zur Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin I und beantragte, deren Beschwerde zurückzuweisen.

IV. Der neue Hauptantrag der Beschwerdeführerin I war der von der Einspruchsabteilung zurückgewiesene Hauptantrag, sein Anspruch 1 entspricht aber dem Anspruch 1 des Antrags, dem die Einspruchsabteilung stattgegeben hat, und lautet wie folgt:

“1. Verfahren zum Nachweis von LAV/HTLV-III-Viren oder Antikörpern gegen das LAV/HTLV-III-Virus, bei dem eine Probe mit einem Gemisch zusammengebracht wird, das Epitope aufweist, die immunologisch mit Epitopen von LAV/HTLV-III konkurrieren, wobei Antikörper an ein solches Proteingemisch binden und dadurch einen spezifischen Bindungspaarkomplex bilden, und das Ausmaß der Komplexbildung bestimmt wird, dadurch gekennzeichnet, daß:

als Reagenz im Testmedium ein Gemisch verwendet wird, das zumindest ein Peptid enthält, das mindestens 6 und weniger als 50 Aminosäuren aufweist, wobei zumindest 6 jener Aminosäuren aufeinanderfolgen und durch einen Teil der codierenden Region von LAV/HTLV-III von bp 450 bis bp 731 aus der gag-Region oder bp 900 bis bp 1421 (aus der gag-Region) oder bp 7210 bis bp 7815 (aus der env-Region) codiert werden, mit Ausnahme der folgenden Peptide:

a) Peptide aus der gag-Region, die dadurch definiert ist, daß sie mit der durch ATG an Position 336 – 338 in der DNA-Sequenz von LAV codierten Aminosäure 1 – Met beginnt:

Aminosäuren 37 – 46 einschließlich, nämlich Ala-Ser-Arg-Glu-Leu- Glu-Arg-Phe-Ala-Val; Aminosäuren 49 – 79 einschließlich, nämlich Gly-Leu-Leu-Glu-Thr- Ser-Glu-Gly-Cys-Arg-Gln-Ile-Leu-Gly-Gln-Leu-Gln-Pro-Ser-Leu-Gln- Thr-Gly-Ser-Glu-Glu-Leu-Arg-Ser-Leu-Tyr; Aminosäuren 200 – 220 einschließlich, nämlich Met-Leu-Lys-Glu- Thr-Ile-Asn-Glu-Glu-Ala-Ala-Glu-Trp-Asp-Arg-Val-His-Pro-Val-His- Ala; Aminosäuren 226 – 234 einschließlich, nämlich Gly-Gln-Met-Arg- Glu-Pro-Arg-Gly-Ser; Aminosäuren 239 – 264 einschließlich, nämlich Thr-Thr-Ser-Thr- Leu-Gln-Glu-Gln-Ile-Gly-Trp-Met-Thr-Asn-Asn-Pro-Pro-Ile-Pro-Val- Gly-Glu-Ile-Tyr-Lys-Arg; Aminosäuren 288 – 331 einschließlich, nämlich Gly-Pro-Lys-Glu- Pro-Phe-Arg-Asp-Tyr-Val-Asp-Arg-Phe-Tyr-Lys-Thr-Leu-Arg-Ala-Glu- Gln-Ala-Ser-Gln-Glu-Val-Lys-Asn-Trp-Met-Thr-Glu-Thr-Leu-Leu-Val- Gln-Asn-Ala-Asn-Pro-Asp-Cys-Lys; Aminosäuren 352 – 361 einschließlich, nämlich Gly-Val-Gly-Gly- Pro-Gly-His-Lys-Ala-Arg;

b) Peptide aus der env-Region, die dadurch definiert ist, daß sie mit der durch AAA an Position 5746 – 5748 in der DNA- Sequenz von LAV codierten Aminosäure 1 – Lysin beginnt:

Aminosäuren 466 – 500 einschließlich, nämlich Leu-Thr-Arg-Asp- Gly-Gly-Asn-Asn-Asn-Asn-Gly-Ser-Glu-Ile-Phe-Arg-Pro-Gly-Gly-Gly- Asp-Met-Arg-Asp-Asn-Trp-Arg-Ser-Glu-Leu-Tyr-Lys-Tyr-Lys-Val; Aminosäuren 510 – 523 einschließlich, nämlich Pro-Thr-Lys-Ala- Lys-Arg-Arg-Val-Val-Gln-Arg-Glu-Lys-Arg; Aminosäuren 551 – 577 einschließlich, nämlich Val-Gln-Ala-Arg- Gln-Leu-Leu-Ser-Gly-Ile-Val-Gln-Gln-Gln-Asn-Asn-Leu-Leu-Arg-Ala- Ile-Glu-Ala-Gln-Gln-His-Leu; Aminosäuren 594 – 603 einschließlich, nämlich Ala-Val-Glu-Arg- Tyr-Leu-Lys-Asp-Gln-Gln; Aminosäuren 621 – 630 einschließlich, nämlich Pro-Trp-Asn-Ala- Ser-Trp-Ser-Asn-Lys-Ser; Aminosäuren 657 – 679 einschließlich, nämlich Leu-Ile-Glu-Glu- Ser-Gln-Asn-Gln-Gln-Glu-Lys-Asn-Glu-Gln-Glu-Leu-Leu-Glu-Leu-Asp- Lys-Trp-Ala.”

