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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2015:T055713.20150717
Datum der Entscheidung: 17 Juli 2015
Aktenzeichen: T 0557/13
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0001/15
Anmeldenummer: 98203458.9
IPC-Klasse: C10L 10/04
C10L 1/22
C10L 1/18
C10L 1/14
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: Infineum USA L.P.
Name des Einsprechenden: Clariant Produkte (Deutschland) GmbH
Kammer: 3.3.06
Leitsatz:
Relevante Rechtsnormen:
Paris Convention Art 4g, 4f
European Patent Convention 1973 Art 52(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
European Patent Convention 1973 Art 100(a)
European Patent Convention 1973 Art 100(c)
European Patent Convention 1973 Art 89
European Patent Convention 1973 Art 112(1)(a)
European Patent Convention Art 76(1)
European Patent Convention Art 87
European Patent Convention Art 88
European Patent Convention Art 123(2)
Schlagwörter: Priorität – Teilpriorität
Neuheit – Stammanmeldung/Teilanmeldungen
Neuheit – Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ
Vorlage an die Große Beschwerdekammer – Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung
Vorlage an die Große Beschwerdekammer – Abweichungen innerhalb der Rechtsprechung
Orientierungssatz:

Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

1. Wenn ein Anspruch einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer “ODER”-Anspruch), kann dann nach dem EPÜ für diesen Anspruch das Recht auf Teilpriorität bezüglich eines alternativen Gegenstands verweigert werden, der im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit – und eindeutig (ausführbar) offenbart ist?

2. Lautet die Antwort ja, unter bestimmten Bedingungen, ist dann die in Nummer 6.7 von G 2/98 aufgestellte Bedingung “sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird” als Maßstab der rechtlichen Beurteilung der Frage, ob für einen generischen “ODER”-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist, heranzuziehen?

3. Falls Frage 2 bejaht wird, wie sind dann die Kriterien “beschränkte Zahl” und “eindeutig definierte alternative Gegenstände” auszulegen und anzuwenden?

4. Falls Frage 2 verneint wird, wie ist dann zu beurteilen, ob für einen generischen “ODER”-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist?

5. Kann im Fall einer zustimmenden Antwort auf Frage 1 ein in einer Stamm- oder Teilanmeldung zu einer europäischen Patentanmeldung offenbarter Gegenstand als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ einem Gegenstand entgegengehalten werden, der im Prioritätsdokument offenbart ist und als Alternative von einem generischen “ODER”-Anspruch dieser europäischen Patentanmeldung oder des darauf erteilten Patents umfasst wird?

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/93
G 0002/98
G 0002/02
G 0003/02
G 0001/03
G 0001/05
G 0002/10
J 0015/80
T 0081/87
T 0085/87
T 0073/88
T 0441/92
T 0441/93
T 0395/95
T 0077/97
T 0352/97
T 0665/00
T 1127/00
T 1177/00
T 0015/01
T 0135/01
T 1443/05
T 0184/06
T 1877/08
T 0476/09
T 2311/09
T 0571/10
T 2406/10
T 1222/11
T 1496/11
T 2473/12
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0239/13
T 0379/13
T 0557/13

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 921 183.

II. Das Patent war auf die europäische Patentanmeldung Nr. 98203458.9 erteilt worden, bei der es sich um eine Teilanmeldung zu der europäischen Patentanmeldung Nr. 95923299.2 (nachfolgend: “Stammanmeldung”) handelt. Letztere war am 8. Juni 1995 als internationale Anmeldung unter dem Aktenzeichen PCT/EP95/02251 eingereicht und am 14. Dezember 1995 als WO 95/33805 A1 (nachfolgend: D1) veröffentlicht worden. Das Patent und die Stammanmeldung beanspruchten die Priorität der am 9. Juni 1994 eingereichten nationalen Anmeldung GB 9411614.2 (nachfolgend: D16).

III. Die Ansprüche 1 und 7 des Patents lauteten wie folgt:

“1. Verwendung eines Kaltfließverbesserers, bei der der Kaltfließverbesserer eine öllösliche polare Stickstoffverbindung ist, die zwei oder mehr Substituenten mit der Formel -NR**(13)R**(14) trägt, wobei R**(13) und R**(14) jeweils für eine Kohlenwasserstoffgruppe stehen, die 8 bis 40 Kohlenstoffatome enthält, mit der Maßgabe, dass R**(13) und R**(14) gleich oder unterschiedlich sein können, wobei einer oder mehrere der Substituenten in Form eines davon abgeleiteten Kations vorliegen kann bzw. können, zur Verbesserung der Schmierfähigkeit einer Brennstoffölzusammensetzung mit einem Schwefelgehalt von höchstens 0,05 Gew.?%, wobei bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs 0,001 bis 1 Gew.?% des Kaltfließverbesserers vorhanden ist.”

“7. Verwendung nach einem der Ansprüche 1 bis 4, bei der die polare Stickstoffverbindung das N,N-Dialkylammoniumsalz des 2-N’,N’-Dialkylamidobenzoatprodukts der Umsetzung von einem Mol Phthalsäureanhydrid und zwei Mol Di(-hydriertem Talg-)amin ist.”

IV. Gegen das Patent wurde Einspruch unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) und Artikel 100 c) EPÜ (Nichterfüllung der Erfordernisse der Art. 123 (2) und 76 (1) EPÜ) eingelegt.

V. In der angefochtenen Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zu folgenden Ergebnissen:

– Die Ansprüche in der erteilten Fassung verstießen nicht gegen Artikel 123 (2) oder 76 (1) EPÜ.

– Der Gegenstand des Anspruchs 1, bei dem es sich um eine Verallgemeinerung einer spezifischeren Offenbarung aus D16 bezüglich der Art der als Kaltfließverbesserer verwendeten Verbindung handle, stelle nicht dieselbe Erfindung dar wie die in D16 beschriebene. Somit sei die beanspruchte Priorität nicht für den gesamten Schutzumfang des Anspruchs 1 wirksam. Mit Verweis auf die Stellungnahme G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413, Nrn. 4, 6.6 und 6.7 der Begründung) befand die Einspruchsabteilung, dass zudem durch die “im erteilten Anspruch 1 enthaltene Zwischenverallgemeinerung der Offenbarung des Prioritätsdokuments D16 keine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht” werde und somit “dem Gegenstand von Anspruch 1 nur der 8. Juni 1995 als Anmeldetag zuerkannt werden” könne. Dies stehe im Einklang mit den Entscheidungen T 665/00 vom 13. April 2005, T 1877/08 vom 23. Februar 2010 und T 1496/11 vom 12. September 2012.

– Obwohl das Patent die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfülle, genieße es nicht den Prioritätstag der Stammanmeldung D1, die somit Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ sei. Diesbezüglich verwies die Einspruchsabteilung auf die Entscheidung T 1496/11 (Nrn. 2.1 und 3 der Entscheidungsgründe).

– Folglich sei der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung nach Artikel 54 (3) EPÜ nicht neu gegenüber der Verwendung des Kaltfließverbesserers aus Beispiel 1, die in identischer Weise in D16 und D1 offenbart worden sei. Der in D1 beschriebenen Ausführungsform könne “der beanspruchte Prioritätstag vom 9. Juni 1994 zuerkannt werden”, wohingegen “dem erteilten Anspruch 1 nur der 8. Juni 1995 als Anmeldetag zuerkannt werden” könne.

VI. In ihrer Beschwerdebegründung machte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) geltend, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung gegenüber D1 neu sei. Sie brachte im Wesentlichen vor, dass eine Teilanmeldung gemäß Artikel 76 (1) EPÜ keinen anderen Prioritätstag als ihre Stammanmeldung haben könne und somit nicht wegen mangelnder Neuheit gegenüber der Stammanmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ beanstandet werden könne. Trotzdem reichte die Beschwerdeführerin als Hilfsantrag AR1 einen Satz geänderter Ansprüche ein, um den Einwand mangelnder Neuheit durch einen stärker eingeschränkten Schutzumfang des geänderten Anspruchs 1 zu entkräften. Zur Stützung ihres Vorbringens legte sie die folgenden Dokumente vor:

D20: Tobias Bremi, “Self-collision with your own priority application under Article 54(3)? T 1443/05 and its possible consequences on filing strategies”, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte, 5/2009, S. 206 – 210;

D21: Rechtsgutachten von Prof. U. Vollrath vom 12. April 2005 aus der Beschwerdesache T 705/04 (18 Seiten zzgl. Publikationsverzeichnis) und im Anhang dazu:

D21a: U. Joos, “Identität der Erfindung, Mehrfach- und Teilpriorität im europäischen Patentrecht”, in: Straus, Joseph (Hrsg.), “Aktuelle Herausforderungen des geistigen Eigentums”, Festgabe für F.-K. Beier, Heymanns, Köln, 1996, S. V und 73 – 85;

D22: Beitrag “Article 54(3) and EP Divisionals” vom 5. Februar 2011 aus dem Internetblog “Tufty the Cat” mit Kommentaren, zweiseitiger Ausdruck von http://tuftythecat.blogspot.co.uk/2011/02/article-543-and-ep-divisionals.html;

D23: M. Lawrence und M. Wilkinson, “Poisonous Divisions – thoughts and feedback since original publication of the ‘Poisonous Divisionals’ concept”, IP Europe Quarterly, Februar 2012, S. 1 – 6.

VII. In ihrer Erwiderung widersprach die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, hielt ihren auf D1 gestützten Einwand mangelnder Neuheit aufrecht und erhob Einwände bezüglich der Zulässigkeit und Gewährbarkeit des Hilfsantrags AR1 der Beschwerdeführerin. Sie verwies auf das Dokument

D24: Benkard, Patentgesetz, 10. Aufl., 2006, S. 923, § 39, Rdnr. 38.

VIII. Die Beschwerdeführerin berief sich in einem weiteren Schreiben auf die Entscheidung T 1222/11 vom 4. Dezember 2012 sowie auf das Memorandum C des von der FICPI (Fédération Internationale des Conseils en Propriété Industrielle) auf der Diplomatischen Konferenz von 1973 vorgelegten Dokuments M/48/I (nachfolgend: “Memorandum”).

Sie brachte vor, dass Anspruch 1 eine Teilpriorität zuzuerkennen sei und der auf der Grundlage von D1 erhobene Neuheitseinwand somit hinfällig sei. Zur Stützung ihres Vorbringens fügte sie folgende Dokumente bei:

D25: R. Teschemacher, “Poisonous Divisionals – ein Gespenst verschwindet”, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte, 1/2014, S. 16 – 18;

D26: R. Teschemacher, “Poisonous divisional applications – is the bogey going to disappear”, Lexology, vierseitiger Ausdruck vom 19. November 2013;

D27: L. Walder-Hartmann, “Giftige Teilanmeldungen – Altlast oder Lärm um nichts”, GRUR Int., 2014, S. 17 – 27.

