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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2002:T050799.20021220
Datum der Entscheidung: 20 Dezember 2002
Aktenzeichen: T 0507/99
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0001/03
Anmeldenummer: 92116446.3
IPC-Klasse: C03C 17/36
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE | EN | FR
Fassungen: OJ v2
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: PPG Industries Ohio, Inc.
Name des Einsprechenden: SAINT-GOBAIN GLASS FRANCE
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:
1. Ist die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem Schutzumfang des Anspruchs ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist?
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit eines Disclaimers zu beurteilen?
a) Ist es insbesondere von Bedeutung, ob der Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ oder gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ abgegrenzt werden soll?
b) Muß der durch den Disclaimer ausgeschlossene Gegenstand strikt auf den in einem bestimmten Dokument des Stands der Technik offenbarten Gegenstand begrenzt sein?
c) Ist es von Bedeutung, ob der Disclaimer erforderlich ist, um dem beanspruchten Gegenstand Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zu verleihen?
d) Ist das in der bisherigen Rechtsprechung entwickelte Kriterium anzuwenden, daß es sich um eine zufällige Offenbarung handeln muß, und wenn ja, wann ist eine Offenbarung als zufällig anzusehen, oder
e) ist ein auf die Ausklammerung des Stands der Technik begrenzter und in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarter Disclaimer zwar nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig, aber bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands außer Acht zu lassen?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 52(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
European Patent Convention 1973 Art 54(4)
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 112(1)(a)
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
Schlagwörter: Zulässigkeit von Disclaimern – gemäß Artikel 123 (2) EPÜ – Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ – anzuwendende Kriterien – Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/93
G 0003/93
G 0002/98
T 0004/80
T 0043/82
T 0313/86
T 0433/86
T 0170/87
T 0296/87
T 0073/88
T 0012/90
T 0623/91
T 0898/91
T 0434/92
T 0597/92
T 0653/92
T 0710/92
T 0426/94
T 0932/94
T 0982/94
T 0608/96
T 0863/96
T 0871/96
T 0013/97
T 0323/97
T 0934/97
T 1071/97
T 0318/98
T 0351/98
T 0507/99
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0002/03
G 0002/10
T 0260/98
T 0590/98
T 0268/99
T 0507/99
T 0525/99
T 1049/99
T 0426/00
T 0810/00
T 0208/01
T 1086/01
T 1131/01
T 0161/02
T 0175/03
T 1107/06
T 1870/08
T 1872/14

Sachverhalt und Anträge

I. Das vorliegende Beschwerdeverfahren betrifft die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 11. März 1999, wonach das europäische Patent Nr. 536 607 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen den Erfordernissen des Übereinkommens genügen. Der Entscheidung lagen zwei unterschiedliche Anspruchssätze für die Vertragsstaaten A (DE, FR, GB und IT) und B (CH, ES, LI und SE) zugrunde.

II. Gegen diese Entscheidung wurde sowohl von der Einsprechenden (Beschwerdeführerin 1) als auch von der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin 2) Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdeführerin 2 (Patentinhaberin) reichte im Laufe des Verfahrens mehrmals geänderte Ansprüche ein. Die nunmehr geltende Fassung der Ansprüche, auf der die vorliegende Entscheidung beruht, reichte sie in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 12. Juni 2002 als Hauptantrag ein. Wie die der Kammer früher vorgelegten Anträge und die von der Beschwerdeführerin 2 vor der Einspruchsabteilung verteidigten Ansprüche enthalten auch diese Ansprüche Disclaimer. In einer Mitteilung, die der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, hatte die Kammer die Beschwerdeführerinnen unter anderem auf die Entscheidung T 323/97 vom 17. September 2001 (ABl. EPA 2002, 476) hingewiesen.

III. Der unabhängige Anspruch 1 für die Vertragsstaaten A gemäß dem in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Hauptantrag lautet wie folgt:

“1. Wärmebehandelbarer, metallisch aussehender, beschichteter Gegenstand, umfassend:

a) ein transparentes Glassubstrat,

b) einen Film aus einer Metallverbindung mit metallischen Eigenschaften, ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Metallboriden, Metallcarbiden, Metalloxynitriden, Chromnitrid, Titannitrid, Zirkonnitrid, Hafniumnitrid, Tantalnitrid, Niobnitrid, und

c) eine Schutzschicht, die ein anderes Metall als der der Film aus der Metalverbindung enthält, die Oxidation des Metallverbindungsfilms minimiert und ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend aus Chrom, Titan sowie Nitriden und Oxynitriden von Siliziummetallegierungen mit Ausnahme von Siliziumzirkonnitrid und Siliziumzinnitrid (Disclaimer i), Hervorhebung und Klammer durch die Kammer), mit der Einschränkung, daß die Schutzschicht im Falle eines Metallverbindungsfilms aus Titannitrid nicht aus Chrom besteht” (Disclaimer ii), Hervorhebung und Klammer durch die Kammer).

Der unabhängige Anspruch 17 dieses Hauptantrags für die Vertragsstaaten A, der ein Verfahren für die Herstellung eines wärmebehandelten, metallisch aussehenden Gegenstands betrifft, enthält ebenfalls den Disclaimer i) und zusätzlich das Verfahrensmerkmal, daß das Glassubstrat, auf das der Metallverbindungsfilm und die Schutzschicht aufgebracht werden, auf eine ausreichend hohe Temperatur erwärmt wird, um das Glas zu biegen. Den Disclaimer ii) enthält er nicht.

Der unabhängige Anspruch 1 für die Vertragsstaaten B im Hauptantrag unterscheidet sich von Anspruch 1 für die Vertragsstaaten A dadurch, daß der Disclaimer i) gestrichen ist. Er enthält aber ebenfalls den Disclaimer ii).

IV. Bezüglich der Zulässigkeit der Disclaimer brachte die Beschwerdeführerin 1 (Einsprechende) im wesentlichen folgendes vor: Mit der Entscheidung T 323/97 sei die bisherige Rechtsprechung zu Disclaimern umgestoßen worden; die Disclaimer seien nicht zulässig. Außerdem erfülle der vorliegende Fall nicht die in der ständigen Rechtsprechung formulierten Bedingungen für die Zulässigkeit von Disclaimern, wonach ein Disclaimer klar definiert und strikt darauf beschränkt sein müsse, den im Stand der Technik offenbarten Gegenstand auszuklammern, und es sich bei diesem Stand der Technik um eine zufällige Vorwegnahme handeln müsse.

V. Die Beschwerdeführerin 2 (Patentinhaberin) argumentierte hauptsächlich wie folgt:

Die Entscheidung T 323/97 stehe im Gegensatz zur allgemeinen Praxis des EPA und im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung, so z. B. zu den Entscheidungen T 433/86, T 170/87, T 434/92, T 653/92, T 710/92, T 426/94, T 982/94 und T 318/98.

Neben ihrem Hauptantrag beantragte sie hilfsweise, daß die folgenden drei Fragen der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden sollten, um eine einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten:

“Sind Disclaimer zulässig, um einen neuheitsschädlichen Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ auszuklammern? Sind Disclaimer zulässig, um einen zufällig neuheitsschädlichen Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ auszuklammern? Sind Disclaimer zulässig, um einen neuheitsschädlichen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ auszuklammern?”