Wie von der Beschwerdeführerin I in ihrer Beschwerdebegründung vorgebracht, besteht der einzige Unterschied zwischen Anspruch 1 in der erteilten Fassung und diesem Anspruch 1 darin, daß alle Peptide aus der Druckschrift (1) WO 86/02383, die einen früheren ersten Prioritätstag (18. Oktober 1984) als das Streitpatent (24. April 1985) hat, aber erst am 24. April 1986, also nach dessen Anmeldetag (21. April 1986) veröffentlicht wurde und gemäß Artikel 54 (3) EPÜ als Stand der Technik gilt, aus dem letztgenannten Anspruch herausgenommen, also durch einen “Disclaimer” ausgeklammert wurden, um den Neuheitseinwand auszuräumen.

V. Am 28. Mai 2002 fand eine mündliche Verhandlung statt. Im Verlauf der Diskussion über die Frage, ob der “Disclaimer” in Anspruch 1 Erweiterungen beinhaltet und damit gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt, wurden die Beteiligten auf die Entscheidung T 323/97 vom 17. September 2001 über die Zulässigkeit von “Disclaimern” nach Artikel 123 (2) EPÜ hingewiesen (inzwischen veröffentlicht in ABl. EPA 2002, 476). Alle Beteiligten beantragten dann, daß der Großen Beschwerdekammer Fragen zu dieser Sache vorgelegt werden. Die Kammer gab ihnen zwei Monate Zeit für die Einreichung von Vorschlägen.

Alle Beteiligten reichten innerhalb der Frist Rechtsfragen zur Vorlage an die Große Beschwerdekammer ein.

VI. Die Beschwerdeführerin I beantragte, der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorzulegen:

“Kann eine Änderung eines Anspruchs, die von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht gestützt ist und in einem Disclaimer besteht, nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig sein, wenn die Änderung dazu dient, Gegenstände auszuschließen, die in einem zum Stand der Technik gehörenden Dokument, insbesondere einem Dokument gemäß Artikel 54 (3) EPÜ, offenbart sind?

Wenn ja, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit der Disclaimer zu beurteilen?”

VII. Die Beschwerdeführerin II beantragte die Vorlage der folgenden Fragen:

“1a. Bedeutet das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ, wonach eine europäische Patentanmeldung und ein europäisches Patent nicht in der Weise geändert werden dürfen, daß ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, daß jeder Disclaimer von der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung gestützt sein muß?

1b. Oder kann ein Disclaimer aufgenommen werden, der keine Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung hat und der dazu dient, die Neuheit gegenüber einer “zufälligen” Vorwegnahme in einem zum Stand der Technik gehörenden Dokument herzustellen, ohne daß Artikel 123 (2) EPÜ verletzt wird?

2. Falls die Frage 1b bejaht wird: Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob sich der Disclaimer tatsächlich auf die Begründung der Neuheit beschränkt, d. h. das hinzugefügte negative Merkmal keinen technischen Beitrag zur beanspruchten Erfindung beinhaltet?

3. Falls die Frage 1b bejaht wird: Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Vorwegnahme tatsächlich zufällig ist?

4. Falls die Frage 1b bejaht wird: Ist ein Disclaimer zulässig, der dazu dient, Gegenstände auszuschließen, die als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ gelten?

5. Falls die Frage 1b bejaht wird: Ist ein Disclaimer auch dann zulässig, wenn die Neuheit gegenüber einer Vorwegnahme in einem zum Stand der Technik gehörenden Dokument ebenso durch Aufnahme eines positiven Merkmals hergestellt werden kann?

6. Falls die Frage 1b bejaht wird: Welche weiteren Kriterien müssen möglicherweise erfüllt sein, damit ein solcher Disclaimer zulässig ist?”

VIII. Die Einsprechende 1 schlug folgende Fragen vor:

“Artikel 123 (2) EPÜ schreibt vor, daß eine europäische Patentanmeldung und ein europäisches Patent nicht in der Weise geändert werden dürfen, daß ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.