IX. Die Beschwerdegegnerin widersprach in einem weiteren schriftlichen Vorbringen den Argumenten der Beschwerdeführerin und fügte folgendes Dokument an:

D28: Singer-Stauder “Europäisches Patentübereinkommen – Kommentar”, 6. Aufl., 2012, Art. 123 EPÜ, Rdnr. 43.

Außerdem beantragte sie hilfsweise, die Große Beschwerdekammer mit folgenden Rechtsfragen A, B und/oder C zu befassen:

A) “Bedeutet für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts der Begriff ‘beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände’, dass ein Patentanspruch abzählbare Ausführungsformen aufweisen muss, die voneinander unabhängig sind, oder ist der Begriff so auszulegen, dass die lediglich intellektuell mögliche Unterordnung von Ausführungsformen, die im Prioritätsdokument gelehrt sind, bereits als beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände anzusehen ist, auch wenn diese Gegenstände im Anspruch nicht vereinzelt sind?”

B) “Bedeutet Artikel 76 (1) EPÜ, dass der Prioritätsanspruch, den eine Teilanmeldung aus ihrer Stammanmeldung erhebt, für das auf die Teilanmeldung erteilte Patent selbst dann erhalten bleibt, wenn die im Teilpatent erteilten Ansprüche nicht mehr die gleiche Erfindung im Sinne des Artikel 87 (1) EPÜ betreffen, die im Prioritätsdokument offenbart war?”

C) “Kann die Offenbarung, die in einer Stammanmeldung enthalten ist, und der das für die Stammanmeldung in Anspruch genommene Prioritätsrecht zukommt, einem Patent als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehalten werden, welches auf eine Teilanmeldung aus dieser Stammanmeldung erteilt wurde, sofern für dieses Patent das Prioritätsrecht aus der Stammanmeldung unwirksam ist?”

X. In einer Mitteilung in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung erklärte die Beschwerdekammer, dass sie die Feststellung der Einspruchsabteilung nicht infrage stelle, wonach die erteilten Ansprüche nicht nach Artikel 100 c) EPÜ zu beanstanden seien.

Die Kammer befand, dass es zwischen relevanten Offenbarungselementen in D1 und D16 potenzielle Unterschiede gebe, erklärte aber, dass eine Verwendung des Erzeugnisses aus Beispiel 1, wie sie in Anspruch 1 definiert sei, in D1, D16 und im Patent offenbart zu sein scheine. Dass diese Verwendung offenbar unter den Schutzumfang von Anspruch 1 falle, werde noch augenscheinlicher in Anbetracht des abhängigen Anspruchs 7.

Die Beschwerdekammer stellte weiter fest, dass die Frage der Neuheit davon abhängen könnte, ob das Patent ein Prioritätsrecht für diese – von der allgemeineren Definition in Anspruch 1 umfasste – Verwendung wirksam in Anspruch nehmen könne, und kündigte an, dass sie möglicherweise die Große Beschwerdekammer mit Rechtsfragen befassen werde. Zum Begriff der “Teilpriorität” verwies sie auf das Dokument

D29: Schricker, Fragen der Unionspriorität im Patentrecht, GRUR Int. 1967, Heft 3, S. 85 – 93.

XI. In einer weiteren schriftlichen Mitteilung verwies die Beschwerdekammer die Verfahrensbeteiligten auf die Entscheidung T 571/10 vom 3. Juni 2014.

XII. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 legte die Beschwerdeführerin eine Tabelle mit einer Gegenüberstellung von Beschwerdekammerentscheidungen vor, in denen die Teilpriorität entweder zuerkannt oder abgesprochen worden war, und reichte folgende “mögliche Vorlagefragen” ein:

“Wenn ein Anspruch eines europäischen Patents oder einer europäischen Patentanmeldung spezifischere Gegenstände umfasst, die in einer früheren Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird, offenbart sind, weil z. B. der betreffende Anspruch einen generischen Ausdruck oder eine generische Formel bzw. generische Ausdrücke oder Formeln enthält, der bzw. die sowohl den im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstand als auch eine oder mehrere Alternativen zu diesem einschließt bzw. einschließen, ist dann

1. die Formulierung ‘sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird’ in Nummer 6.7 der Stellungnahme G 2/98 der Großen Beschwerdekammer als rechtlicher Maßstab für das Recht auf Teilpriorität nach Artikel 88 (2) und (3) EPÜ heranzuziehen?

2. Falls Frage 1 bejaht wird, wie ist dann der Maßstab nach Nummer 6.7 in der vorliegenden Situation anzuwenden und wie ist dann insbesondere ein Anspruch, der einen generischen Ausdruck oder eine generische Formel bzw. generische Ausdrücke oder Formeln enthält, so auszulegen, dass er sich auf eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände bezieht?

3. Falls Frage 1 verneint wird, was ist dann der rechtliche Maßstab für die Teilpriorität eines Anspruchs, der einen generischen Ausdruck oder eine generische Formel bzw. generische Ausdrücke oder Formeln enthält, und wie ist dieser auf einen solchen Anspruch anzuwenden?

In der obigen Situation, in der:

i) das europäische Patent ein Teilpatent war oder die europäische Patentanmeldung eine Teilanmeldung ist (‘Teilpatent’ bzw. ‘Teilanmeldung’) und der betreffende Anspruch dem oben angeführten rechtlichen Maßstab für die Teilpriorität nicht genügt,

ii) das europäische Stammpatent oder die europäische Stammanmeldung (‘Stammpatent’ bzw. ‘Stammanmeldung’) dieselbe Priorität beansprucht wie das Teilpatent bzw. die Teilanmeldung und in der veröffentlichten Fassung einen spezifischen Gegenstand offenbart, der auch in der Prioritätsanmeldung offenbart war und von den Ansprüchen des Teilpatents bzw. der Teilanmeldung umfasst wird, und

iii) im Stammpatent bzw. in der Stammanmeldung und im Teilpatent bzw. in der Teilanmeldung dieselben EPÜ-Vertragsstaaten benannt sind,

4. verhindert Artikel 76 (1) EPÜ dann trotzdem, dass dem Anspruch des Teilpatents bzw. der Teilanmeldung und dem die Priorität genießenden spezifischen Gegenstand aus dem Stammpatent bzw. der Stammanmeldung unterschiedliche wirksame Tage zuerkannt werden?

5. Falls Frage 4 verneint wird, ist dann der Begriff ‘europäische Patentanmeldungen’ in Artikel 54 (3) EPÜ so auszulegen, dass er sich auf die Stammanmeldung erstreckt und somit dazu führt, dass das Teilpatent bzw. die Teilanmeldung gegenüber dem Stammpatent bzw. der Stammanmeldung nicht neu ist?”

In einer Fußnote zu diesen Fragen erklärte die Beschwerdeführerin: “Falls der rechtliche Maßstab für die Teilpriorität die unter i) bis iii) beschriebene Situation vollständig ausspart, müssten die Fragen 4 und 5 nicht beantwortet werden. Sollte es dennoch eine gewisse Möglichkeit einer ‘giftigen Priorität’ geben, wäre eine Beantwortung der Fragen 4 und 5 trotzdem für diese Beschwerde und auch allgemein relevant.”

XIII. Am 17. Dezember 2014 fand die mündliche Verhandlung statt.

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung (Hauptantrag) oder alternativ auf der Grundlage des Anspruchssatzes gemäß dem zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag AR1 aufrechtzuerhalten.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Die Beschwerdegegnerin bestätigte ausdrücklich, dass sie keine Einwände nach Artikel 100 c) EPÜ gegen die Ansprüche des Patents in der erteilten Fassung erhebe (Hauptantrag).

Dass die Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1 in identischer Weise in D1 und D16 offenbart ist, war zwischen den Beteiligten unstrittig.

Die Beschwerdeführerin bekräftigte erneut ihren Antrag auf Vorlage der mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 eingereichten Fragen an die Große Beschwerdekammer, und die Beschwerdegegnerin erklärte sich mit diesem Antrag auf Vorlage einverstanden. Die Beteiligten wurden zur Angemessenheit einer Vorlage gehört. Die Beschwerdekammer kündigte an, dass sie der Großen Beschwerdekammer eine weitere Frage vorlegen werde und dass ihre Entscheidung schriftlich ergehen werde.

XIV. Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen Folgendes vor:

Die Einspruchsabteilung habe zu Unrecht entschieden, dass

i) Anspruch 1 nicht die Teilpriorität von D16 zukomme,

ii) “Artikel 76 (1) EPÜ keine Gleichsetzung des Prioritätstags (des wirksamen Tags) der Stamm- und der Teilanmeldung bewirkt” und

iii) “der Inhalt der Stammanmeldung (Beispiel 1) einen früheren wirksamen Tag hat als der Anspruch der Teilanmeldung und somit nach Artikel 54 (3) EPÜ neuheitsschädlich ist” (“sogenannte Selbstkollisionswirkung, bei der ein Mitglied der europäischen Patentfamilie ein anderes ‘vergiftet'”). Die von der Einspruchsabteilung angezogene Entscheidung T 1496/11 gehe weder auf die Möglichkeit einer Teilpriorität ein, noch liefere sie eine Begründung für die Annahmen, dass die Priorität für Stamm- und Teilanmeldung getrennt voneinander zu beurteilen sei und dass eine Teilanmeldung eine weitere nach Artikel 54 (3) EPÜ anführbare europäische Patentanmeldung sei.

Teilpriorität

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin sei der korrekte Ansatz in Bezug auf die Frage der Teilpriorität in der Entscheidung T 1222/11 mit Verweis auf G 2/98 und das Memorandum enthalten (s. auch die Kommentare D25 und D26). Wende man den in T 1222/11 dargelegten Ansatz auf den vorliegenden Fall an, so müsse dem Anspruch 1 die Teilpriorität insofern zuerkannt werden, als er den im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstand und insbesondere die dort beschriebene Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1 umfasse. Daher sei die veröffentlichte Stammanmeldung D1 nicht neuheitsschädlich, auch wenn sie dieselbe Verwendung offenbare. Die Auslegung von G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) in T 1222/11, die auch in T 571/10 angewandt worden sei, sei die richtige und entspreche der im Memorandum zum Ausdruck gebrachten Gesetzesabsicht. Diese Auslegung führe im Gegensatz zu den abweichenden, in den Entscheidungen T 1443/05 vom 4. Juli 2008, T 2311/09 vom 2. September 2013, T 1127/00 vom 16. Dezember 2003, T 1877/08 und T 476/09 vom 21. September 2012 verfolgten Ansätzen nicht zu praktischen Problemen, die dem Anmelder insbesondere bei der Anspruchsformulierung zum Nachteil gereichten. Nach Meinung der Beschwerdeführerin sei eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zur Teilpriorität von grundsätzlicher Bedeutung in Anbetracht der potenziellen Auswirkungen, die eine solche Entscheidung auf die Anmeldestrategien der Patentanmelder haben könnte. Vor allem was die Einreichung von Teilanmeldungen angehe, müsse wieder eine einheitliche Rechtsanwendung hergestellt werden. In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern seit G 2/98 gebe es Unstimmigkeiten, die dadurch bedingt seien, dass nicht klar sei, ob die in Nummer 6.7 der Begründung aufgestellte Bedingung tatsächlich als Maßstab der rechtlichen Beurteilung gedacht sei und, falls ja, wie dieser anzuwenden sei.