VI. Am Ende der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, die am 12. Juni 2002 stattfand, teilte die Kammer den Beteiligten mit, daß sie der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage bezüglich der Kriterien für die Beurteilung der Zulässigkeit von Disclaimern vorlegen werde und die Entscheidung schriftlich ergehen werde.

VII. In ihrer Zwischenentscheidung T 507/99 vom 28. August 2002 stellte die Kammer fest, daß der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 22 gemäß dem am 12. Juni 2002 in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Hauptantrag für die Vertragsstaaten A (DE, FR, GB und IT) und der Gegenstand der gleichzeitig eingereichten Ansprüche 1 bis 21 für die Vertragsstaaten B (CH, ES, LI und SE) den Patentierbarkeitserfordernissen der Artikel 52 (1), 54 und 56 EPÜ genügten. Als die Kammer die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands dieser Ansprüche daraufhin prüfte, ob die Zulässigkeit der darin enthaltenen Disclaimer für den Ausgang der Beschwerde maßgeblich sei, gelangte sie zu folgendem Schluß, der hier insoweit wiedergegeben ist, als er für die vorliegende Entscheidung über die Befassung der Großen Beschwerdekammer relevant ist. Einzelheiten der Argumentation der Kammer zur Neuheit und zur erfinderischen Tätigkeit in bezug auf den Hauptantrag der Beschwerdeführerin 2 sind der Begründung der Zwischenentscheidung der Kammer vom 28. August 2002 zu entnehmen.

Der Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags für die Vertragsstaaten A und B ist neu gegenüber dem Stand der Technik, und zwar aus folgenden Gründen:

Im Streitpatent werden Prioritäten vom 30. September 1991 und vom 29. November 1991 in Anspruch genommen. Insoweit, als die am 16. Juni 1993 veröffentlichte Entgegenhaltung D1 (EP-A-0 546 302) zu Recht die Priorität vom 30. Oktober 1991 beanspruchen kann, gehört ihr Offenbarungsgehalt in bezug auf die Vertragsstaaten A für gewisse in den Ansprüchen 1 und 17 des betreffenden Hauptantrags beschriebene Ausführungsformen, denen die beanspruchte Priorität vom 30. September 1991 nicht zusteht, zum Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ. Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 17 des Hauptantrags für die Vertragsstaaten A ist neu gegenüber D1, insbesondere weil die in D1 offenbarte Verwendung von Siliziumzirkonnitrid und Siliziumzinnitrid für die Schutzschicht mit dem Disclaimer i) ausgeklammert wurde (Nrn. 5 und 5.1 der Entscheidungsgründe). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin 1, daß D1 auch Siliziumaluminiumnitrid, Siliziummetallnitride und Siliziummetalloxynitride offenbare, die unter die Ansprüche 1 und 17 fielen, und damit mehr als die im Streitpatent durch den Disclaimer ausgeklammerten Gegenstände, wurde zurückgewiesen (Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe).

Der Gegenstand des Anspruchs 1 wurde auch gegenüber A8 (US-A-4 900 630) für neu befunden, da die dort offenbarte Kombination einer TiN- mit einer Cr-Schicht, die zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehört, durch den Disclaimer ii) ausgeklammert war. Auch zwischen dem Verfahrensanspruch 17 und A8 besteht ein Unterschied, weil A8 nicht offenbart, daß das beschichtete Glassubstrat auf eine ausreichend hohe Temperatur erwärmt werden muß, damit das Glas gebogen werden kann (Nr. 5.7 der Entscheidungsgründe).

Für die Vertragsstaaten B gehört D1 nicht zum Stand der Technik. Bezüglich A8 gilt dasselbe wie bei Anspruch 1 für die Vertragsstaaten A. Daher wurde der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags für diese Staaten auch ohne den Disclaimer i) für neu erachtet (Nr. 5.9 der Entscheidungsgründe).

Bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit wurden verschiedene Dokumente als nächstliegender Stand der Technik in Betracht gezogen, nämlich A7, A3 und A6. Geht man von einem dieser Dokumente als nächstliegendem Stand der Technik aus, so könnte die vom Streitpatent zu lösende technische Aufgabe in der Bereitstellung weiterer beschichteter Gegenstände gesehen werden, die ihr metallisches Aussehen und ihre Reflektions- und Leiteigenschaften während einer Wärmebehandlung wie dem Biegen im wesentlichen beibehalten (Nrn. 6.1 und 6.5 der Entscheidungsgründe). Der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche für alle Vertragsstaaten wurde als erfinderisch gegenüber den von der Einsprechenden angeführten Dokumenten oder Kombinationen von Dokumenten angesehen. Mit Bezug auf A8 wurde insbesondere hervorgehoben, daß die dort offenbarten beschichteten Glasplatten als Bau- oder Dekorationsmaterial geeignet sind. Die Ti- oder Cr-Schicht, die die TiN-Schicht bedeckt, haftet fest daran und verleiht der Mehrfachbeschichtung eine ausreichend hohe Beständigkeit und Strapazierfähigkeit. Diese Entgegenhaltung geht nicht darauf ein, wie eine Verschlechterung der optischen Eigenschaften durch die hohen Temperaturen vermieden werden kann, denen das beschichtete Glas bei einem Biegevorgang ausgesetzt ist. Ihr ist nicht zu entnehmen, daß sich diese technische Aufgabe durch das Aufbringen einer Schutzschicht aus Chrom auf die TiN-Schicht lösen ließe. Der Fachmann würde daher – stünde er vor der in bezug auf A7 genannten technischen Aufgabe – durch A8 nicht ermutigt, die Aluminiumschutzschicht gemäß der Lehre von A7 durch eine Chrom- oder Titanschicht zu ersetzen, und dies um so weniger, als A7 ferner lehrt, daß Versuche, das Aluminium der Schutzschicht durch ein anderes Material wie Titan zu ersetzen, gescheitert sind (Nr. 6.7 der Entscheidungsgründe).

Ferner betonte die Kammer – ohne einer Entscheidung vorzugreifen, ob die geänderten Ansprüche insgesamt mit Artikel 123 (2) EPÜ in Einklang stehen – , daß sie im Rahmen dieses Artikels abgesehen von den Disclaimern nichts gegen die Änderungen einzuwenden habe, die nach der Patenterteilung mit dem Hauptantrag für die Vertragsstaaten A und B in beiden Anspruchssätzen vorgenommen wurden. Der Disclaimer i) sei jedoch in der Anmeldung des Streitpatents in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart, und der Disclaimer ii) scheine darin ebensowenig offenbart zu sein. Der Gegenstand der Disclaimer i) und ii) sei in D1 bzw. A8 offenbart, weswegen die Disclaimer auch in die Ansprüche des Streitpatents aufgenommen worden waren (Nr. 3 der Entscheidungsgründe).

Entscheidungsgründe

Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, befaßt die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält.