1. Können trotz dieser Vorschrift Disclaimer auch ohne Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung zugelassen werden, mit denen der Gegenstand eines europäischen Patents oder einer europäischen Patentanmeldung gegenüber einem angeblich neuheitsschädlichen Dokument aus dem Stand der Technik abgegegrenzt werden soll, insbesondere gegenüber einem solchen nach Artikel 54 (3) EPÜ, wie z. B. in den Entscheidungen T 898/91, T 526/92, T 645/95, T 608/96, T 863/96 und T 597/92 (ABl. EPA 1996, 135) festgestellt? Oder sind Disclaimer vielmehr, wie in der Entscheidung T 323/97 ausgeführt, nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht zulässig?

2. Falls die Frage 1 dahingehend beantwortet wird, daß Disclaimer zulässig sind: Nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit eines Disclaimers zu beurteilen?

Muß ein zulässiger Disclaimer insbesondere die nachstehenden Kriterien erfüllen?

a) Der Disclaimer muß exakt definiert und auf das im Stand der Technik Offenbarte beschränkt sein, d. h., durch den Disclaimer darf keine verallgemeinerte Lehre ausgeklammert werden, die auf einer Auslegung der im Stand der Technik offenbarten Lehre beruht.

b) Bei dem angeblich neuheitsschädlichen Dokument aus dem Stand der Technik muß es sich um eine zufällige Vorwegnahme handeln; das heißt, daß ein Disclaimer nur zulässig ist, wenn das Dokument, das die ausgeschlossene Offenbarung enthält, für weitere Aspekte der Prüfung der beanspruchten Erfindung nicht relevant ist, und daß das Dokument mit Aufnahme des Disclaimers aus dem Bereich des zu berücksichtigenden Stands der Technik ausscheiden muß.

c) Der Disclaimer muß die einzige Möglichkeit zur Abgrenzung gegenüber dem angeblich neuheitsschädlichen Dokument aus dem Stand der Technik sein.

3. Gelten die in 2 a), 2 b) und 2 c) genannten Kriterien auch für einen Disclaimer im Zusammenhang mit Artikel 54 (3) EPÜ?”

Entscheidungsgründe

1. Anspruch 1 des von der Kammer zu prüfenden Hauptantrags enthält einen sogenannten Disclaimer, durch den 13 im Anspruch eigens genannte Peptide aus dem Anspruchsgegenstand ausgeschlossen werden. Diese Peptide sind in der Druckschrift (1) offenbart, die nach Artikel 54 (3) EPÜ Stand der Technik ist (s. o. Nr. IV). Anspruch 1 wäre nicht neu, wenn die durch den Disclaimer ausgeklammerten Peptide darin verblieben. Dies steht in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der Kammern zu diesem besonderen Aspekt der Neuheit, wenn sich der Gegenstand eines Anspruchs mit einer Offenbarung im Stand der Technik überschneidet (s. z. B. Entscheidung T 124/87 (ABl. EPA 1989, 491)). Die entscheidende Frage in diesem Fall ist somit, ob der Disclaimer nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig ist oder nicht.

2. Die im beanspruchten Verfahren als Reagenzien zu verwendenden Peptide (s. o. Nr. IV) werden definiert durch die Anzahl der darin enthaltenen Aminosäuren und den Teil des Genoms von LAV/HTLV-III, der sie zumindest teilweise codiert. Danach können sie zwischen 6 und 49 Aminosäuren enthalten, von denen 6 aus einer von drei Regionen stammen müssen, die ihrerseits 93 Aminosäuren (codierende DNA von Basenpaar (bp) 450 bis bp 731), 170 Aminosäuren (codierende DNA von bp 900 bis bp 1421) bzw. 201 Aminosäuren (codierende DNA von bp 7210 bis bp 7815) umfassen. Die 6 Aminosäuren müssen außerdem in den genannten Regionen aufeinanderfolgen. Es ist also leicht ersichtlich, daß das beanspruchte Verfahren mit einer Fülle von Peptiden ausgeführt werden kann. Der Disclaimer, mit dem die 13 bereits in der Druckschrift (1) offenbarten Peptide ausgeschlossen werden, ist der einzige geeignete Weg, den Anspruch so zu formulieren, daß sich eine Liste aller Peptide mit Ausnahme der 13 gerade erwähnten erübrigt, die zweifellos viele Seiten füllen würde und dennoch unvollständig bliebe.

3. Nach Ansicht der Kammer entspricht der Disclaimer in Anspruch 1 somit dem Erfordernis der Klarheit (Art. 84 EPÜ), das bereits in der frühen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (z. B. Entscheidung T 4/80, ABl. EPA 1982, 149) als wesentlich für die Zulässigkeit von Disclaimern befunden wurde.