Artikel 76 (1) EPÜ

Mit Verweis unter anderem auf Artikel 4 F und 4 G PVÜ, Artikel 8 PCT, Artikel 87 bis 89 EPÜ, G 2/98 sowie die Entscheidungen J 15/80 vom 11. Juni 1981 (Nrn. 3, 6 und 7 der Entscheidungsgründe) und T 2473/12 vom 5. November 2013 (Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe) brachte die Beschwerdeführerin vor, dass Artikel 76 (1) EPÜ, die gesetzliche Bestimmung zum Prioritätstag einer Teilanmeldung, als eigenständige Vorschrift anzusehen sei und auch autonom ausgelegt werden müsse. Aus dem Wortlaut (“genießt deren Prioritätsrecht”) gehe klar hervor, dass Anmelde- und Prioritätstag der Stamm- und der Teilanmeldung zwangsläufig identisch seien und nicht durch eine unabhängige forensische Analyse des Prioritätsanspruchs voneinander entkoppelt werden könnten. Zudem sei Artikel 76 (1) EPÜ das Pendant zu Artikel 4 G PVÜ, dessen Gesetzeszweck darin bestehe, einem Anmelder, der eine Teilanmeldung abspalte, das Prioritätsvorrecht zu erhalten. Angesichts der Tatsache, dass das Patent auf eine Teilanmeldung erteilt worden sei, die als Reaktion auf einen nach den Bestimmungen des PCT erhobenen Einwand der mangelnden Einheitlichkeit hin eingereicht worden sei, beruhe die angefochtene Entscheidung obendrein auf einer den Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft zuwiderlaufenden Auslegung des Artikels 76 (1) EPÜ. Bei richtiger Auslegung des Artikels 76 (1) EPÜ gelte als wirksamer Tag einer europäischen Teilanmeldung der Tag der europäischen Stammanmeldung. Dadurch werde sichergestellt, dass beide nicht nach Artikel 54 (3) EPÜ miteinander kollidieren könnten.

Artikel 54 (3) EPÜ

Verfolge man in der Frage der Teilpriorität den korrekten rechtlichen Ansatz, so wie er in T 1222/11 dargelegt sei, komme ein und demselben Gegenstand immer ein und derselbe Prioritätstag zu. Umfasse ein Anspruch als Alternative einen im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstand, so genieße dieser Anspruch insoweit, als er diesen Gegenstand umfasse, auch wirksam dessen Priorität. Soweit der Anspruch weitere Alternativen umfasse (z. B. durch Verallgemeinerung), genieße er keine Priorität. Der in T 1222/11 verfolgte Ansatz gewährleiste, dass bei einer unabhängigen Beurteilung der Priorität für europäische Stamm- und Teilanmeldungen die jeweiligen Ansprüche die Priorität insoweit genössen, als sie sich auf den im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstand bezögen. Ein Anspruch in der einen Anmeldung genieße, soweit er sich auf den Gegenstand aus dem Prioritätsdokument beziehe, dieselbe Priorität wie ebendieser Gegenstand in der anderen Anmeldung. Somit gebe es keine Kollision nach Artikel 54 (3) EPÜ, und die Hinzufügung weiterer, alternativer Ausführungsformen führe nicht zu “giftigen” Teil- oder Stammanmeldungen.

Sollte die Teilpriorität nicht anerkannt werden, würde sich zudem die Frage stellen, ob eine europäische Teilanmeldung oder ein europäisches Teilpatent, die bzw. das die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfülle, nach Artikel 54 (3) EPÜ für nicht neu gegenüber der Stammanmeldung befunden werden könne. Mit Verweis auf D21 und D27 brachte die Beschwerdeführerin vor, dass der Begriff der “europäischen Patentanmeldungen” in Artikel 54 (3) EPÜ bei richtiger Auslegung keine Anmeldungen einschließe, die derselben Familie europäischer Stamm-/Teilanmeldungen angehörten. Ansonsten könnte nämlich eine europäische Patentanmeldung letztlich sogar mit sich selbst kollidieren. Die kontroversen Standpunkte in dieser Frage, wie sie aus D21 bis D23 hervorgingen, verdeutlichten die Schwierigkeit, die der Wortlaut des Artikels 54 (3) EPÜ hinsichtlich der “Selbstkollision” zwischen europäischen Stamm- und Teilanmeldungen aufwerfe. Der von der Einspruchsabteilung verfolgte Ansatz stehe zudem im Widerspruch mit der deutschen Rechtspraxis, die dem in D21 in Bezug auf das EPÜ vertretenen Standpunkt entspreche. Die Beschwerdeführerin verwies auf den Rechtskommentar von Schulte (“Patentgesetz mit EPÜ – Kommentar”, 8. Aufl., 2008, Rdnrn. 262, 264, 273 und 276) zu § 34 des deutschen Patentgesetzes sowie auf die Entscheidung G 1/05 (ABl. EPA 2007, 362).

Außerdem brachte die Beschwerdeführerin mit Verweis unter anderem auf Artikel 4 G (1) PVÜ und Artikel 8 (2) a) PCT vor, dass es in Bezug auf die Zuerkennung wirksamer Daten und die sich daraus ergebenden Rechte eine untrennbare Verbindung zwischen europäischen Stamm- und Teilanmeldungen gebe. Folglich könnten europäische Stamm- und Teilanmeldungen nicht als eigenständige Anmeldungen angesehen werden.

Die Beschwerdeführerin machte ferner geltend, dass öffentliche Belange gegen eine mögliche Praxis der Selbstkollision von Stamm- und Teilanmeldung sprächen.

XV. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Teilpriorität

Gemäß G 2/98 könne die Priorität nur wirksam beansprucht werden, wenn sich Anspruch 1 unmittelbar und eindeutig dem Inhalt von D16 als Ganzes entnehmen lasse. Aufgrund der gegenüber der Offenbarung aus D16 breiteren Definitionen in Anspruch 1 sei dies zu verneinen. Zudem erfülle Anspruch 1 nicht die in G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) aufgeführten Kriterien für die Zuerkennung unterschiedlicher Prioritätstage, da er kein “ODER”-Anspruch sei, der eine “beschränkte Zahl eindeutig definierter”, d. h. individualisierter Alternativen umfasse, sondern auf der generischen Definition eines Kontinuums von Gegenständen beruhe. Die Beschwerdegegnerin räumte ein, dass die der Formulierung “eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände” zukommende Bedeutung in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht einheitlich ausgelegt worden sei. Sie stellte dazu T 1443/05, T 2311/09 und T 1127/00 der Entscheidung T 1222/11 gegenüber. Wenn die Kammer also – ausgehend von der Begründung in T 1222/11 – geneigt sei, Anspruch 1 die beanspruchte Priorität zuzuerkennen, sollte die Große Beschwerdekammer mit Frage A (s. oben) befasst werden.

Artikel 76 (1) EPÜ

Artikel 76 (1) EPÜ schließe nicht aus, dass die einer Teilanmeldung oder einem darauf erteilten Patent vermeintlich zustehende Priorität angefochten und aus materiellrechtlichen Gründen für ungültig befunden werden könne. So könne der Prioritätsanspruch z. B. ungültig sein, wenn die Teilanmeldung Ansprüche umfasse, denen die Priorität nicht zukomme. Die Priorität könne sogar einem Anspruch der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung verweigert werden, wenn dieser eine unzureichende Übereinstimmung mit der Offenbarung des Prioritätsdokuments aufweise.

Die einem Teilpatent vermeintlich zukommende Priorität könne aberkannt werden, da europäische Stamm- und Teilanmeldungen laut Rechtsprechung völlig unabhängig voneinander seien. Die Teilanmeldung selbst müsse den verschiedenen materiellrechtlichen Erfordernissen des EPÜ genügen (s. T 441/92 vom 10. März 1995, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe und T 1177/00, Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe).

Weder der PCT noch die Pariser Verbandsübereinkunft schlössen aus, dass ein Prioritätsanspruch für unwirksam befunden werde, wenn das Kriterium “derselben Erfindung” nicht erfüllt sei. Ebenso wenig enthielten sie Vorschriften, wie zu beurteilen sei, ob eine Erfindung dieselbe sei. Im vorliegenden Fall sei die Teilanmeldung, auf die das Patent erteilt worden sei, als europäische Anmeldung eingereicht worden. Folglich seien die Prioritätsbestimmungen des EPÜ anzuwenden und im Einklang mit dem PCT und der Pariser Verbandsübereinkunft auszulegen. Keiner dieser Rechtstexte enthalte Bestimmungen zu dem hier vorliegenden speziellen Fall, somit liege auch keine mangelnde Übereinstimmung vor.

Der Verweis der Beschwerdeführerin auf das deutsche Recht sei weder angebracht noch schlüssig, denn der vorliegende Fall betreffe keine Verfahrensfrage (Art. 125 EPÜ), sondern eine materiellrechtliche Frage. Nach deutschem Recht könne die Priorität für die Teilanmeldung nur erhalten bleiben, wenn ihr Gegenstand im Prioritätsdokument offenbart sei (s. D24).

Falls die Kammer dennoch zu dem Schluss kommen sollte, dass eine europäische Teilanmeldung oder ein darauf erteiltes Patent und deren Stammanmeldung oder dessen Stammpatent so miteinander verbunden sind, dass die Teilanmeldung bzw. das Teilpatent auf jeden Fall die von der Stammanmeldung bzw. vom Stammpatent beanspruchte Priorität genieße, sollte die Große Beschwerdekammer mit Frage B (s. oben) befasst werden.

Artikel 54 (3) EPÜ

Es sei unerheblich, ob es sich bei dem entgegengehaltenen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ um die Stammanmeldung (wie im vorliegenden Fall), um eine Teilanmeldung (wie in T 1496/11) oder um irgendeine andere europäische Patentanmeldung handle. Was zähle, sei, ob der angefochtene Anspruch die Priorität beanspruchen könne oder, falls nicht, ob die als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehaltene europäische Patentanmeldung Offenbarungselemente mit einem früheren Prioritätstag enthalte. Im vorliegenden Fall genieße Anspruch 1 nicht die beanspruchte Priorität, während der Gegenstand der Stammanmeldung D1, der bereits im Prioritätsdokument D16 offenbart gewesen sei, diese genieße. Da Stamm- und Teilanmeldung voneinander unabhängig seien, sei D1 Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ. Somit liege de facto mangelnde Neuheit vor.

Artikel 54 EPÜ unterscheide zwischen “der europäischen Patentanmeldung”, die geprüft werde, und “europäischen Patentanmeldungen”, die den Stand der Technik bildeten. Folglich könne eine europäische Patentanmeldung nicht mit sich selbst kollidieren.