1. Wie der unter Nummer VII wiedergegebenen Begründung der Kammer für ihre Zwischenentscheidung vom 28. August 2002 zu entnehmen ist, hängt im vorliegenden Beschwerdeverfahren die Zulässigkeit des Hauptantrags der Beschwerdeführerin 2 davon ab, ob die in einige der Ansprüche für beide Vertragsstaatengruppen aufgenommenen Disclaimer zulässig sind.

Der Begriff “Disclaimer” wird in einigen Entscheidungen der Beschwerdekammern nicht nur im Sinne eines negativen Merkmals verwendet, das genau definierte Ausführungsformen aus dem Schutzumfang eines Anspruchs ausklammert, sondern auch mit Bezug auf “positive” Angaben mit derselben Wirkung. Im folgenden werden auch diese Entscheidungen insoweit betrachtet, als sie für die Festlegung von Bedingungen für die Zulässigkeit von Disclaimern relevant sind, selbst wenn die Kammer es im vorliegenden Fall nur mit Disclaimern im klassischen Sinne zu tun hat, d. h. mit negativen Merkmalen, die genau definierte Ausführungsformen aus dem Schutzumfang der Ansprüche ausklammern.

2.1 Die Aufnahme eines Disclaimers in einen Anspruch wurde in der Rechtsprechung der Kammern erstmals im Fall T 4/80 (ABl. EPA 1982, 149) zugelassen. In dieser Entscheidung wurde ein Disclaimer in Form eines negativen Merkmals für zulässig erachtet, um den beanspruchten Gegenstand gegenüber der Offenbarung einer früheren, nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54 EPÜ gehörenden nationalen Patentanmeldung abzugrenzen, sofern der auszuschließende Gegenstand in der europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart war und darüber hinaus der im Patentanspruch verbleibende Gegenstand nicht klarer und knapper direkt (positiv) technisch definiert werden kann (Leitsatz I sowie Nrn. 2 und 3 der Entscheidungsgründe). In der Entscheidung T 433/86 vom 11. Dezember 1987 ließ die Kammer den Ausschluß einer sich mit einem Dokument des Stands der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ überschneidenden Offenbarung durch Einfügen eines Disclaimers zu (der in diesem Fall “positiv” formuliert war), obwohl der durch den Disclaimer ausgenommene Bereich mit Werten definiert war, die als solche zwar nicht in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, aber im Dokument des Stands der Technik offenbart waren, gegenüber dem der Anspruch abgegrenzt werden mußte. Wenn sich der Stand der Technik und der bereichsmäßig definierte beanspruchte Gegenstand überschneiden, kann nach dieser Entscheidung ein bestimmter Stand der Technik ausgeklammert werden, auch wenn sich in den ursprünglichen Unterlagen keine Stützung für den Ausschluß dieses Gegenstands findet.

2.2 Dieser Ansatz hat sich in der Rechtsprechung durchgesetzt. Obwohl die Beschwerdekammern später, wie weiter unten dargelegt, gewisse Einschränkungen in bezug auf Disclaimer vornahmen, die zur Abgrenzung eines Anspruchs gegenüber Gegenständen dienten, die zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehören, haben sie die Abgrenzung durch einen Disclaimer, der einen in einer kollidierenden Anmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ offenbarten Gegenstand definiert, doch stets zugelassen, wenn der im Patentanspruch verbleibende Gegenstand nicht klarer und knapper durch positive technische Merkmale definiert werden konnte. In der Literatur wurde die Zulassung solcher Disclaimer unter dem Gesichtspunkt des Artikels 123 (2) EPÜ damit gerechtfertigt, daß sie die gegebene technische Lehre nicht änderten, sondern lediglich dem Umstand Rechnung trügen, daß das Recht auf das Patent für verschiedene Bereiche verschiedenen Anmeldern zustehe und in dieser Situation ein Bedürfnis für die Zulassung von Disclaimern bestehe, weil der Anmelder bei der Abfassung seiner Anmeldung kollidierende Anmeldungen nach Artikel 54 (3) EPÜ regelmäßig noch nicht kennen könne (Teschemacher in Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 2. Aufl., Köln 2000, Art. 84, Rdn. 21).

Dieser Standpunkt wurde jüngst durch die Entscheidung T 351/98 der Beschwerdekammer 3.3.4 vom 15. Januar 2002 bestätigt (Nrn. 11 und 45 der Entscheidungsgründe). Dort vertrat die Kammer in Kenntnis der Entscheidung T 323/97 (s. Nr. 2.3) die Auffassung, daß es bei einer ausgewogenen Auslegung des EPÜ gerechtfertigt sei, einem späteren Anmelder das Einfügen eines Disclaimers zu gestatten, um seine Ansprüche auf die gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ neuen Gegenstände zu beschränken.

2.3 Wie in der Entscheidung T 323/97 (ABl. EPA 2002, 476) zusammenfassend festgestellt, haben die Beschwerdekammern in der Vergangenheit auch das Einfügen von aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht herleitbaren Disclaimern in einen Anspruch zugelassen, um einem beanspruchten Gegenstand durch Abgrenzung gegen eine “zufällige Vorwegnahme” im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ Neuheit zu verleihen (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe, mit Verweis auf mehrere frühere Entscheidungen). In diesem Zusammenhang galt eine Vorwegnahme als zufällig, wenn der Fachmann sie bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit des Patents (oder der Patentanmeldung) nicht berücksichtigt hätte, weil sie entweder einem völlig anderen Gebiet der Technik zuzuordnen ist oder ihrem Gegenstand nach nichts zur Lösung der technischen Aufgabe beiträgt, die der beanspruchten Erfindung zugrunde liegt. Dabei wurde auf T 608/96 vom 11. Juli 2000, Nummer 6 der Entscheidungsgründe, Bezug genommen. Diese Kammer hat den Eindruck, daß die letztgenannte Entscheidung von einer anderen Definition der “zufälligen Vorwegnahme” ausgeht, zumindest was die sprachliche Formulierung betrifft. Auf diesen Aspekt wird später (Nr. 7.3) eingegangen, da er für die Kernfrage dieser Vorlageentscheidung nicht relevant ist, bei der es um die unterschiedlichen Grundsätze für die Zulässigkeit von Disclaimern geht, die in der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern einerseits und in T 323/97 andererseits aufgestellt wurden.

Die in der Rechtsprechung gegebenen Begründungen für die Zulässigkeit von Disclaimern zur Abgrenzung gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ ähneln sehr stark denen, die oben bereits für die Zulassung von Disclaimern bei kollidierenden Anmeldungen nach Artikel 54 (3) EPÜ angeführt wurden.