4. Anspruch 1 in seinem jetzigen Wortlaut bezieht sich auf zwei spezifische Gruppen von Peptiden: diejenigen mit den generisch definierten Merkmalen, von denen jedoch 13 ausgenommen sind, und eben diese 13, die zwar gleichfalls diese Merkmale aufweisen, aber durch einen Disclaimer vom Schutz ausgeschlossen sind. Keine dieser beiden Gruppen wurde in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung ausdrücklich genannt. Daher könnte der Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ als nicht gewährbar angesehen werden, wenn man der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern über die Anwendung des Artikels 123 (2) EPÜ im Falle von Anspruchsänderungen folgt, bei denen aus einer allgemeinen Offenbarung eine “Auswahl” bestimmter Ausführungsformen getroffen wird, die in der ursprünglichen Anmeldung nicht ausdrücklich offenbart waren (s. z. B. Entscheidung T 288/92 vom 18. November 1993). Demgegenüber wäre er nach der langjährigen Praxis des EPA und der ihr zugrundeliegenden ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern über die Zulässigkeit von Disclaimern gewährbar. Letztere soll im folgenden zusammengefaßt werden.

5. In mehreren Entscheidungen haben die Beschwerdekammern die Aufnahme eines Disclaimers in einen Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ für zulässig befunden, selbst wenn sich in der ursprünglichen Anmeldung keine ausdrückliche Stütze hierfür fand. Die wichtigsten dieser Entscheidungen werden nachstehend aufgegriffen. Verwiesen wird dabei auch auf Entscheidungen über Disclaimer, mit denen ein Neuheitseinwand nach Artikel 54 (2) EPÜ überwunden werden soll, sofern die darin aufgestellten Grundsätze auch für die Beurteilung der Zulässigkeit von Disclaimern bedeutsam sein können, die (wie im vorliegenden Fall) der Ausräumung eines Neuheitseinwands nach Artikel 54 (3) EPÜ dienen.

6. Nach den Entscheidungen T 433/86 vom 11. Dezember 1987 und T 170/87 (ABl. EPA 1989, 441) ist es in Fällen einer Überschneidung des generell Beanspruchten mit dem Stand der Technik zulässig, einen speziellen Stand der Technik durch Disclaimer von der beanspruchten Erfindung auszuschließen, auch wenn den ursprünglichen Unterlagen keine (konkreten) Anhaltspunkte für einen solchen Ausschluß zu entnehmen sind. Insbesondere heißt es in der zweiten Entscheidung, daß die in der ursprünglichen Anmeldung offenbarte erfinderische Lehre als Ganzes durch die bloße Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik keine Änderung erfahre; vielmehr werde durch den Disclaimer aus dieser Lehre nur derjenige Teil “herausgeschnitten”, den der Anmelder wegen fehlender Neuheit nicht beanspruchen könne. Für eine solche Konstruktion bestehe ein erhebliches praktisches Bedürfnis. Es gelte nur zu definieren, was von der ursprünglich offenbarten erfinderischen Lehre an Schutzfähigem noch übrigbleibe. Anders ausgedrückt wird also davon ausgegangen, daß die bloße Abgrenzung eines Anspruchs zur Überwindung eines Neuheitseinwands nicht per se die erfinderische Lehre der Anmeldung verändert und daher mit der ratio legis von Artikel 123 (2) EPÜ im Einklang steht.

7. Aus den vorstehend wiedergegebenen Entscheidungen läßt sich ableiten, daß die Zulässigkeit eines Disclaimers, der nicht von der ursprünglichen Offenbarung gestützt wird, nur an die folgenden Bedingungen geknüpft ist:

a) Es muß eine Überschneidung zwischen dem Stand der Technik und dem generisch definierten beanspruchten Gegenstand geben.

b) Der durch den Disclaimer ausgeklammerte Stand der Technik muß ein “spezieller” oder, wie in der Entscheidung T 433/86 (s. o.) deutlicher formuliert, ein spezifischer sein.

c) Der Disclaimer ist zur Herstellung der Neuheit notwendig.

8. In der Entscheidung T 597/92 (ABl. EPA 1996, 135) bestätigte die Beschwerdekammer im wesentlichen die vorstehenden Grundsätze, fügte aber ein weiteres Erfordernis hinzu: Auf einen Disclaimer dürfe nur ausnahmsweise zur Vermeidung einer neuheitsschädlichen Vorwegnahme eines Anspruchs zurückgegriffen werden, wenn sich der Gegenstand des Anspruchs auf der Grundlage der ursprünglichen Offenbarung nicht durch eine positive Formulierung beschränken lasse, ohne seine Klarheit und Knappheit ungebührend zu beeinträchtigen. Das Erfordernis der Klarheit war bereits mit der Entscheidung T 4/80 (s. o.) aufgestellt worden.

9. In der Entscheidung T 426/94 vom 22. Mai 1996 wurde dann offenbar ein neues Erfordernis eingeführt, das ein Disclaimer zur Ausräumung eines Einwands nach Artikel 54 (2) EPÜ erfüllen muß, damit er nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig ist: Der Stand der Technik, der durch ihn ausgeschlossen werde, müsse ein zufällig neuheitsschädlicher Stand der Technik sein. In der Entscheidung heißt es weiter, daß ein zur Herstellung der Neuheit aufgenommener Disclaimer genau den im Stand der Technik offenbarten Gegenstand ausklammern sollte.