D21 sei ein Rechtsgutachten, das in einem anderen Fall von einem der Beteiligten vorgelegt worden sei. Es postuliere unter Verweis auf Artikel 76 (1) EPÜ eine besondere Beziehung zwischen europäischer Stamm- und Teilanmeldung in dem Sinne, dass sie Teil eines untrennbaren Komplexes von Anmeldungen seien. Da Stamm- und Teilanmeldung aber voneinander unabhängig seien, gebe es keine solche besondere Beziehung, die es rechtfertigen würde, die eine bei der Prüfung der jeweils anderen nach Artikel 54 (3) EPÜ außer Acht zu lassen, wie es in D21 bis D23 nahegelegt werde. Falls die Kammer trotzdem zu einer anderen Auffassung gelange, sollte die Große Beschwerdekammer mit Frage C (s. oben) befasst werden.

Bezüglich der von der Beschwerdeführerin angeführten öffentlichen Belange brachte die Beschwerdegegnerin vor, dass Änderungen, die im Wortlaut einer europäischen Patentanmeldung gegenüber der Prioritätsanmeldung vorgenommen würden, immer zu einem Verlust der Priorität führen könnten. Dies könne vermieden werden, indem für den geänderten Gegenstand eine neue Prioritätsanmeldung eingereicht werde.

Entscheidungsgründe

Zulässigkeit der Beschwerde

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Streitpatent nicht nach Artikel 100 c) EPÜ zu beanstanden

2. In ihrer Mitteilung vom 26. November 2014 hat die Kammer dargelegt, warum sie die Feststellung der Einspruchsabteilung nicht hinterfragt, dass die Ansprüche des Streitpatents nicht nach Artikel 100 c) EPÜ zu beanstanden seien. Auch hatte die Beschwerdegegnerin diesen Einwand im Beschwerdeverfahren nicht erhoben. Somit kommt die Kammer nach Prüfung aller relevanten Aspekte zu dem Ergebnis, dass das Streitpatent nicht nach Artikel 100 c) EPÜ zu beanstanden ist.

Neuheit: Anspruch 1 und die Offenbarung der Stammanmeldung D1

3. Gegenstand des Anspruchs 1

Die Merkmale des Anspruchs 1 (s. oben Nr. III) lassen sich in folgende Gruppen unterteilen:

i) Merkmale, die die Verwendung betreffen: “Verwendung eines Kaltfließverbesserers” (d. h. die Verwendung einer Verbindung als Kaltfließverbesserer) “zur Verbesserung der Schmierfähigkeit einer Brennstoffölzusammensetzung”;

ii) Merkmale, die die als Kaltfließverbesserer verwendete Verbindung definieren: “öllösliche polare Stickstoffverbindung, die zwei oder mehr Substituenten mit der Formel -NR13R14 trägt, wobei R13 und R14 jeweils für eine Kohlenwasserstoffgruppe stehen, die 8 bis 40 Kohlenstoffatome enthält, mit der Maßgabe, dass R13 und R14 gleich oder unterschiedlich sein können, wobei einer oder mehrere der Substituenten in Form eines davon abgeleiteten Kations vorliegen kann bzw. können”;

iii) Merkmale, die die Brennstoffölzusammensetzung definieren, deren Schmierfähigkeit verbessert werden soll: “Brennstoffölzusammensetzung mit einem Schwefelgehalt von höchstens 0,05 Gew.-%” und

iv) Merkmale, die die Konzentration des Kaltfließverbesserers bei der Verwendung definieren: “wobei bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs 0,001 bis 1 Gew.-% des Kaltfließverbesserers vorhanden ist”.

4. Gegen Anspruch 1 angeführter Gegenstand von D1

4.1 Wie in der angefochtenen Entscheidung angegeben, ist in D1 mindestens eine spezielle Verwendung offenbart, die unter die generische Definition von Anspruch 1 fällt. Dies ist unstrittig.

4.2 Was die Art des Fließverbesserers angeht (s. vorstehende Gruppe 3 ii)), so offenbart D1 (S. 19) mehrere Beispiele für “verwendete Additive”, von denen “Beispiel 1” wie folgt lautet: “Polare Stickstoffverbindung, ein N,N-Dialkylammoniumsalz von 2-N’N’-Dialkylamidobenzoat, das Produkt einer Umsetzung von einem Mol Phthalsäureanhydrid und zwei Mol Di(-hydriertem Talg-)Amin ist.” Die Alkyl-Substituenten dieser Verbindung, die ein Dialkylammonium-Kation umfasst, stammen aus Talg, einem natürlichen Fett, das nahezu ausschließlich aus einem Gemisch von Glycerylestern von C14-, C16- und C18-Fettsäuren besteht. Die Alkyl-Substituenten sind also “Kohlenwasserstoffgruppen mit 8 bis 40 Kohlenstoffatomen” im Sinne von Anspruch 1. Die in Beispiel 1 von D1 offenbarte Verbindung ist somit ein Gemisch von Verbindungen, das einen von vielen möglichen alternativen Fließverbesserern darstellt, die unter die generische Definition von Anspruch 1 fallen. Belegt wird dies auch durch die Tatsache, dass sich der abhängige Anspruch 7 (s. oben Nr. III) speziell auf diese Verbindung als Reaktionsprodukt bezieht.

4.3 Der Verwendungszweck, zu dem dieser Kaltfließverbesserer eingesetzt wird (s. vorstehende Gruppe 3 i)), ist laut D1 (s. Ansprüche 1, 14 und 15 und S. 1, vorletzter Absatz) derselbe wie der in Anspruch 1 genannte. Dies geht insbesondere aus folgenden Passagen von D1 hervor:

– Seite 17: “Verschiedene Additive wurden in Brennstoffen I, II und III untersucht.”

– Seite 18, letzter Absatz: “Verschiedene Additive wurden in den nummerierten Beispielen verwendet, wobei die Resultate und die Behandlungskonzentrationen in Gew.-ppm des Wirkstoffs bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs in den Tabellen angegeben sind.”

– Seite 21: “Resultate (Brennstoff I)”, Beispiel 1 und “… alle Fließverbesserer die Schmierfähigkeit erhöhen”.

4.4 Was die vorstehende Gruppe 3 iii) angeht, so offenbart D1 (S. 17), dass die öllösliche polare Stickstoffverbindung aus Beispiel 1 zur Verbesserung der Schmierfähigkeit von “Brennstoff I” verwendet wird, bei dem es sich um einen “Klasse-1-Dieselkraftstoff [handelt], der in Schweden im Handel erhältlich ist” und einen Schwefelgehalt von 0,001 Gew.-% hat, d. h. einen Schwefelgehalt in dem in Anspruch 1 genannten Bereich von “höchstens 0,05 Gew.-%”.

4.5 Was die vorstehende Gruppe 3 iv) angeht, so wurde laut Seite 21 von D1 (erste Datenzeile in der Tabelle, Beispiel 1) die Verbindung aus Beispiel 1 in einer Behandlungskonzentration von 1 334 ppm (Gewicht des Wirkstoffs bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs, s. D1, S. 18, letzter Absatz) getestet. Dieser Wert der Behandlungskonzentration (0,1334 Gew.-%) liegt innerhalb des im strittigen Anspruch 1 definierten Bereichs von “0,001 bis 1 Gew.-%”. Ebenfalls auf Seite 21 von D1 (Absatz zwischen den beiden Tabellen) heißt es, dass die gemessene Verschleißverminderung ein Indiz für erhöhte Schmierfähigkeit ist.

4.6 Zusammenfassend ist festzustellen: D1 offenbart die Verwendung einer unter die generische chemische Definition des Anspruchs 1 fallenden öllöslichen polaren Kaltfließverbesserer-Stickstoffverbindung zur Erhöhung der Schmierfähigkeit eines Brennstoffs mit einem Schwefelgehalt, wie er in Anspruch 1 definiert ist, in einer Konzentration, die innerhalb des in Anspruch 1 vorgesehenen Bereichs liegt.

Auf D1 basierender Neuheitseinwand

5. D1 als potenzieller Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ

Die europäische Stammanmeldung D1 wurde nach dem (als Anmeldetag geltenden) Tag der Einreichung der Teilanmeldung veröffentlicht, auf die das Streitpatent erteilt worden ist. Unstrittig ist, dass die nach dem PCT veröffentlichte Stammanmeldung D1 die Erfordernisse der Artikel 54 (4) und 158 (2) EPÜ 1973 erfüllt.

6. Sonstige zu erfüllende Voraussetzungen

Damit D1 nach Artikel 54 (3) EPÜ neuheitsschädlich ist, müssten auch die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sein:

a) der in D1 offenbarte relevante Gegenstand (s. oben Nr. 4.6) genießt die Priorität von D16,

b) der Gegenstand von Anspruch 1, für den D1 angeblich neuheitsschädlich ist, genießt nicht die Priorität von D16 und

c) D1 kann tatsächlich als (kollidierende) europäische Patentanmeldung im Sinne von Artikel 54 (3) EPÜ angesehen werden, obwohl sie die Stammanmeldung der Teilanmeldung ist, auf die das Streitpatent erteilt wurde.

7. Prioritätstag der in D1 offenbarten Verwendung – Voraussetzung a der vorstehenden Nummer 6

7.1 Sowohl das Streitpatent als auch die Stammanmeldung D1 beanspruchen die Priorität der nationalen Voranmeldung D16. Die Einspruchsabteilung hatte befunden (Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe, zweiter Absatz, erster Satz), dass D16 (S. 20) nicht nur die Verwendung der Additivverbindung aus Beispiel 1 von D1 zum selben Zweck in identischer Weise offenbare, sondern auch die Merkmale des Brennstoffs in Bezug auf seinen Schwefelgehalt (S. 19) und die Versuchsergebnisse in Bezug auf die Behandlungskonzentration und die verbesserte Schmierfähigkeit (S. 22). Folglich stehe der in D1 offenbarten Verwendung der polaren Stickstoffverbindung aus Beispiel 1 die Priorität von D16 zu.

7.2 Die Kammer hatte in ihrer Mitteilung vom 26. November 2014 (Nrn. 4.1.1 bis 4.1.3) hinterfragt, ob die in D16 und D1 offenbarten Verwendungen tatsächlich identisch sind, insbesondere was den Schwefelgehalt des behandelten Brennstoffs und die Behandlungskonzentration in ppm anbelangt. In der mündlichen Verhandlung entkräftete die Beschwerdeführerin die Zweifel der Kammer mit folgender Angabe:

7.2.1 Der in D16 (S. 19, Zl. 15) genannte Schwefelgehalt von “0,01 Gew.-%” sei offenkundig fehlerhaft. Das Additiv aus Beispiel 1 sei in einem “Klasse-1-Dieselkraftstoff, der in Schweden im Handel erhältlich ist,” getestet worden (S. 19, Zl. 10 – 11). Laut D16 selbst (S. 2, erster vollständiger Absatz) habe ein solcher Kraftstoff einen Schwefelgehalt von weniger als 0,001 Gew.-%. Dies sei allgemein bekannt, wie z. B. folgendes Dokument belege:

D4: A. M. Kulinowski et al., “Diesel Fuel Additives to Meet Worldwide Performance and Emissions Requirements”, SAE Technical Paper 932737, 1993, insb. S. 1, rechte Spalte, zweiter vollständiger Absatz und S. 2, Tabelle I.