In der Entscheidung T 170/87 (ABl. EPA 1989, 441), die häufig als Grundlage für die später entwickelte umfangreiche Rechtsprechung zu Disclaimern zitiert wird, heißt es in Nummer 8.4.1 der Entscheidungsgründe unter Verweis auf T 4/80 und T 433/86, daß es in Fällen einer Überschneidung des allgemein Beanspruchten mit dem Stand der Technik nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern zulässig sei, einen speziellen Stand der Technik durch Disclaimer von der beanspruchten Erfindung auszuschließen, auch wenn den ursprünglichen Unterlagen keine (konkreten) Anhaltspunkte für einen solchen Ausschluß zu entnehmen seien. Nach Nummer 8.4.3 der Entscheidungsgründe ist diese Praxis aus folgenden Erwägungen heraus gerechtfertigt: “Durch die bloße Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik bzw. dem, was sich als nicht funktionierend erwiesen hat, erfährt die in der Anmeldung ursprünglich konkret offenbarte erfinderische Lehre als Ganzes keine Änderung; vielmehr wird durch den Disclaimer (oder durch eine zum gleichen Ergebnis führende “positive” Formulierung) aus dieser Lehre nur derjenige Teil im Sinne eines Teilverzichts “herausgeschnitten”, den der Anmelder wegen fehlender Neuheit oder Ausführbarkeit nicht beanspruchen kann. … Erforderlich ist nur, auf geeignete Weise zu definieren, was unter den gegebenen Umständen von der ursprünglich offenbarten erfinderischen Lehre an Schutzfähigem noch übrigbleibt.”

Andererseits wurde entschieden, daß eine neue Lehre mit dem Instrument des Disclaimers nicht erfinderisch gemacht werden könne (T 170/87, Nr. 8.4.4 der Entscheidungsgründe und T 597/92, ABl. EPA 1996, 135, Nr. 3 der Entscheidungsgründe). In diesem Fall solle nämlich nicht aus einer ursprünglich offenbarten erfinderischen Lehre etwas herausgeschnitten werden, sondern einer durchaus naheliegenden Lehre durch nachträgliches Hinzufügen eines ursprünglich nicht konkret offenbarten Merkmals Erfindungsqualität erst verliehen werden. Damit würde die in den Erstunterlagen enthaltene technische Lehre wesentlich modifiziert (T 170/87, a. a. O.).

3. Im vorliegenden Fall wurde der Disclaimer i) in die Ansprüche 1 und 17 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten A aufgenommen, um für bestimmte in diesen Ansprüchen angegebene Ausführungsformen die Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber D1 herzustellen, einem Dokument des Stands der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ. Der Disclaimer ii) wurde in den Anspruch 1 beider Anspruchssätze aufgenommen, um ihren Gegenstand gegenüber einer Offenbarung in der Entgegenhaltung A8 abzugrenzen, die für beide Anspruchssätze für die Vertragsstaaten A und B zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehörte. Die Kammer ging davon aus, daß die Disclaimer als solche wie auch die ausgeschlossenen Gegenstände in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart waren, aber Gegenstände ausschlossen, die in D1 bzw. A8 offenbart waren. Wie aus dem Wortlaut der Ansprüche des vorliegenden Hauptantrags mit den Disclaimern sofort ersichtlich ist, sind beide Disclaimer eng definiert, um die konkreten, in D1 für die erste Schutzschicht bzw. in A8 für beide Schutzschichten offenbarten Materialien aus der großen Gruppe der Materialien auszuschließen, die in den Ansprüchen des Hauptantrags für die jeweiligen Schichten vorgesehen sind. Ebenso steht außer Frage, daß die damit bezweckte Einschränkung der Ansprüche nicht klarer und knapper positiv hätte erfolgen können, z. B. durch Auflistung aller noch verbleibenden Materialien, ohne den Schutzumfang der betreffenden Ansprüche unverhältnismäßig einzuschränken.

Wie unter Nummer 6.7 der Gründe für die Zwischenentscheidung der Kammer vom 28. August 2002 und oben unter Nummer VII dargelegt, geht die Entgegenhaltung A8 nicht darauf ein, wie sich eine Verschlechterung der optischen Eigenschaften durch die hohen Temperaturen vermeiden läßt, denen das beschichtete Glas beim Biegevorgang ausgesetzt ist. Ihr ist nicht zu entnehmen, daß sich diese technische Aufgabe unter Umständen durch das Aufbringen einer Schutzschicht aus Chrom auf die TiN-Schicht lösen ließe. Der Fachmann würde daher – stünde er vor der dem Patent zugrunde liegenden technischen Aufgabe in bezug auf A7 – durch A8 nicht ermutigt, die Aluminiumschutzschicht gemäß der Lehre von A7 durch eine Chrom- oder Titanschicht zu ersetzen, und dies um so weniger, als A7 ferner lehrt, daß Versuche, das Aluminium der Schutzschicht durch ein anderes Metall wie Titan zu ersetzen, gescheitert sind. Somit ist der Offenbarungsgehalt von A8 – auch wenn A8 möglicherweise für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehen ist – auf keinen Fall von solcher Bedeutung, daß er für sich genommen oder in Kombination mit dem Offenbarungsgehalt anderer Entgegenhaltungen den beanspruchten Gegenstand für den mit der Aufgabenstellung des Streitpatents konfrontierten Fachmann nahegelegt hätte.

4. Die bisherige Praxis und Rechtsprechung im Hinblick auf Disclaimer wurde nun grundsätzlich und in sehr umfassender Weise in Frage gestellt – und was noch schwerer wiegt: Ihre Beibehaltung wurde in der obengenannten Entscheidung T 323/97 als ungerechtfertigt bezeichnet. Dort war die Beschwerdekammer 3.3.6 mit einem Fall befaßt, in dem der Disclaimer, der in den Anspruch 1 des Hauptantrags aufgenommen worden war, um bestimmte Ausführungsarten aus seinem Schutzumfang auszuschließen, nicht aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar war (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe).

4.1 Nach Abwägung der bestehenden Rechtsprechung zu den Kriterien für die Zulässigkeit von Disclaimern gelangte die Kammer 3.3.6 zu dem Schluß, daß die Änderung eines Patents durch Einfügen eines negativen technischen Merkmals in einen Anspruch, womit bestimmte Ausführungsformen ausgeschlossen würden, trotz der Bezeichnung “Disclaimer” doch eine dem Artikel 123 (2) und (3) EPÜ unterliegende Änderung sei. Daher müsse der geänderte Anspruch durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt sein (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe). Dann wandte sich die Kammer der Stellungnahme G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413) zu und konnte angesichts der dort im Rahmen der Auslegung der Bestimmungen zum Prioritätsrecht behandelten Grundsätze der Rechtssicherheit und der Stetigkeit keinen Grund erkennen, der im Lichte der Stellungnahme G 2/98 der Großen Beschwerdekammer die Beibehaltung der Praxis früherer Entscheidungen rechtfertigen würde, Disclaimer, die nicht durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt sind, zuzulassen (Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe, Hervorhebung durch die Kammer). Unter Nummer 2.4.1 der Entscheidungsgründe in der Sache T 323/97 wird insbesondere auf Nummer 2 der Entscheidungsgründe von T 433/86 Bezug genommen, wo es heißt: “ein bestimmter Stand der Technik [kann] ausgeklammert werden, auch wenn sich in den ursprünglichen Unterlagen keine Stützung für den Ausschluß dieses Gegenstands findet” (Hervorhebung durch die Kammer). Die Nummern 2.4 und 2.4.1 der Entscheidungsgründe in der Sache T 323/97 lassen also darauf schließen, daß die Feststellung der Kammer, sie könne im Lichte von G 2/98 keine Rechtfertigung erkennen, die Praxis der Zulassung von aus der ursprünglichen Anmeldung nicht herleitbaren Disclaimern beizubehalten, so zu verstehen ist, daß entweder der Disclaimer selbst oder der ausgeschlossene Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart sein muß.