10. Nach Ansicht der Kammer liegt die Bedeutung dieser Entscheidung in der Einführung einer neuen Bedingung, die ein Disclaimer erfüllen muß, damit er zulässig ist, nämlich daß der Stand der Technik zufällig neuheitsschädlich sein muß, während die unter den Nummern 6 und 7 angeführten Entscheidungen auf einen speziellen/spezifischen Stand der Technik verweisen. Dieser Grundsatz, der mit Blick auf die Wiederherstellung der Neuheit im Rahmen von Artikel 54 (2) EPÜ aufgestellt wurde, könnte auch im Zusammenhang mit Artikel 54 (3) EPÜ relevant sein.

11. Was der Begriff “zufällig” in bezug auf den Stand der Technik in diesem Kontext bedeutet, wurde unter anderem in der Entscheidung T 608/96 vom 11. Juli 2000 erläutert: Als zufällig neuheitsschädlich sei eine Offenbarung anzusehen, die der Fachmann, konfrontiert mit der dem Patent (oder der Anmeldung) zugrundeliegenden Aufgabe, nicht in Betracht ziehen würde, weil diese Entgegenhaltung einem weitab liegenden Fachgebiet zuzuordnen sei oder ihrem Gegenstand nach nichts zur Lösung der technischen Aufgabe beitrage, die der beanspruchten Erfindung zugrundeliege. Dies bedeute auch, daß eine Offenbarung nur dann als zufällig neuheitsschädlich einzustufen sei, wenn sie für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ohne jede Bedeutung sei.

12. Der vorstehend unter Nummer 9 genannte Grundsatz wurde in der Entscheidung T 917/94 vom 28. Oktober 1999 konsequent angewendet, in der ein Disclaimer ohne Grundlage in der ursprünglichen Anmeldung für unzulässig erachtet wurde, da das Dokument aus dem Stand der Technik, das der Anlaß für den Disclaimer war, dasselbe Fachgebiet (und dieselbe technische Aufgabe) betraf wie die beanspruchte Erfindung. Zudem hätte das Dokument, da es den relevantesten Stand der Technik offenbarte, zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden müssen. Ein Disclaimer, so die Entscheidung, sei nicht zulässig, wenn seine Aufnahme einen Gegenstand erfinderisch machen würde, der sonst naheliegend wäre. Da der Disclaimer das Wesen der angeblichen Erfindung verändern würde, verstoße er gegen Artikel 123 (2) EPÜ.

13. In der Entscheidung T 596/96 vom 14. Dezember 1999 wurde außerdem betont, daß das zum Stand der Technik gehörende Dokument (auf das der Disclaimer zurückgeht) unstreitig neuheitsschädlich sein müsse. Dies bedeute, daß ein Disclaimer nicht einfach vorsorglich oder behelfsweise dazu benutzt werden dürfe, den Unterschied zwischen dem beanspruchten Gegenstand und dem Stand der Technik noch klarer herauszuarbeiten.

14. Genaue und umfassende Ausführungen über die Zulässigkeit von Disclaimern enthält die Entscheidung T 934/97 vom 6. Juni 2001, wonach die Aufnahme eines Disclaimers in einen Anspruch nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt und daher zulässig ist, wenn die folgenden strengen Voraussetzungen erfüllt sind:

i) Es muß ein neuheitsschädlicher Stand der Technik vorhanden sein, und der Disclaimer muß auf der Grundlage dieses Stands der Technik präzise formuliert sein und die Erfindung gegen ihn abgrenzen.

ii) Dieser Stand der Technik muß eine zufällige Vorwegnahme sein.

iii) Der ausgeschlossene Stand der Technik muß aus dem bei der erfinderischen Tätigkeit in Betracht zu ziehenden Stand der Technik ausscheiden.

iv) Bei der Aufnahme des Disclaimers ist die in der Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) unter Nummer 9 der Entscheidungsgründe angegebene zusätzliche Bedingung einzuhalten, daß es einem Anmelder nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht gestattet sein darf, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte.

15. Unter besonderem Verweis auf Artikel 54 (3) EPÜ wurde die Zulässigkeit eines Disclaimers unter anderem in den Entscheidungen T 318/98 vom 8. August 2000 und T 1125/97 vom 22. Februar 2001 bejaht; hier war der Disclaimer zur Wiederherstellung der Neuheit gegenüber einem am Anmeldetag der Patentanmeldung noch nicht veröffentlichten Dokument notwendig. Beide Entscheidungen enthalten keine Begründung für die Bestätigung der Zulässigkeit, sondern verweisen lediglich auf die in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze.