7.2.2 Ebenso wenig gebe es einen Unterschied zwischen den in D16 und in D1 angegebenen Behandlungskonzentrationen. Die Behandlungskonzentrationen in D16 bezögen sich auf die Konzentration der Additivzusammensetzung im Brennstoff, die Behandlungskonzentrationen in D1 hingegen auf die Konzentration des Wirkstoffs in der Additivzusammensetzung, weswegen Letztere geringere Werte aufweise. Dass es sich um identische Behandlungskonzentrationen handle, sei an dem identischen Verschleißwert von 254 µm in D1 und D16 erkennbar. Folglich unterschieden sich D16 und D1 lediglich darin, wie ein und dieselbe Konzentration des wirksamen Additivs angegeben sei.

7.2.3 In der mündlichen Verhandlung bestätigte die Beschwerdegegnerin ausdrücklich die Richtigkeit dieser Ausführungen sowie der Schlussfolgerung, dass die in D16 und die in D1 beschriebenen Verwendungen der Verbindung aus Beispiel 1 identisch seien.

7.3 Die Kammer bezweifelt daher nicht, dass in D16 und in D1 tatsächlich ein und dieselbe Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1 beschrieben ist, auch was den Schwefelgehalt des Brennstoffs und die Additivkonzentration (Behandlungskonzentration) angeht, und dass folglich dieser Verwendung die Priorität von D16 zusteht.

Voraussetzung a der vorstehenden Nummer 6 ist somit erfüllt.

8. Recht des Anspruchs 1 auf (Teil-)Priorität von D16 – Voraussetzung b der vorstehenden Nummer 6

8.1 Umfang des Anspruchs 1 breiter als die relevante Offenbarung in D16

8.1.1 Die Beteiligten sind sich einig darin, dass Anspruch 1 generisch unter anderem alternative Gegenstände umfasst, die nicht im Prioritätsdokument D16 offenbart sind, sondern sich aus Verallgemeinerungen des in D16 offenbarten Gegenstands ergeben.

8.1.2 Laut den Beteiligten enthält Anspruch 1 zwei solche Verallgemeinerungen:

i) In Bezug auf die als Kaltfließverbesserer zu verwendenden öllöslichen polaren Stickstoffverbindungen offenbart D16 (z. B. in dem Absatz auf S. 10 unten und S. 11 oben) die auch in Anspruch 1 definierten Substituenten -NR13R14, allerdings ausschließlich als Substituenten von Aminsalzen und Amiden, die aus bestimmten Ausgangsmaterialien hergestellt werden (s. D16, Anspruch 15). Die breitere Definition der gemäß Anspruch 1 zu verwendenden Verbindungen stellt eine Verallgemeinerung der spezielleren Offenbarung solcher Verbindungen in D16 dar.

ii) Während das Prioritätsdokument D16 (z. B. in Anspruch 20) für die Konzentration des Kaltfließverbesserers einen Bereich von 0,01 bis 1 Gew.-% bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs offenbart, definiert Anspruch 1 einen erweiterten Bereich von 0,001 bis 1 Gew.-%. Dieser erweiterte Bereich stellt eine weitere Verallgemeinerung der spezielleren Offenbarung von D16 dar.

Die Kammer merkt hierzu an, dass die Beteiligten sich bei dieser Analyse offenbar auf die in den Ansprüchen 2, 14, 15 und 20 von D16 enthaltenen Informationen gestützt haben.

8.1.3 Betrachtet man jedoch die spezielle Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1, die dem Gegenstand des Anspruchs 1 als neuheitsschädlich entgegengehalten wurde, so enthält Anspruch 1 drei Verallgemeinerungen gegenüber dem Prioritätsdokument:

i) Die spezielle öllösliche polare Stickstoffverbindung aus Beispiel 1 von D16, d. h. das N,N-Dialkylammoniumsalz des 2-N’,N’-Dialkylamidobenzoats als Produkt der Umsetzung von einem Mol Phthalsäureanhydrid und zwei Mol Di(-hydriertem Talg-)amin, wurde verallgemeinert zu einer “öllöslichen polaren Stickstoffverbindung […], die zwei oder mehr Substituenten mit der Formel -NR13R14 trägt, wobei R13 und R14 jeweils für eine Kohlenwasserstoffgruppe stehen, die 8 bis 40 Kohlenstoffatome enthält, mit der Maßgabe, dass R13 und R14 gleich oder unterschiedlich sein können, wobei einer oder mehrere der Substituenten in Form eines davon abgeleiteten Kations vorliegen kann bzw. können”.

ii) Die spezielle Behandlungskonzentration (Konzentration der polaren Stickstoffverbindung) laut der im Prioritätsdokument beschriebenen Verwendung, d. h. der – als Konzentration des Wirkstoffs ausgedrückte – Wert von 1 334 ppm (0,1334 Gew.-%), wurde verallgemeinert zu der Formulierung “wobei bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs 0,001 bis 1 Gew.-% des Kaltfließverbesserers vorhanden ist”.

iii) Der spezielle Brennstoff I, bei dem es sich um einen in Schweden im Handel erhältlichen Klasse-1-Dieselkraftstoff mit einem Schwefelgehalt von 0,001 Gew.-% handelt, wurde verallgemeinert zu “einer Brennstoffölzusammensetzung mit einem

Schwefelgehalt von höchstens 0,05 Gew.-%”.

8.1.4 Die Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1, wie sie in D1 offenbart ist, ist genauso auch in der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und in dem darauf erteilten Patent beschrieben. Diese Verwendung stellt eine alternative Ausführungsform dar, die kumuliert alle Merkmale (s. oben Nr. 4.6) der im generischen Anspruch 1 breiter definierten Verwendung aufweist. Dies wird auch aus dem abhängigen Anspruch 7 ersichtlich, der sich ausdrücklich auf die Verwendung der speziellen Verbindung aus Beispiel 1 bezieht.

8.2 Teilpriorität – generische “ODER”-Ansprüche – Terminologie

8.2.1 Für die Zwecke dieser Entscheidung verwendet die Kammer den Begriff

“Teilpriorität” in einem engen Sinne (vgl. Schricker (D29), Nr. II.1, zweiter Absatz und Memorandum, Nr. 38) dafür, dass einem Teil eines Anspruchsgegenstands die Priorität einer einzigen früheren Anmeldung zusteht, während dem restlichen Anspruchsgegenstand nur der Anmeldetag der späteren europäischen Patentanmeldung zusteht.

8.2.2 Für die Zwecke dieser Entscheidung ist ein “generischer ‘ODER’-Anspruch” ein Anspruch, der auf einen Gegenstand gerichtet ist, der durch einen oder mehrere generische Ausdrücke, wie z. B. eine chemische Formel, einen kontinuierlichen Bereich numerischer Werte oder eine funktionelle Definition, oder auf andere Weise definiert ist. Ein solcher generischer “ODER”-Anspruch umfasst, ohne sie eigens zu nennen, alternative Gegenstände, die alle Merkmale des Anspruchs aufweisen.

8.2.3 Das Recht auf Teilpriorität für einen solchen generischen “ODER”-Anspruch insoweit anzuerkennen, als er einen alternativen Gegenstand umfasst, der im Prioritätsdokument direkt – oder zumindest implizit – und eindeutig offenbart ist, bedeutet, dass diesem alternativen Gegenstand der beanspruchte Prioritätstag als wirksamer Anmeldetag zukommt.

8.3 Gegensätzliche Auffassungen der Beteiligten zur Teilpriorität

Zwischen den Beteiligten war streitig, welche Prioritätstage den Gegenständen des Anspruchs 1 zuzuerkennen sind.

8.3.1 Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung, dass dem Anspruch 1 insoweit eine Teilpriorität zuzuerkennen sei, als er – als eine von mehreren Alternativen – die sowohl in D1 als auch im Patent beschriebene Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1 umfasse, d. h. genau jene Verwendung, die von der Beschwerdegegnerin für neuheitsschädlich erachtet wird. Sie brachte insbesondere vor, dass die in G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) aufgeführten Kriterien erfüllt seien, wenn man den in T 1222/11 dargelegten Ansatz anwende.

8.3.2 Die Beschwerdegegnerin brachte hingegen vor, dass die Priorität dem Anspruch 1 nicht zustehe, weil die beanspruchte Erfindung aufgrund der verallgemeinerten Formulierung des Anspruchs 1 nicht dieselbe sei wie die im Prioritätsdokument D16 offenbarte. Dem Anspruch 1 könne noch nicht einmal eine Teilpriorität zuerkannt werden, da die Alternativen nicht eigens genannt seien. Was die Anwendbarkeit der in G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) aufgeführten Kriterien angehe, sei die Rechtsprechung in der Tat divergent.

8.4 Entscheidung über die Neuheit potenziell abhängig vom gewählten Ansatz zur Beurteilung des Rechts auf Teilpriorität

In Bezug auf die Voraussetzung b der vorstehenden Nummer 6 ist die Kammer somit der Auffassung, dass die Entscheidung über die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 davon abhängen kann, welcher Ansatz in der Frage der Beurteilung des Rechts auf Teilpriorität für einen generischen “ODER”-Anspruch verfolgt wird. Konkret ist hier die Frage zu beantworten, ob dem Anspruch 1 insoweit eine Teilpriorität zusteht, als die in D16 offenbarte Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1 in der allgemeineren Definition von Anspruch 1 zwar nicht eigens genannt, aber mit umfasst ist. Auf die Frage, welcher Ansatz richtigerweise für diesen Zweck heranzuziehen ist, wird weiter unten in dieser Entscheidungsbegründung noch näher eingegangen.

9. Stammanmeldung D1 als potenziell kollidierende Anmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ – Voraussetzung c der vorstehenden Nummer 6

Diesbezüglich merkt die Kammer an dieser Stelle nur Folgendes an: Sollte sich die Auffassung der Beschwerdegegnerin zur Teilpriorität als richtig erweisen, müssten die Vorbringen der Beteiligten zu den Artikeln 76 (1) und/oder 54 (3) EPÜ bezüglich einer möglichen Kollision zwischen dem Patent und seiner Stammanmeldung D1 ebenfalls geprüft werden, bevor endgültig über die Neuheit von Anspruch 1 entschieden werden kann.

Teilpriorität – rechtlicher Rahmen

10. Pariser Verbandsübereinkunft

10.1 Mit der Pariser Verbandsübereinkunft wurden Vorschriften zum Prioritätsrecht aufgestellt (Art. 4 A bis I).

Artikel 4 F betrifft die Möglichkeit von Mehrfach- und Teilprioritäten. Siehe dazu: Bodenhausen, “Guide to the application of the Paris Convention for the Protection of Industrial Property”, BIRPI, WIPO-Publikation, Neudruck 2007, S. 53, Absätze a und d, mit Verweis auf Schricker (D29). Verwiesen wird auch auf D21b: Beier & Moufang, GRUR Int., 1989, 869, wo die Bereitschaft des internationalen Systems des gewerblichen Eigentums deutlich wird, Mehrfach- und Teilprioritäten aus der Erwägung heraus anzuerkennen, dass das Erfinden ein innovativer Prozess ist, der selten mit der Einreichung einer Patentanmeldung zum Stillstand kommt (s. auch T 15/01, ABl. EPA 2006, 153, Nr. 33 der Entscheidungsgründe).