Der Hauptgrund, aus dem die Beschwerdekammer 3.3.6 das Prinzip, aus der ursprünglichen Anmeldung nicht herleitbare Disclaimer zuzulassen, wenn sie sich auf eine zufällige Offenbarung im Stand der Technik beziehen, für unvereinbar mit den in G 2/98 (Abl. EPA 2001, 413) behandelten Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Stetigkeit hielt, scheint mit der Ablehnung des sogenannten “Snackfood-approach” für die Feststellung der Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs in G 2/98 zu tun zu haben (s. beispielsweise Nrn. II iv) und 8.3, wo auf T 73/88, ABl. EPA 1992, 557, Bezug genommen wird). Demnach lasse sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ein für allemal mit Sicherheit feststellen, ob die durch die Änderung herbeigeführte Einschränkung einen technischen Beitrag zu der beanspruchten Erfindung beinhaltet und ob die neuheitsschädliche Offenbarung wirklich eine zufällige war. So sei beispielsweise nie auszuschließen, daß eine bestimmte Ausführungsform von der allgemeinen Lehre einer Patentanmeldung mittels eines Disclaimers ausgeklammert wird, weil sie zufällig auf einem völlig anderen technischen Gebiet als dem der Anmeldung offenbart wurde, später aber eine andere Entgegenhaltung gefunden wird, in der Eigenschaften dieser durch den Disclaimer ausgenommenen Ausführungsform offenbart sind, die sich auf das betreffende technische Gebiet beziehen oder für dieses relevant sind. Dies könnte eine Neuformulierung der erfindungsgemäßen Aufgabe, die der technischen Lehre ursprünglich zugrunde lag, erforderlich machen mit all den negativen Folgen, die in G 2/98 aufgeführt sind (T 323/97, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe).

Nach Ansicht der Kammer 3.3.6 ist die Änderung eines Anspruchs durch die Einfügung eines Disclaimers, der in der ursprünglichen Anmeldung keine Stütze findet, auch im Lichte der Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) nicht mit Artikel 123 (2) EPÜ vereinbar; in dieser Entscheidung heißt es, daß die Beschränkung eines Anspruchs durch Hinzufügung eines in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Merkmals zugelassen werden könne, wenn sie lediglich den Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung gemäß der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausschließt und keinen technischen Beitrag zum beanspruchten Gegenstand leistet. Die Kammer 3.3.6 vertrat die Auffassung, daß ein Disclaimer, der darauf abziele, das Patent weiter gegenüber dem für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehenden Stand der Technik abzugrenzen, nicht als bloßer Verzicht auf den Schutz aufgefaßt werden könne und dem Patentinhaber zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhelfen würde (T 323/97, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe).

4.2 Obwohl die Beschwerdekammer 3.3.6 lediglich über einen Fall zu entscheiden hatte, in dem der Anspruch durch die Aufnahme des Disclaimers gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ abgegrenzt werden sollte, ist ihre Aussage unter Nummer 2.4 der Entscheidungsgründe, daß die Praxis, durch die ursprüngliche Anmeldung nicht gestützte Disclaimer zuzulassen, nicht beibehalten werden könne, von solcher Allgemeinheit, daß sie auch Situationen betrifft – d. h. einschließt -, in denen ein in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbarter Disclaimer in einen Anspruch aufgenommen wird, um ihn gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ abzugrenzen. Offenbar ist diese Kammer nicht allein mit ihrer Einschätzung, daß die Auswirkungen der zitierten Feststellung in T 323/97 so weitreichend sind. So hob die Kammer 3.3.4 in der bereits angeführten jüngeren Entscheidung T 351/98 (Nrn. 11 und 45 der Entscheidungsgründe), bei der es um einen Disclaimer gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ ging, mit Bezug auf T 323/97 ausdrücklich hervor, daß bei einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ ihre Auffassung, wonach ein Disclaimer zugelassen werden könne, selbst wenn der ausgenommene Gegenstand nicht durch die ursprüngliche Anmeldung gestützt werde, als angemessenere Auslegung des EPÜ anzusehen sei als der in T 323/97 vertretene Standpunkt. Diese Kammer sieht sich durch die Feststellung in T 351/98 in ihrer Ansicht bestätigt, daß die sehr generelle Verneinung der Zulässigkeit von aus der ursprünglichen Anmeldung nicht herleitbaren Disclaimern, die in der Entscheidung T 323/97 unter Berufung auf die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ zum Ausdruck gebracht wird, auch die Abgrenzung eines Gegenstands gegenüber einer früheren Anmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ einschließt.

5.1 Es versteht sich von selbst und bedarf daher keiner weiteren Erklärung, daß diese grundlegend andere und sehr restriktive neue Auslegung der Bedingungen für die Zulässigkeit von Disclaimern eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ ist. Sie ist von größter Wichtigkeit für den Schutz, den Anmelder oder Patentinhaber erlangen können, die ihre beanspruchten Erfindungen mit Bezug auf den einschlägigen Stand der Technik definieren oder neudefinieren müssen. Insbesondere auf dem Gebiet der Chemie, aber nicht nur dort, sind Disclaimer mittlerweile zu sehr wichtigen Instrumenten für Anmelder geworden, die einen optimalen Schutz ihrer Erfindungen erhalten, den Schutzumfang ihrer Ansprüche aber nicht stärker einschränken möchten, als dies angesichts des Stands der Technik erforderlich ist. Die Entscheidung T 323/97 hat zu einer Verunsicherung der Anmelder darüber geführt, was sie künftig – je nach der Haltung der für den betreffenden Einzelfall zuständigen Kammer – beanspruchen dürfen. Daher muß diese Frage in einem breiteren Kontext geklärt werden.

5.2 Ferner stellte die Kammer 3.3.6 unter Nummer 2.4 der Entscheidungsgründe ausdrücklich fest, daß ihre Auffassung von den Grundsätzen abweiche, nach denen die Beschwerdekammern bislang die Zulässigkeit der Einfügung von Disclaimern in einen Anspruch beurteilt hätten. Diese Vorlageentscheidung dient damit auch der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung im Sinne von Artikel 112 (1) a) EPÜ.