16. Die Entscheidung T 351/98 vom 15. Januar 2002 wurde im Wissen um die in der Sache T 323/97 (s. u.) vertretene Auffassung über die Zulässigkeit von Disclaimern begründet. In der Begründung heißt es, daß bei einer Überschneidung zwischen einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ und dem beanspruchten Gegenstand dieser spezifische Stand der Technik zur Sicherung der Neuheit durch einen Disclaimer ausgeschlossen werden könne, auch wenn der ausgeschlossene Gegenstand von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht gestützt sei. Da der spätere Anmelder einen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ inhaltlich nicht gekannt haben könne und diesen somit bei der Formulierung seiner ursprünglichen Ansprüche nicht habe meiden können, erscheine es im Sinne einer ausgewogenen Auslegung des EPÜ vertretbar, ihm die Aufnahme eines Disclaimers zu gestatten, mit dem er seine Ansprüche auf das beschränken könne, was gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ neu sei. In einem solchen Fall, in dem das allzu wörtliche Bestehen auf einer genauen Grundlage in der ursprünglichen Offenbarung im Zusammenhang mit Artikel 123 (2) EPÜ dazu führen würde, daß die Veröffentlichungsfiktion aus Artikel 54 (3) EPÜ auf Gegenstände ausgedehnt würde, die in den früheren Anmeldungen überhaupt nicht offenbart seien, entspreche die Zulassung eines Disclaimers wohl einer sachgerechteren Auslegung des Übereinkommens. (Anm.: Gegenstand der Erfindung waren im damaligen wie im vorliegenden Fall HIV-Peptide.)

17. Zu einer ähnlichen Lösung gelangte die Kammer im Fall T 664/00 vom 28. November 2002, in dem der durch Disclaimer ausgeschlossene Gegenstand Teil des Stands der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ war. Die Kammer befand, daß die Aufnahme von Disclaimern als bloßer Schutzverzicht und nicht als technischer Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung anzusehen sei. Diese Disclaimer wurden somit für zulässig erachtet. Dabei wurde auf die in G 1/93 aufgestellten Grundsätze verwiesen (s. o.).

18. In etlichen weiteren Entscheidungen wurden die vorstehenden Grundsätze im wesentlichen bekräftigt, so insbesondere in den Entscheidungen T 525/99 vom 12. September 2002, T 339/98 vom 18. September 2001, T 43/99 vom 29. Januar 2001, T 13/97 vom 22. November 1999, T 863/96 vom 4. Februar 1999, T 982/94 vom 16. September 1997, T 653/92 vom 11. Juni 1996, T 434/92 vom 28. November 1995 und T 710/92 vom 11. Oktober 1995.

19. In der Sache T 323/97 (s. o.) wurden Grundsätze aufgestellt, die ausdrücklich im Gegensatz zur bislang angeführten ständigen Rechtsprechung stehen. Dort heißt es, ein Disclaimer könne nicht zur Ausräumung eines Neuheitseinwands in einen Anspruch aufgenommen werden, wenn er nicht von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt sei. Nach Ansicht der Kammer kann diese Aussage als obiter dictum angesehen werden, weil unter Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe klar dargelegt wird, daß die dem Disclaimer zugrundeliegenden Dokumente aus dem Stand der Technik nicht herangezogen worden seien oder herangezogen werden könnten, um den Gegenstand des Streitpatents wegen mangelnder Neuheit anzufechten, da sich ihr Offenbarungsgehalt von dem des Streitpatents auch ohne den Disclaimer unterscheide. Dennoch ist die Kammer der Meinung, daß diese Entscheidung eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (Art. 112 (1) EPÜ), berücksichtigt man einerseits die ständige Praxis des EPA in der Frage, ob die Aufnahme eines von der ursprünglichen Anmeldung nicht gestützten Disclaimers in einen Anspruch zulässig ist, und andererseits die Bedeutung der Einwände gegen diese Praxis, die sich aus der in Frage stehenden Entscheidung ergeben.

20. Diese Rechtsfrage ist für den vorliegenden Fall insofern relevant, als er eine Entscheidung über die Zulässigkeit eines Disclaimers erfordert. In der Entscheidung T 323/97 (s. o.) kam die Kammer zu dem Schluß, daß die Änderung eines Patents durch Einfügen eines “negativen” technischen Merkmals in einen Anspruch, womit bestimmte Ausführungsformen ausgeschlossen würden, also die Aufnahme eines Disclaimers in den Anspruch, trotz der Bezeichnung “Disclaimer” doch eine dem Artikel 123 (2) und (3) EPÜ unterliegende Änderung sei. Im Hinblick auf die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ bedeute dies, daß der geänderte Anspruch von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt sein müsse; die Erfüllung dieses Erfordernisses sei für die Zulassung von Änderungen eines Patents oder einer Patentanmeldung zwingend vorgeschrieben, wie in der Stellungnahme G 3/89 dargelegt werde (ABl. EPA 1993, 117, Nr. 1.3 der Begründung).