Artikel 4 G betrifft die Teilung der Anmeldung und sieht vor, dass dem Anmelder “gegebenenfalls das Prioritätsvorrecht erhalten” bleibt.

11. Vorbereitende Arbeiten zum EPÜ 1973 – Memorandum

11.1 In Abschnitt I “Mehrere Prioritäten” des Memorandums (s. oben) wird betont, dass es angesichts der abweichenden oder unklaren Ansätze bei der Inanspruchnahme einer Priorität in den einzelnen Ländern entscheidend sei, dies im EPÜ durch eine ausdrückliche Bestimmung eindeutig zu regeln, damit die Anmelder wüssten, wie sie ihre Patentansprüche in solchen Fällen abfassen müssten.

11.2 Was die Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch betrifft, wird im Memorandum unterschieden zwischen:

– Gattung “A+B”-Anspruch (“UND”-Anspruch, Anspruch zu eng, um durch die Offenbarung des ersten Prioritätsbelegs gestützt sein) und

– Gattung “A oder B”-Anspruch (“ODER”-Anspruch, Anspruch zu weit, um durch die Offenbarung des ersten Prioritätsbelegs gestützt sein).

11.3 In Bezug auf Fälle mit einem “ODER”-Anspruch heißt es im Memorandum: “Wenn ein erster Prioritätsbeleg ein Kennzeichen A offenbart und ein zweiter Prioritätsbeleg ein Merkmal B, in Anwendung als eine Alternative zu A, dann wird ein Anspruch der Anmeldung, der auf A oder B abgestellt ist, tatsächlich aus zwei verschiedenen Teilen A und B bestehen, wobei jeder dieser Teile in sich vollständig ist; es scheint nun kein Grund vorzuliegen, warum es nicht möglich sein sollte, die erste Priorität für den Teil A des Anspruches und die zweite Priorität für den Teil B des Anspruches zu beanspruchen.” In diesem Zusammenhang wird im Memorandum außerdem Folgendes betont: “Es ist selbstverständlich bedeutungslos, ob das Wort “oder” tatsächlich in dem Anspruch aufscheint, oder bei Verwendung eines Hauptanspruchs mit/inbegriffen ist, oder irgendwie anders.” (In der Terminologie der Kammer entspricht dies einem generischen “ODER”-Anspruch.)

11.4 Zur Illustration enthält das Memorandum Beispiele für Fälle von “ODER”-Ansprüchen, in denen es erstrebenswert wäre, für ein und denselben Anspruch mehrere Prioritäten in Anspruch nehmen zu können:

a) Erweiterung chemischer Formeln,

b) Erweiterung eines Bereichs numerischer Werte (Temperatur, Druck, Konzentration usw.),

c) Erweiterung des Anwendungsgebiets.

Einem solchen “ODER”-Anspruch stünde dann

– der erste Prioritätstag insoweit zu, als der Anspruch den im ersten Prioritätsbeleg offenbarten, eng definierten Gegenstand umfasst, und

– der zweite Prioritätstag für seinen restlichen Schutzumfang zu.

11.5 In Abschnitt II “Teilprioritäten” wird auf Folgendes verwiesen:

– “Die Beanspruchung von Teilpriorität sollte natürlich von denselben Grundsätzen beherrscht sein, wie diese oben für die Beanspruchung von mehrfachen Prioritäten erklärt wurden”, und

– “es würde aber passen, eine Teilpriorität in Situationen gemäß der “ODER”-Situation bei “mehrfachen Prioritäten” zu beanspruchen, wobei die Europäische Patentanmeldung selbst den zweiten Prioritätsbeleg abgeben würde.”

11.6 Im Memorandum werden auch Vorteile der Gewährung von Mehrfach- und Teilprioritäten aufgeführt, so die Vermeidung eines Überhandnehmens von Ansprüchen und möglicher Nachteile in den nationalen Verfahren nach der Patenterteilung.

11.7 Die Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 (M/PR/I, “Artikel 86 (88) Inanspruchnahme der Priorität”, Nrn. 308 bis 317) scheinen außerdem darauf hinzudeuten, dass das Memorandum ein wichtiger Bestandteil des Entstehungsprozesses der letztlich beschlossenen EPÜ-Bestimmung war, wonach für ein und denselben Anspruch mehrere Prioritäten beansprucht werden können.

12. Europäisches Patentübereinkommen

12.1 Das EPÜ stellt laut seiner Präambel ein Sonderabkommen im Sinne von Artikel 19 PVÜ dar. Folglich darf es den in der Pariser Verbandsübereinkunft festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen (s. G 2/98, Nr. 3 der Begründung der Stellungnahme, ebenso: J 15/80, Nr. 7 der Entscheidungsgründe, T 2473/12, Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe).

12.2 Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ lautet: “Für einen Patentanspruch können mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden.”

12.3 Artikel 88 (3) EPÜ lautet: “Werden eine oder mehrere Prioritäten für die europäische Patentanmeldung in Anspruch genommen, so umfasst das Prioritätsrecht nur die Merkmale der europäischen Patentanmeldung, die in der Anmeldung oder den Anmeldungen enthalten sind, deren Priorität in Anspruch genommen worden ist.”

12.4 Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ 1973 (das im vorliegenden Fall anzuwenden ist [im Deutschen identisch mit EPÜ 2000]) besagt, dass eine europäische Teilanmeldung “nur für einen Gegenstand eingereicht werden [kann], der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht; soweit diesem Erfordernis entsprochen wird, gilt die Teilanmeldung als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt deren Prioritätsrecht.”

Rechtsprechung zur Teilpriorität

13. Rechtsprechung vor G 2/98

13.1 Vorbemerkung zum Erfordernis “derselben Erfindung”

Die Kammer schickt voraus, dass die Beschwerdekammern vor G 2/98 zwei unterschiedliche Ansätze in Bezug auf das Erfordernis “derselben Erfindung” in Artikel 87 (1) EPÜ verfolgt haben: einen breiten Ansatz (T 73/88 (Snackfood/Howard), ABl. EPA 1992, 557) und einen auf dem Offenbarungstest basierenden, engen Ansatz. Nach Letzterem müssen alle Merkmale des beanspruchten Gegenstands in der beanspruchten Kombination direkt – oder zumindest implizit – und eindeutig im Prioritätsdokument offenbart sein (z. B. T 81/87, ABl. EPA 1990, 250, Nr. 12 der Entscheidungsgründe, T 77/97 vom 3. Juli 1997, Nr. 6.4 und 6.5 der Entscheidungsgründe). Diese Divergenz der Rechtsprechung hat zur Vorlage G 2/98 geführt, in der zugunsten des engen Ansatzes entschieden wurde.

13.2 Beschwerdekammerentscheidungen zur Teilpriorität

Der Kammer sind keine Entscheidungen zur Frage der Teilpriorität bekannt, in denen der breite Ansatz angewendet worden wäre. Es gibt hingegen Entscheidungen, in denen bei der Behandlung der Teilpriorität der enge Ansatz angewendet wurde. In all diesen Entscheidungen wurde eine Teilpriorität für generische “ODER”-Ansprüche anerkannt.

Erweiterung generischer chemischer Formeln

13.2.1 In der Sache T 85/87 vom 21. Juli 1998 betraf Anspruch 1 Verbindungen, die durch eine generische chemische Formel definiert waren, die aufgrund von Änderungen in den Definitionen einiger Substituenten breiter war als die im Prioritätsdokument offenbarte generische Formel. Die Kammer befand (Nrn. 3 und 4 der Entscheidungsgründe), dass ein Anspruch einer europäischen Patentanmeldung nach Artikel 88 (3) EPÜ Gegenstände enthalten dürfe, die über den Offenbarungsgehalt des Prioritätsdokuments hinausgingen. Mit anderen Worten könne einem solchen Anspruch das Prioritätsrecht auch nur teilweise zustehen, nämlich nur für die im Prioritätsdokument offenbarten Elemente. Der beanspruchte Prioritätstag müsse also nicht dem gesamten Anspruch 1 zukommen. Die Kammer erkannte die Priorität somit einem Teil des Anspruchs 1 zu, nämlich insoweit, als seine generische Formel und die generische Formel aus dem Prioritätsdokument in Bezug auf die Substituenten vollständig übereinstimmten (Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Folglich wurde eine andere europäische Patentanmeldung, die eine spezielle, unter diesen Teil des Anspruchs 1 fallende Verbindung offenbarte, deren wirksames Datum aber nach dem von der Streitanmeldung beanspruchten Prioritätstag lag, nicht als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ erachtet. Allerdings verneinte die Kammer die Priorität für einen abhängigen Anspruch, der auf diese spezielle Verbindung gerichtet war, die – gemessen an den Grundsätzen, die die Beschwerdekammern für die Beurteilung der Neuheit spezieller (individueller) chemischer Verbindungen gegenüber der generischen Offenbarung einer Gruppe von Verbindungen entwickelt haben, – nicht im Prioritätsdokument offenbart war. Die in der anderen europäischen Patentanmeldung offenbarte spezielle Verbindung nehme also den Gegenstand dieses abhängigen Anspruchs vorweg.

13.2.2 Dem Ansatz aus T 85/87 folgte auch die Kammer in T 352/97 vom 24. Oktober 2000 (Nr. 3.4.2 und 3.4.3, zweiter Absatz, der Entscheidungsgründe) bei ihrer Beurteilung, inwieweit ein Anspruch, der auf durch eine generische Formel definierte Verbindungen gerichtet ist, eine Teilpriorität beanspruchen kann.

Erweiterung von Bereichen in Zusammensetzungen

13.2.3 In der Sache T 395/95 vom 4. September 1997 betraf Anspruch 1 die Verwendung einer Zusammensetzung mit einem “Harz, das einen Erweichungspunkt von 10° C bis 120° C hat und ein Copolymer […] ist, […] der 10 bis 60 Gew.-% der monovinylaromatischen Verbindungen enthält”, als klebrig machendes Mittel (Hervorhebung durch die Kammer). Die Kammer entschied (Nr. 2.1.1 der Entscheidungsgründe), dass das Prioritätsrecht nach Artikel 88 (3) EPÜ nur die Merkmale der europäischen Patentanmeldung (und folglich des europäischen Patents) umfasse, die in der Anmeldung enthalten seien, deren Priorität in Anspruch genommen werde. Somit könne die Priorität denjenigen Anspruchsteilen nicht zuerkannt werden, die ein Harz mit einem Erweichungspunkt von über 80° C bis 120° C und/oder mit einem Gehalt von über 30 bis 60 Gew.-% der monovinylaromatischen Verbindungen betrafen, weil diese Gegenstände nicht im Prioritätsdokument offenbart seien. Damit bilde eine im Prioritätsintervall veröffentlichte europäische Patentanmeldung für die unter die Ansprüche fallenden, aber im Prioritätsdokument nicht offenbarten Gegenstände Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ und für die unter die Ansprüche fallenden und im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstände Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ.