5.3 Unter Nummer der 2.6 der Entscheidungsgründe in T 323/97 erläutert die Kammer 3.3.6 außerdem kurz, daß der in Anspruch 1 des Hauptantrags eingefügte Disclaimer auch nach der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern unzulässig wäre, weil die Entgegenhaltungen, auf denen er basiere, keine zufälligen Vorwegnahmen seien. Nach Auffassung dieser Kammer können die Aussagen, die die Kammer 3.3.6 in ihrer Entscheidung T 323/97 über die Erfordernisse für die Zulässigkeit von Disclaimern macht, aber nicht als obiter dicta angesehen werden, weil sie der Kernpunkt der dort gegebenen Begründung für die Unzulässigkeit des Hauptantrags der Beschwerdeführerin sind. Diese Kammer teilt damit nicht die in der “Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts”, 4. Auflage 2001, II.B – 1.2.1 vertretene Auffassung. In einer Entscheidung getroffene Feststellungen sind noch keine obiter dicta, nur weil die Entscheidung auf mehreren Gründen basiert, von denen jeder einzelne für sich genommen als Begründung ausreichen würde. Der umfassenden Begründung in T 323/97 ist ganz eindeutig zu entnehmen, daß die Kammer 3.3.6 ihre Entscheidung in erster Linie auf ihre neue Auffassung stützen wollte, daß durch die Aufnahme eines aus der ursprünglichen Anmeldung nicht herleitbaren Disclaimers geänderte Ansprüche gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen, womit sie einer Beibehaltung der bisherigen Entscheidungspraxis die Berechtigung absprach. Nach Ansicht dieser Kammer können obiter dicta – wie im vorliegenden Fall – durchaus Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ betreffen. Nach der Stellungnahme G 3/93 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1995, 18, Nr. 2 der Entscheidungsgründe) können sie sogar eine Vorlage rechtfertigen, wenn zwei Beschwerdekammern in einer Frage zu unterschiedlichen Entscheidungen gelangen, da auch ein “obiter dictum” zu Rechtsunsicherheit führen kann.

6. Nicht nur die Entscheidung T 323/97, in der eine neue und völlig konträre Auffassung in der Disclaimer-Frage vertreten wird, macht eine Klärung der Kriterien erforderlich, nach denen die Zulässigkeit der Aufnahme von Disclaimern zu beurteilen ist, die aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht herleitbar sind. Eine genauere Betrachtung der Formulierungen, die die Beschwerdekammern bislang in ihrer Rechtsprechung zur Festlegung der Erfordernisse für die Zulässigkeit von Disclaimern verwendet haben, zeigt, daß die Terminologie nicht immer identisch ist. Diese Kammer bezweifelt, daß die verschiedenen Formulierungen unbedingt dasselbe bedeuten; dies wird im folgenden näher erläutert.

7.1 Zunächst divergiert die Rechtsprechung der Beschwerdekammern in der Frage, ob sich ein in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarter Disclaimer, durch den ein neuheitsschädlicher Gegenstand – und auch ein Gegenstand, der nach Artikel 54 (3) EPÜ als Stand der Technik gilt – ausgeklammert werden soll, strikt darauf beschränken muß, den im Stand der Technik offenbarten Gegenstand auszuklammern, damit seine Aufnahme in einen Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig ist.

7.1.1 In einigen Entscheidungen wurden Disclaimer zugelassen, die mehr ausklammerten als das, was im Stand der Technik offenbart war. In diesem Zusammenhang sei auf T 296/87 (ABl. EPA 1990, 195, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe) und T 12/90 vom 23. August 1990 (Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe) verwiesen. Dort gelangte die Kammer zu dem Schluß, daß ein solcher Disclaimer den Vorzug erheblich besserer Übersichtlichkeit genieße. In T 12/90 wurde als weitere Begründung für die Zulässigkeit eines solchen Disclaimers angeführt, daß er den verbleibenden Gegenstand des Anspruchs gegenüber der ursprünglichen Offenbarung nicht derart verändere, daß sich daraus eine andere technische Lehre (aliud) ergäbe.

Dagegen wurde z. B. in T 1071/97 vom 17. August 2000 ausdrücklich gefordert, daß die Einfügung eines Disclaimers nur unter der Bedingung zugelassen werden dürfe, daß der ausgenommene Gegenstand exakt definiert und strikt auf den vorweggenommenen Gegenstand beschränkt sei. Diese Bedingung wird auch in T 43/82 vom 16. April 1984 (Nr. 9 der Entscheidungsgründe) gestellt und könnte sich aus T 434/92 vom 28. November 1995, Nummer 5.3 der Entscheidungsgründe, ebenso ergeben wie aus T 982/94 vom 16. September 1997, Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe (s. diesbezüglich auch T 898/91 vom 18. Juli 1997, Nr. 2.1.1 der Entscheidungsgründe, wo der Disclaimer jedoch für zu eng gefaßt befunden wurde).

Eine Zwischenposition vertrat die Kammer offenbar in T 426/94 vom 22. Mai 1996, wo der im gewährten Anspruch enthaltene Disclaimer im nachhinein so geändert wurde, daß sein Wortlaut dem Wortlaut des Offenbarungsgehalts der neuheitsschädlichen Vorwegnahme möglichst nahe kam (Nr. 3 der Entscheidungsgründe).

7.1.2 Im vorliegenden Fall wurde vorgebracht, daß sich der Disclaimer i) nicht strikt darauf beschränke, den zum Stand der Technik gehörenden Gegenstand auszuklammern (siehe Nr. IV). Diese Frage ist bislang noch nicht entschieden worden; die Sachlage ist aber folgende:

Die Entgegenhaltung D1 kann insofern nur als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ gelten, als ihr Gegenstand dem in der japanischen Patentanmeldung Nr. 311723/91 offenbarten Gegenstand entspricht, deren Priorität sie beansprucht (siehe Nr. VII). Diese japanische Anmeldung offenbart laut ihrem Anspruch 1 aber ein Verfahren zur Herstellung eines gebogenen beschichteten Glases, das folgende Schritte umfaßt: Aufbringen einer solaren Kontrollschicht (die aus einigen der Materialien bestehen kann, die nach den Ansprüchen 1 und 17 des Streitpatents für die Vertragsstaaten A den Metallverbindungsfilm bilden) auf ein Glassubstrat, Ausbilden einer ersten und einer zweiten Schutzschicht zur Schaffung eines mit mindestens drei Schichten überzogenen Glases sowie Biegen des beschichteten Glases. Dieser Gegenstand entspricht der im abhängigen Anspruch 2 von D1 beschriebenen Ausführungsform, bei der eine zweite Schutzschicht vorhanden sein muß und das beschichtete Glas gebogen wird, wie es in D1, Seite 2, Zeile 24 offenbart ist. Dagegen betrifft Anspruch 17 für die Vertragsstaaten A ein Verfahren zur Herstellung eines gebogenen beschichteten Glases, bei dem mindestens zwei Schichten aufgebracht werden, so daß die Ausbildung einer dritten Schicht höchstens optional erfolgt. Gemäß Anspruch 1 für die Vertragsstaaten A enthält das wärmebehandelbare beschichtete Glas zwei Schichten, so daß das Vorhandensein einer dritten Schicht optional ist, und das Wärmebehandlungsverfahren, für das sich der Gegenstand eignen muß, kann dem Patent zufolge ein Biegeverfahren sein.

Die hier behandelte Frage kann also für die vorliegende Beschwerde relevant werden, sofern die Disclaimer nicht bereits aus anderen Gründen für unzulässig zu erklären sind. Die Kammer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß es möglicherweise schwierig ist, eine klare und knappe Formulierung für den Disclaimer i) zu finden, die sich strikt (bzw. wörtlicher) auf den Ausschluß des zum Stand der Technik gehörenden Gegenstands beschränkt.