21. Weiter wurde ausgeführt, daß die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Kohärenz, die gemäß der Stellungnahme G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413) bei der Beurteilung der Prioritätsrechte, der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit gewahrt bleiben müßten, auch bei der Prüfung der Zulässigkeit eines von der ursprünglichen Anmeldung nicht gestützten Disclaimers zu beachten seien, der mit dem Ziel eingefügt werde, die Neuheit gegenüber einer angeblich “zufälligen” Vorwegnahme zu begründen. In der Stellungnahme G 2/98 sei insbesondere festgestellt worden, daß sich die Einschätzung, ob bestimmte technische Merkmale einer Erfindung mit ihrer Funktion und Wirkung in Zusammenhang stehen oder nicht, im Laufe des Verfahrens ändern könne, insbesondere wenn ein neuer Stand der Technik zu berücksichtigen sei, und daß sich die durch eine Erfindung gelöste technische Aufgabe vielleicht nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt ein für allemal ermitteln lasse, sondern im Zuge des Verfahrens oder auch noch danach im Lichte eines neuen Stands der Technik unter Umständen erheblich umformuliert werden müsse. Dadurch könne die Wirksamkeit eines bestehenden Prioritätsrechts gefährdet sein, was aber mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nicht vereinbar wäre. Ähnliches gelte im Hinblick auf die Zulässigkeit von Disclaimern, da nicht mit Sicherheit festgestellt werden könne, ob die durch die Änderung herbeigeführte Beschränkung, also das hinzugefügte negative Merkmal, einen technischen Beitrag zu der beanspruchten Erfindung beinhalte und ob die neuheitsschädliche Offenbarung wirklich eine zufällige gewesen sei, so daß die Zulässigkeit eines nicht von der ursprünglichen Anmeldung gestützten Disclaimers unvereinbar mit den vorstehenden Grundsätzen wäre. Letztlich sei nie auszuschließen, daß eine bestimmte Ausführungsform (z. B. eine chemische Verbindung) aus der allgemeinen Lehre einer Patentanmeldung (z. B. einer generischen Formel) mittels eines Disclaimers ausgeklammert werde, weil sie zufällig auf einem völlig anderen technischen Gebiet als dem der Anmeldung offenbart worden sei, später aber eine weitere Entgegenhaltung gefunden werde, in der Eigenschaften dieser durch den Disclaimer ausgenommenen Ausführungsform offenbart seien, die sich sehr wohl auf das betreffende technische Gebiet bezögen oder für dieses relevant seien. Dies könne eine Neuformulierung der ursprünglich maßgebenden technischen Lehre erforderlich machen, mit all den negativen Folgen, die in der Stellungnahme G 2/98 (s. o.) aufgeführt seien.

22. In der Entscheidung T 323/97 (s. o.) wurde ferner betont, daß im Lichte der Entscheidung G 1/93 (s. o.) die Einfügung eines nicht von der ursprünglichen Anmeldung gestützten Disclaimers mit Artikel 123 (2) EPÜ unvereinbar sei. Nach der Entscheidung G 1/93, die die mögliche Kollision zwischen Artikel 123 EPÜ Absatz 2 und 3 betreffe, wenn im Prüfungsverfahren eine unzulässige Änderung vorgenommen werde, könne eine solche Hinzufügung zugelassen werden, wenn sie lediglich den Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung gemäß der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausschließe und keinen technischen Beitrag zum beanspruchten Gegenstand leiste.

23. In der Sache T 323/97 (s. o.) gelangte die Kammer daher zu dem Ergebnis, daß jede Änderung eines Anspruchs durch einen von der ursprünglichen Anmeldung nicht gestützten Disclaimer, der darauf abziele, den beanspruchten Gegenstand gegenüber dem Stand der Technik weiter abzugrenzen, gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße und somit unzulässig sei.

24. Mithin wäre nach der Entscheidung T 323/97 (s. o.) der hier zu prüfende Disclaimer in Anspruch 1 nicht zulässig, denn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthält, wie unter Nummer 4 bereits erwähnt, keinen spezifischen Hinweis auf zwei Gruppen von Peptiden, d. h. die nunmehr durch den Disclaimer ausgeklammerten 13 Peptide aus der Druckschrift (1) und die übrigen Peptide, die unter die generische Definition der Peptidklasse fallen.

25. Die vorstehende Übersicht über die Rechtsprechung der Beschwerdekammern und die verschiedenen dort eingeschlagenen Lösungswege zeigt, daß eine Befassung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) EPÜ erforderlich ist. Der gewählte Wortlaut der Vorlage (s. nachstehende Entscheidungsformel) trägt zum einen den Vorschlägen der Verfahrensbeteiligten (s. o. Nrn. VI bis VIII) und zum anderen dem Umstand Rechnung, daß es im vorliegenden Fall nur um Disclaimer im Zusammenhang mit Neuheitseinwänden nach Artikel 54 (3) EPÜ geht.