Erweiterung eines Verfahrens

13.2.4 In der Sache T 441/93 vom 27. März 1996 (Nrn. 19 und 20 der Entscheidungsgründe) wurde eine Teilpriorität für einen Teil des beanspruchten Gegenstands insoweit anerkannt, als er im Prioritätsdokument offenbart war (Verfahren zur Transformation von Protoplasten), während dem von Anspruch 1 ebenfalls umfassten Verfahren zur Transformation vollständiger Zellen nur der Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung zuerkannt wurde. Damit wurde ein im Prioritätsintervall veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel nur in Bezug auf die nicht im Prioritätsdokument offenbarten Anspruchsgegenstände als Stand der Technik erachtet.

14. G 2/98 – Prioritätsgrundsätze

14.1 Die Stellungnahme G 2/98 betrifft die Auslegung des Erfordernisses “derselben Erfindung” in Artikel 87 (1) EPÜ. Die Große Beschwerdekammer hat darin folgende Grundsätze aufgestellt:

14.1.1 Mit Bezug auf die Artikel 4 F und 4 H PVÜ erkannte sie Folgendes an (Nr. 4 der Begründung der Stellungnahme, insb. zweiter Absatz):

– Eine Priorität darf nicht deswegen verweigert werden, weil eine Anmeldung, für die eine oder mehrere Prioritäten beansprucht werden, ein oder mehrere Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments] enthält, die in der Anmeldung, deren Priorität beansprucht worden ist, nicht enthalten waren, sofern Erfindungseinheit vorliegt.

– Hinsichtlich dieses Merkmals bzw. dieser Merkmale lässt die jüngere Anmeldung ein Prioritätsrecht unter den allgemeinen Bedingungen entstehen.

– Da nach Artikel 4 H PVÜ eine Erfindung, für die eine Priorität beansprucht wird, nicht in einem Patentanspruch der Anmeldung definiert sein muss, deren Priorität beansprucht wird, stellt ein “Merkmal” im Sinne des Artikels 4 F PVÜ einen Gegenstand dar, der implizit oder explizit in den die Offenbarung betreffenden Anmeldungsunterlagen deutlich offenbart ist, insbesondere in Form eines Patentanspruchs oder einer Ausführungsart oder eines Beispiels.

– Die Möglichkeit der Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten wurde in die Pariser Verbandsübereinkunft eingeführt, damit für Verbesserungen der ursprünglichen Erfindung nicht Zusatzpatente angemeldet werden mussten. Hieran wird deutlich, dass “Merkmal” nicht im Sinne eines Anspruchsmerkmals, sondern einer Ausführungsart verstanden wurde.

14.1.2 Unter Nummer 5 der Begründung ihrer Stellungnahme stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass eine enge Auslegung des Begriffs “derselben Erfindung” in Artikel 87 (1) EPÜ, die ihn mit dem Begriff “desselben Gegenstands” in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt, voll und ganz mit den Artikeln 4 F und 4 H und ebenso mit Artikel 4 A (1) PVÜ in Einklang steht. Es wird jedoch allgemein davon ausgegangen, dass sich die spätere Anmeldung auf denselben Gegenstand beziehen muss wie die erste, prioritätsbegründende Anmeldung. Dies ergibt sich schon aus dem Sinn und Zweck des Prioritätsrechts: Schutz vor neuheitsschädlichen Offenbarungen in einem Zeitraum von zwölf Monaten ab dem Anmeldetag der Erstanmeldung ist nur erforderlich, wenn später eine Nachanmeldung eingereicht wird, die sich auf dieselbe Erfindung bezieht. Eine solche enge Auslegung ist auch mit Artikel 4 C (4) PVÜ vereinbar, dem zufolge als erste Anmeldung auch eine jüngere Anmeldung angesehen wird, die denselben Gegenstand betrifft wie eine erste ältere Anmeldung, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

14.1.3 Unter Nummer 6 der Begründung erklärte die Große Beschwerdekammer weiter, dass sich Artikel 88 EPÜ zwar hauptsächlich mit den verfahrensrechtlichen und formalen Gesichtspunkten der Prioritätsbeanspruchung befasst, aber auch materiellrechtliche Aspekte behandelt, für die die in Artikel 87 (1) EPÜ festgelegten Grundsätze gelten. Unter den Nummern 6.1 bis 6.8 ihrer Begründung ging sie speziell auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch ein:

– Artikel 88 (2) Satz 1 und (3) EPÜ entspricht im Wesentlichen Artikel 4 F PVÜ, und Artikel 88 (4) EPÜ entspricht fast wörtlich Artikel 4 H PVÜ.

– Da die Ansprüche der europäischen Patentanmeldung den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird, und damit auch den Gegenstand bestimmen, für den eine Priorität beansprucht werden kann, sind die Begriffe “Merkmale der Erfindung” in Artikel 88 (4) EPÜ und “Merkmale der europäischen Patentanmeldung” in Artikel 88 (3) EPÜ als synonym zu betrachten. Sowohl ein “Merkmal der Erfindung” als auch ein “Merkmal der europäischen Patentanmeldung” bilden letztlich den Gegenstand, der in einem Anspruch einer europäischen Patentanmeldung angegeben wird.

– Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ besagt, dass “für einen Anspruch mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden [können]”. Um zu verstehen, welche gesetzgeberische Absicht dieser Bestimmung zugrunde lag, muss man die Materialien zum EPÜ konsultieren, so auch das Memorandum (s. oben), bei dem davon auszugehen ist, dass es diese Absicht zum Ausdruck bringt. Dem Memorandum zufolge ist bei der Beurteilung, ob die Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch gerechtfertigt ist, zwischen Situationen mit einem “UND”-Anspruch und solchen mit einem “ODER”-Anspruch zu unterscheiden.

14.1.4 Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme lautet wie folgt: “In Bezug auf den “ODER”-Anspruch […] ist dem Memorandum Folgendes zu entnehmen: Wenn ein erster Prioritätsbeleg ein Anspruchsmerkmal A offenbart und ein zweiter Prioritätsbeleg ein Anspruchsmerkmal B als eine Alternative zu A, so kann ein Anspruch, der auf A oder B gerichtet ist, die erste Priorität für den Teil A des Anspruchs und die zweite Priorität für den Teil B des Anspruchs beanspruchen. Ferner wird ausgeführt, dass beide Prioritäten auch für einen auf C gerichteten Anspruch beansprucht werden können, wenn das Anspruchsmerkmal C in Form eines generischen Begriffs bzw. einer Formel oder anderweitig sowohl A als auch B umfasst. Die Verwendung eines generischen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäß Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ mehrere Prioritäten beansprucht werden, ist nach den Artikeln 87 (1) und 88 (3) EPÜ durchaus akzeptabel, sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird.”

14.1.5 Die Große Beschwerdekammer kam zu folgendem Ergebnis (Nr. 6.8 der Begründung der Stellungnahme):

“Somit scheint eine enge Auslegung des Begriffs ‘derselben Erfindung’ in Artikel 87 (1) EPÜ, die ihn mit dem Begriff ‘desselben Gegenstands’ in Artikel 87 (4) EPÜ gleichsetzt […], vollkommen mit Artikel 88 (2) bis (4) EPÜ in Einklang zu stehen. Eine solche enge Auslegung steht auch in Einklang mit Artikel 87 (4) EPÜ […]”

14.2 Die Schlussfolgerung von G 2/98 lautet:

“Das in Artikel 87 (1) EPÜ für die Inanspruchnahme einer Priorität genannte Erfordernis ‘derselben Erfindung’ bedeutet, dass die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 88 EPÜ nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann.”

15. Rechtsprechung nach G 2/98

15.1 Teilpriorität verneinende Beschwerdekammerentscheidungen

Erweiterung generischer chemischer Formeln

15.1.1 In der Sache T 1127/00 war Anspruch 1 auf eine generische Formel gerichtet, die eine Vielzahl alternativer Verbindungen einschloss. Die Kammer stellte fest, dass die alternativen Verbindungen als solche im Anspruch nicht eigens genannt seien, und die Tatsache, dass sie denkgesetzlich unter den Anspruch fallen könnten, ein klares und eindeutiges Vorhandensein dieser – als solche einzeln aufgeführten – Alternativen im Anspruch nicht ersetzen könne. Anspruch 1 beziehe sich nicht in Form eines “ODER”-Anspruchs auf eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände, die in Gruppen mit jeweils unterschiedlicher Priorität unterteilt werden könnten. Somit könne Anspruch 1 nicht die Teilpriorität eines Prioritätsdokuments zukommen, sondern lediglich der Prioritätstag des Dokuments, in dem die generische Formel erstmals offenbart worden sei. Dies sei nicht das früheste Prioritätsdokument, denn darin seien nur speziellere synthetische Ribozyme offenbart. Diese fielen zwar unter die generische Formel des Anspruchs 1, doch enthalte das Prioritätsdokument keine klare und eindeutige Offenbarung der breiten generischen Gruppe, die durch diese Formel repräsentiert werde. Somit stehe Anspruch 1 nicht der früheste Prioritätstag zu (Nrn. 5 bis 7 der Entscheidungsgründe).

15.1.2 In der Sache T 2311/09 (Nrn. 2 bis 4 der Entscheidungsgründe) war Anspruch 1 auf Eotaxin-Proteine gerichtet, die eine Aminosäuresequenz “mit wenigstens 40 % Identität” zu einer bestimmten anderen Sequenz umfassten und Varianten einschlossen, die in keinem der beiden Prioritätsdokumente offenbart waren. Folglich wurde die Priorität nicht dem gesamten Anspruch zuerkannt. Ebenso wenig wurde ihm eine Teilpriorität insoweit zuerkannt, als er Proteine mit 100%iger Sequenzidentität umfasste, obwohl die betreffende Sequenz in einem Prioritätsdokument offenbart gewesen zu sein schien. Diesbezüglich befand die Kammer, Anspruch 1 umfasse “nicht eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände (s. G 2/98, Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme)”.

Erweiterung chemischer Zusammensetzungen

15.1.3 In der Sache T 184/06 vom 21. März 2007 (Nr. 6 der Entscheidungsgründe) wurde dem Anspruch keine Teilpriorität zuerkannt, obwohl er Zusammensetzungen umfasste, die im Prioritätsdokument enger offenbart waren (engerer Alkoxylierungsbereich eines Bestandteils, zusätzlicher Bestandteil). Die Kammer entschied, dass die Merkmalkombination des Anspruchs 1 nicht direkt und unmittelbar dem Prioritätsdokument entnommen werden könne (Art. 87 (1) EPÜ sowie G 2/98, Leitsatz und Nr. 9 der Begründung der Stellungnahme). Zudem betreffe Anspruch 1 eine Stoffzusammensetzung, die durch eine Kombination von Merkmalen charakterisiert sei, die nicht isoliert voneinander betrachtet werden könnten. Der Gegenstand umfasse “alles, was in seinen durch seine wesentlichen Merkmale definierten Schutzbereich fällt,” und “bezieht sich nicht auf spezielle, voneinander trennbare Alternativen mit unterschiedlichem Umfang, für die unterschiedliche Prioritäten in Anspruch genommen werden könnten” (Art. 88 (2) und (3) EPÜ).