7.2 Wenn in der Vergangenheit Disclaimer zugelassen wurden, um einen Anspruch gegenüber dem in einer kollidierenden Anmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ oder einer früheren nationalen Anmeldung vorweggenommenen Gegenstand abzugrenzen (siehe Nr. 2.1), wurde nach Kenntnis der Kammer nie auf das Erfordernis geachtet, daß die Einfügung eines Disclaimers, dessen Gegenstand in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbart ist, nur im Falle einer zufälligen Offenbarung gerechtfertigt ist, weil dann lediglich die Neuheit des beanspruchten Gegenstands zur Debatte steht. In diesem Zusammenhang sei auf T 653/92 vom 11. Juni 1996 (Nr. 2 der Entscheidungsgründe) verwiesen, wo die Zulässigkeit eines zur Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ eingefügten Disclaimers erörtert und ausdrücklich auf die Aussage von T 170/87 und T 597/92 Bezug genommen wird, daß ein Disclaimer nicht dazu benutzt werden darf, einem Anspruch zu erfinderischer Tätigkeit zu verhelfen, ohne darin aber ein – mögliches – Erfordernis für die Zulässigkeit eines Disclaimers zur Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ zu sehen (s. diesbezüglich auch die Entscheidungen T 351/98 vom 15. Januar 2002, Nrn. 11 und 45 der Entscheidungsgründe, und T 318/98 vom 8. August 2000, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).

7.3 Was Disclaimer zur Abgrenzung gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ anbelangt, so wurde bereits unter Nummer 2.3 auf die ständige Rechtsprechung eingegangen, daß Disclaimer, die nicht durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt sind, auch in einen Anspruch eingefügt werden dürfen, um ihn gegenüber einer “zufälligen Vorwegnahme” des beanspruchten Gegenstands abzugrenzen. Mit den nachstehenden Beispielen möchte die Kammer die Unterschiede in den verwendeten Formulierungen veranschaulichen:

In T 323/97 (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe) zog die Kammer 3.3.6 aus der von ihr untersuchten Rechtsprechung den Schluß, daß eine Vorwegnahme als zufällig gelten würde, wenn der Fachmann sie bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit des Patents (oder der Patentanmeldung) nicht berücksichtigt hätte, weil sie entweder einem völlig anderen Gebiet der Technik zuzuordnen ist oder ihrem Gegenstand nach nichts zur Lösung der technischen Aufgabe beiträgt, die der beanspruchten Erfindung zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang verwies die Kammer auch auf T 608/96 vom 11. Juli 2000 (Nr. 6 der Entscheidungsgründe).

In der auf Deutsch abgefaßten Entscheidung T 608/96 wird eine Offenbarung als “zufällig neuheitsschädlich” angesehen, wenn sie der Fachmann, konfrontiert mit der der zu prüfenden Anmeldung oder dem zu beurteilenden Patent zugrunde liegenden Aufgabe, nicht in Betracht ziehen würde, etwa weil diese Entgegenhaltung einem weitab liegenden Fachgebiet zuzuordnen ist oder ihrem Gegenstand nach nichts zur Lösung der Aufgabe beiträgt. Nach dieser Entscheidung bedeutet dies auch, daß die Voraussetzung “zufällige Neuheitsschädlichkeit” nur erfüllt sein kann, wenn die betreffende Offenbarung für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der beanspruchten Erfindung ohne jede Bedeutung ist (Nr. 6 der Entscheidungsgründe).

7.3.1 Was das Kriterium anbelangt, wonach eine Vorwegnahme als zufällig gilt, wenn sie der Fachmann nicht in Betracht ziehen würde, weil es sich um ein anderes Gebiet der Technik handelt, so ist zu hinterfragen, ob die bestehenden Unterschiede im Wortlaut auf inhaltliche Unterschiede im verfolgten Konzept hindeuten. In T 323/97 wird eine Vorwegnahme als zufällig angesehen, wenn sie “einem völlig anderen Gebiet der Technik zuzuordnen ist”. In T 608/96 hingegen ist von “einem weitab liegenden Fachgebiet” die Rede. Es sind Einzelfälle denkbar, in denen der Fachmann ein Dokument aus einem Fachgebiet konsultieren würde, das in bezug auf den Gegenstand der beanspruchten Erfindung normalerweise als weitab liegend gelten müßte. Ein Dokument, das sich auf ein weitab liegendes Gebiet der Technik bezieht, kann also bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands nicht automatisch außer Acht gelassen werden. Aus dem Wortlaut von T 608/96 läßt sich vielmehr schließen, daß die beiden dort genannten Kriterien lediglich als Beispiele für eine “zufällige Vorwegnahme” gedacht sind und der betreffende Stand der Technik nach allgemeinerer Definition für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit völlig bedeutungslos sein sollte.

7.3.2 Auch mit Blick auf die zweite in T 323/97 aufgestellte Bedingung ist zu hinterfragen, ob es eine inhaltliche Übereinstimmung gibt oder nicht, da nach T 323/97 (Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe) eine Vorwegnahme als zufällig gilt, wenn sie nichts zur Lösung der technischen Aufgabe beiträgt, die der beanspruchten Erfindung zugrunde liegt, während in T 608/96 davon ausgegangen wird, daß eine Offenbarung beispielsweise dann als zufällig anzusehen ist, wenn sie ihrem Gegenstand nach nichts zur Lösung der Aufgabe beiträgt, die der Anmeldung oder dem Patent zugrunde liegt. T 608/96 zufolge beinhaltet das auch, daß der betreffende Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ohne jede Bedeutung sein sollte.

7.3.3 Die Beschwerdekammer 3.3.2 wandte in ihrer Entscheidung T 863/96 vom 4. Februar 1999 (Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe) nicht die in T 323/97 genannten spezifischen Kriterien an, sondern definierte die Erfordernisse für die Zulassung von Disclaimern wie folgt:

“Der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zufolge darf nach Artikel 123 (2) EPÜ ein Disclaimer formuliert werden, der genau definiert und auf die Offenbarung im Stand der Technik beschränkt ist, sofern diese Offenbarung zufällig neuheitsschädlich ist. Aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu diesem besonderen Instrument für die Wiederherstellung der Neuheit geht eindeutig hervor, daß der auf der Grundlage dieser Offenbarung zu formulierende Disclaimer nur zulässig ist, wenn die angeführte Entgegenhaltung, die die betreffende Offenbarung enthält, für die weitere Prüfung der beanspruchten Erfindung nicht relevant ist und damit aus dem zu berücksichtigenden Bereich des Stands der Technik ausscheiden muß.”

Dasselbe Konzept lag der Entscheidung T 13/97 vom 22. November 1999 (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe) zugrunde, wo die Kammer ebenfalls von dem Konzept ausging, daß der ausgeschlossene Gegenstand nichts zur Lösung der Aufgabe beitragen dürfe. Sie verwies dabei auf die Entscheidungen T 313/86 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), T 170/87 (ABl. EPA 1989, 441) und T 623/91 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht).