26. Nach Auffassung der Kammer könnten für die sachgerechte Abklärung der Zulässigkeit von Disclaimern nach Artikel 123 (2) EPÜ die folgenden Punkte hilfreich sein:

i) Von allen möglichen Bedeutungen des Begriffs “Disclaimer” ist nur die in der Entscheidung T 323/97 (s. o.) genannte zugrundezulegen, wonach ein Disclaimer eine Änderung eines bestehenden Anspruchs ist, die in der Aufnahme eines “negativen” technischen Merkmals in den Anspruch resultiert. Wie alle Änderungen unterliegen Disclaimer Artikel 123 (2) EPÜ.

ii) Für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Disclaimers könnten die in der Entscheidung G 1/93 (s. o.) aufgestellten Grundsätze (Nr. 16 der Entscheidungsgründe) herangezogen werden. Da der Zweck des Artikels 123 (2) EPÜ darin besteht, zu verhindern, daß ein Anmelder für etwas, das er am Tag der Anmeldung nicht ordnungsgemäß offenbart und vielleicht noch nicht einmal erfunden hatte, Patentschutz erhält und sich dadurch einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft, ist ein hinzugefügtes Merkmal dann nicht als Gegenstand zu betrachten, der im Sinne dieser Bestimmung über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, wenn es lediglich den Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung gemäß der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausschließt, ohne einen technischen Beitrag zum Erfindungsgegenstand zu leisten. Tatsächlich kann man vernünftigerweise nicht unterstellen, daß die Hinzufügung eines Merkmals, das diese Voraussetzungen erfüllt, dem Anmelder zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhilft oder die Interessen Dritter beeinträchtigt. Ob diese Grundsätze mutatis mutandis auf die Zulässigkeit eines Disclaimers mit den vorstehend beschriebenen Eigenschaften anwendbar sind, ist eine Frage, die die Große Beschwerdekammer als relevant für ihre Entscheidung über diese Vorlage erachten könnte.

iii) Sollte die Große Beschwerdekammer die Entscheidung T 323/97 (s. o.) bestätigen, so würde dies gemäß Artikel 123 (2) EPÜ zur Ungültigkeit von erteilten Ansprüchen führen, die einen Disclaimer entsprechend der früheren Rechtsprechung enthalten. Dies ließe sich nicht durch einfache Streichung des Disclaimers bereinigen (sofern der Neuheitseinwand, der ursächlich für die Aufnahme des Disclaimers war, überhaupt durch andere Mittel als einen Disclaimer ausgeräumt werden könnte), ohne in die sogenannte “unentrinnbare Falle” (G 1/93, s. o.) zu geraten, da ein Disclaimer naturgemäß den Umfang eines Anspruchs einschränkt und seine Entfernung demnach unweigerlich den Schutzbereich nach der Erteilung erweitern und damit gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen würde.

iv) Im Hinblick auf Artikel 54 (3) EPÜ ist der besonderen Lage des Anmelders Rechnung zu tragen. Wie in der Entscheidung T 351/98 (s. o.) verdeutlicht, kann er von dem potentiell neuheitsschädlichen Stand der Technik in einer früheren Anmeldung, die erst nach Einreichung seiner eigenen Anmeldung veröffentlicht wurde, keine Kenntnis haben. Somit kann er seine Anmeldung nicht so formulieren, daß eine Überschneidung mit diesem Stand der Technik vermieden wird. Daß mit Artikel 54 (3) EPÜ Doppelpatentierungen verhindert werden sollen (s. z. B. Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 2. Auflage, Art. 54, Rdn. 90) legt vielleicht eine Auslegung von Artikel 123 (2) EPÜ im Sinne der Entscheidung G 1/93 nahe (s. o. Nr. 26 ii)). Eine Änderung durch einen Disclaimer ist dann nichts anderes als ein Verzicht auf Schutz eines Gegenstands, der bereits in einem gemäß Artikel 54 (3) EPÜ zum Stand der Technik gehörenden Dokument offenbart worden ist.

v) Die Beantwortung der Fragen, die der Großen Beschwerdekammer mit dieser Entscheidung vorgelegt werden, wird erhebliche Auswirkungen auf eine ganze Reihe bereits erteilter Patente haben, da der Gebrauch von Disclaimern nach der ständigen Rechtsprechung im EPA eine verbreitete Praxis ist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:

Ist die Aufnahme eines von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht gestützten Disclaimers in einen Anspruch zulässig und dementsprechend der Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ gewährbar, wenn der Disclaimer dazu dient, einen Neuheitseinwand nach Artikel 54 (3) EPÜ auszuräumen?

Wenn ja, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit des Disclaimers zu beurteilen?