7.3.4 Eine wiederum andere Formulierung wird in der Entscheidung T 932/94 vom 13. Januar 1998 (Nr. 6 der Entscheidungsgründe) verwendet, wo unter einer “zufälligen neuheitsschädlichen Offenbarung im Stand der Technik” ein Stand der Technik verstanden wird, der auf einen anderen Zweck gerichtet ist und eine andere Aufgabe löst. Hier scheint nicht verlangt zu werden, daß die Offenbarung im Stand der Technik “für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit … ohne jede Bedeutung” sein (s. T 608/96) oder “aus dem … Stand der Technik ausscheiden muß” (s. T 863/96 und T 13/97).

7.3.5 In T 934/97 vom 6. Juni 2001 (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe) nannte die Kammer die Kriterien für die Zulässigkeit von Disclaimern. Bezugnehmend auf mehrere Entscheidungen, darunter T 13/97 und T 863/96, stellte sie fest, daß ein in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarter Disclaimer nur dann nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig sei, wenn ein neuheitschädlicher Stand der Technik vorhanden sei und unter anderem folgende Voraussetzungen erfüllt seien:

ii) dieser Stand der Technik müsse eine zufällige Vorwegnahme sein,

iii) der “ausgeschlossene” Stand der Technik scheide aus dem bei der erfinderischen Tätigkeit in Betracht zu ziehenden Stand der Technik aus. Die Kammer bezog sich dabei unter anderem auf die von Raph Lunzer herausgegebene englische Ausgabe des Kommentars von Singer (The European Patent Convention, 1995, S. 735), wonach ein Disclaimer zur Abgrenzung gegen eine zufällige Vorwegnahme genutzt werden kann, z. B. wenn die betreffende Entgegenhaltung auf einen anderen Zweck gerichtet ist, eine andere Aufgabe löst und für die erfindungsgemäße Aufgabe und Lösung ohne Belang ist.

In den letzten beiden Absätzen unter Nummer 2.6 der Entscheidungsgründe untersuchte die Kammer dann, ob in dem ihr vorliegenden Fall die Bedingungen ii) und iii) erfüllt waren. Sie gelangte zu dem Schluß, daß sich der Stand der Technik auf denselben Zweck, dieselbe Aufgabe und eine ähnliche Lösung gründe, so daß die Bedingung ii) nicht erfüllt sei. Aufgrund der Ähnlichkeit der Lösung befand sie, daß auch die Bedingung iii) nicht erfüllt sei. Damit bleibt ungeklärt, ob in diesem Fall eine “zufällige Vorwegnahme” mit einer Offenbarung, die bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit “aus dem … Stand der Technik ausscheidet”, gleichgesetzt wurde oder nicht.

7.3.6 Nach Auffassung dieser Kammer gibt die oben angeführte Rechtsprechung der Beschwerdekammern keine klare Antwort auf die Frage, welche Voraussetzungen eine zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehörende Offenbarung erfüllen muß, um als “zufällige Vorwegnahme” und damit als Grundlage für einen zulässigen Disclaimer zu gelten. Die Antwort auf diese Frage könnte für den vorliegenden Fall von Bedeutung sein, falls das Kriterium der Zufälligkeit als entscheidend erachtet wird, weil sich der Disclaimer ii) auf eine Offenbarung bezieht, die nicht als gänzlich irrelevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angesehen werden kann, auch wenn sich nach Prüfung ihrer technischen Lehre in Verbindung mit anderen Entgegenhaltungen letztlich erwiesen hat, daß sie die Lösung der dem Streitpatent zugrunde liegenden Aufgabe nicht nahelegt (siehe Nr. 3).

7.4 Des weiteren wurden bei der Prüfung der Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht in allen Entscheidungen, die Disclaimer zum Ausschluß eines Stands der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ betrafen, die oben erörterten Kriterien angewandt.

In einigen Entscheidungen, z. B. in T 871/96 vom 8. Oktober 1998 (Nrn. 2, 3.3 und 4.2 der Entscheidungsgründe) und T 710/92 vom 11. Oktober 1995 (Nrn. 3, 4.2 und 5 der Entscheidungsgründe), wurden Disclaimer, obwohl sie aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht hervorgingen, gemäß Artikel 123 (2) EPÜ zugelassen, sofern sie sich darauf beschränkten, die im Stand der Technik offenbarten Gegenstände auszugrenzen. Bei diesem Konzept wird die erfinderische Tätigkeit des Anspruchs dann aber so geprüft, als sei der Disclaimer nicht vorhanden (s. T 871/96, Nr. 4.2 der Entscheidungsgründe und T 710/92, Nrn. 5 und 7 der Entscheidungsgründe). In der Entscheidung T 710/92 wird also bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit angenommen, daß der als positives Merkmal formulierte “Disclaimer” nichts zur Lehre der ursprünglichen Anmeldung als ganzer beiträgt (Nr. 6.2 der Entscheidungsgründe), wohingegen bezüglich des als negatives Merkmal formulierten Disclaimers in T 871/96 davon ausgegangen wird, daß er nichts zur Definition der technischen Aufgabe beiträgt, die der Erfindung zugrunde liegt (Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe).

Dieses Konzept scheint sich ganz deutlich von dem zu unterscheiden, das in den unter Nummer 7.3 betrachteten Entscheidungen verfolgt wird.

7.5 In der von der Beschwerdeführerin 2 angezogenen Entscheidung T 982/94 vom 16. September 1997 hatte die Kammer befunden, daß die Änderung, die dadurch bedingt war, daß zur Entkräftung des Einwands mangelnder Neuheit ein Disclaimer in den Anspruch aufgenommen worden war, den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ genüge, weil sie durch die Offenbarung im Dokument des Stands der Technik ausreichend gestützt sei (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe). Weitere Bedingungen wurden nicht gestellt.

8. Die Kammer hat den Wortlaut der von der Beschwerdeführerin 1 vorgelegten Fragen geprüft. Angesichts der oben erörterten Fälle aus der Rechtsprechung der Kammern, der dort gegebenen Definitionen wie auch der Umstände des vor der Kammer anhängigen Falls ist diese Kammer zu dem Schluß gelangt, daß die der Großen Beschwerdekammer vorzulegenden Fragen so formuliert werden sollten wie in der nachstehenden Entscheidungsformel.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:

1. Ist die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem Schutzumfang des Anspruchs ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist?

2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit eines Disclaimers zu beurteilen?

a) Ist es insbesondere von Bedeutung, ob der Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ oder gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ abgegrenzt werden soll?

b) Muß der durch den Disclaimer ausgeschlossene Gegenstand strikt auf den in einem bestimmten Dokument des Stands der Technik offenbarten Gegenstand begrenzt sein?

c) Ist es von Bedeutung, ob der Disclaimer erforderlich ist, um dem beanspruchten Gegenstand Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zu verleihen?

d) Ist das in der bisherigen Rechtsprechung entwickelte Kriterium anzuwenden, daß es sich um eine zufällige Offenbarung handeln muß, und wenn ja, wann ist eine Offenbarung als zufällig anzusehen, oder

e) ist ein auf die Ausklammerung des Stands der Technik begrenzter und in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarter Disclaimer zwar nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig, aber bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands außer Acht zu lassen?