15.1.4 In der Sache T 1443/05 betraf Anspruch 1 eine Zusammensetzung aus zwei Bestandteilen, wobei das Vorhandensein eines bestimmten dritten, als nachteilig erachteten Bestandteils durch einen Disclaimer ausgeklammert war. Beansprucht wurde die Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung, in der als Ausführungsbeispiele Zusammensetzungen genannt waren, die die ersten beiden Bestandteile, aber nicht den dritten enthielten, in der jedoch auch die Möglichkeit erwähnt war, den dritten Bestandteil hinzuzufügen. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht dieselbe Erfindung (Art. 87 (1) EPÜ) betreffe wie die im Prioritätsdokument offenbarte. Dem Anspruch als Ganzes wurde der beanspruchte Prioritätstag also aberkannt (Nr. 4.1.11 der Entscheidungsgründe). Zudem entschied die Kammer mit Verweis auf G 2/98 (Nr. 6.6 der Begründung der Stellungnahme), dass, obwohl die Beispiele des Prioritätsdokuments von Anspruch 1 umfasst seien, im generischen Wortlaut des Anspruchs keine eindeutige Alternative bestimmt werden könne, die die Beispiele umfasse (Nr. 4.2.6 der Entscheidungsgründe). Die in der europäischen Prioritätsanmeldung beispielhaft angeführten Zusammensetzungen, die den dritten Bestandteil nicht umfassten, wurden somit für neuheitsschädlich nach Artikel 54 (3) EPÜ befunden. Erweiterung von Wertebereichen

15.1.5 In der Sache T 1877/08 war Anspruch 1 auf eine Mischung aus drei Bestandteilen gerichtet, die in relativen Mengen von 30 bis 65 Gew.-%, 1 bis 10 Gew.-% bzw. 33 bis 69 Gew.-% vorlagen. Das Patent beanspruchte die Priorität einer amerikanischen Anmeldung, in der eine Mischung derselben Bestandteile offenbart war, allerdings in enger eingegrenzten Mengen von 30 bis 55 Gew.-%, 2 bis 10 Gew.-% bzw. 35 bis 65 Gew.-% (Hervorhebung durch die Kammer). Die Kammer stellte fest, dass sich die Merkmalskombination des Anspruchs 1 nicht unmittelbar und eindeutig dem Prioritätsdokument entnehmen lasse (Art. 87 (1) EPÜ und G 2/98). Die beanspruchten Mengen stellten einen kontinuierlichen Bereich numerischer Werte dar, die keinen voneinander trennbaren alternativen Ausführungsarten entsprächen (Art. 88 (2) und (3) EPÜ). Folglich ließen sich innerhalb dieses kontinuierlichen Bereichs keine trennbaren alternativen Ausführungsarten – d. h. keine Merkmale im Sinne von Artikel 88 (3) EPÜ – ausmachen, für die ein Anspruch auf den Prioritätstag bestanden hätte, weswegen dem Anspruch 1 als Ganzes die Priorität verweigert wurde.

15.1.6 In der Sache T 476/09 betraf Anspruch 1 eine Tonerzusammensetzung, die unter anderem durch eine mittlere “Rundheit” der Tonerteilchen (eine physikalische Eigenschaft dieser Teilchen) gekennzeichnet war, welche in Form eines kontinuierlichen Bereichs “von 0,930 bis 0,990” definiert war (Hervorhebung durch die Kammer). Obwohl im Prioritätsdokument ein Toner mit allen Merkmalen des strittigen Anspruchs 1, aber einem engeren Bereich für die Rundheit “von 0,94 bis 0,99” offenbart war, erkannte die Kammer dem Anspruch noch nicht einmal eine Teilpriorität zu. Sie befand, dass der beanspruchte Bereich einen kontinuierlichen Bereich numerischer Werte darstelle, die keinen voneinander trennbaren alternativen Ausführungsarten entsprächen (G 2/98, Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme und T 1877/08). Somit konnte sie in diesem kontinuierlichen Bereich keine trennbaren alternativen Ausführungsarten ausmachen, für die ein Anspruch auf den Prioritätstag bestanden hätte.

Sonstige Verallgemeinerungen

15.1.7 In der Sache T 1496/11 bezog sich Anspruch 1 des (Stamm-)Patents auf ein Wertzeichendokument mit einer Wertzeicheneinheit, die “ein Merkmal (10) aufweist, welches inspiziert, vergrößert oder durch die optische Linse […] optisch verändert werden kann”. Im Prioritätsdokument war für diesen Zweck lediglich ein “gedrucktes oder bombiertes” Merkmal offenbart. Die Kammer kam zu dem Ergebnis (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe), dass der beanspruchte Gegenstand durch Weglassung dieser präziseren Angabe verallgemeinert worden sei und somit auch Wertzeicheneinheiten mit auf andere Weise erzeugten Merkmalen umfasse. Folglich handle es sich nicht um dieselbe Erfindung wie die im Prioritätsdokument beschriebene (Art. 87 (1) EPÜ). Dem Gegenstand des Anspruchs 1 wurde daher nur der Anmeldetag der Stammanmeldung zuerkannt, auf die das Patent erteilt worden war. Die Kammer stellte weiter fest, dass eine in der veröffentlichen europäischen Teilanmeldung offenbarte Ausführungsform für den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich nach Artikel 54 (3) EPÜ sei. Diese Ausführungsform sei im Prioritätsdokument in identischer Weise offenbart gewesen, sodass ihr der beanspruchte Prioritätstag zustehe. Sie nehme somit den Gegenstand des Anspruchs 1 der Stammanmeldung vorweg, dem das Prioritätsrecht aberkannt worden war.

15.2 Zwei Urteile des High Court of England and Wales of Justice (Patents Court) betreffend G 2/98, in denen eine Teilpriorität verneint wurde

15.2.1 In der Sache Nestec SA & Ors ./. Dualit Ltd & Ors [2013] EWHC 923 (Pat) vom 22. April 2013 betraf Anspruch 1 des europäischen Patents (UK) 2 103 326 ein Extraktionssystem mit einer Vorrichtung zur Extraktion einer Kapsel. Unstreitig war, dass der Anspruch den im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstand umfasste. Bezugnehmend unter anderem auf die in G 2/98 aufgestellten Kriterien (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) befand das Gericht, dass der Anspruch auch Gegenstände umfasse, die nicht als “eindeutig definierte Alternativen” angesehen werden könnten (Nrn. 96 und 103), und “eine Vielzahl unterschiedlicher Anordnungen” betreffe (Nr. 96), weswegen es ihm noch nicht einmal eine Teilpriorität zuerkannte. Somit wurde Anspruch 1 für nicht neu gegenüber dem betreffenden im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstand befunden, der als Stand der Technik nach § 2 (3) des britischen Patentgesetzes von 1977 anzusehen war, welcher dem Artikel 54 (3) EPÜ entspricht (Nr. 111).

15.2.2 In der Sache HTC Corporation ./. Gemalto SA und HTC Corporation ./. Gemalto NV [2013] EWHC 1876 (Pat) vom 10. Juli 2013, in der es um das europäische Patent (UK) 0 932 865 ging, erklärte der Richter mit Verweis auf G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme), dass “der Wunsch nach einer beschränkten Zahl zwar nachvollziehbar ist”, man aber hinterfragen dürfe, ob es “irgendeine fundierte Grundlage für dieses Erfordernis” gebe. Die “Notwendigkeit eindeutig definierter alternativer Gegenstände” wurde ausdrücklich anerkannt, “wenn einem einzigen Anspruch Teil- oder Mehrfachprioritäten zuerkannt werden sollen” (Nr. 160).

Letztlich wurde Anspruch 1, der mit Bezug auf eine “höhere Programmiersprache” definierte Merkmale umfasste, die Priorität (und selbst die Teilpriorität) aberkannt, weil im Prioritätsdokument nur “Java” als Programmiersprache offenbart war (Nr. 195). Zuerkannt wurde die Priorität aber dem von Anspruch 1 abhängigen Anspruch 3, der durch die Bezugnahme auf “Java” beschränkt war.

15.3 Teilpriorität bejahende Beschwerdekammerentscheidungen

Erweiterung von kontinuierlichen Bereichen numerischer Werte

15.3.1 In der Sache T 135/01 vom 21. Januar 2004 bezog sich Anspruch 1 auf ein Verfahren zur Ansteuerung eines Elektromotors, das einen ersten und einen zweiten Stromschaltschritt umfasste, wobei der Zeitabstand zwischen diesen beiden als der Bereich ¼ < ô < ¾ definiert war. Die Kammer entschied (Nr. 5 der Entscheidungsgründe), dass "Anspruch 1 [...] für die Zwecke der Prioritätsbestimmung als zweigeteilt aufgefasst werden muss, nämlich als unterteilt in einen ersten theoretischen Teilanspruch, der einen Bereich für das Schaltintervall von 'ungefähr = ô/2' definiert und dem der Prioritätstag der GB-Anmeldung [...] [Prioritätsdokument] zusteht, und in einen zweiten theoretischen Teilanspruch für den übrigen Bereich von ¼< ô < ¾ ausgenommen des Bereichs von 'ungefähr = ô/2', dem als Priorität nur der tatsächliche Anmeldetag zusteht und für den daher die Zwischenveröffentlichung D13 [Konferenzbericht] zum Stand der Technik gehört", denn in der Zwischenveröffentlichung war der Bereich von "ungefähr =ô/2" ebenfalls offenbart. Ohne ausdrücklich auf G 2/98 zu verweisen oder auf die Kriterien unter Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme einzugehen, erkannte die Kammer somit die Teilpriorität für den engeren Bereich an, der im Prioritätsdokument offenbart und von dem bereiteren Bereich in Anspruch 1 umfasst war, auch wenn er nicht eigens genannt war.

15.3.2 In der Sache T 665/00 war Anspruch 10 auf ein kosmetisches Puder gerichtet, das hohle Mikrosphären enthielt, die unter anderem durch eine “spezifische Masse unter 0,1 g/cm3” gekennzeichnet waren, wobei dieser Bereich im Prioritätsdokument nicht offenbart war. Ein Neuheitseinwand war erhoben und mit einer offenkundigen Vorbenutzung innerhalb des Prioritätszeitraums begründet worden. Mit Verweis auf Artikel 88 (3) EPÜ und G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) erklärte die Kammer, dass unterschiedliche Elemente einer Patentanmeldung unterschiedliche Prioritätstage haben könnten und dies auch für einen einzigen Anspruch gelte, der mehrere Alternativen umfasse und somit in mehrere Einzelgegenstände aufgespalten werden könne (Nr. 3.5 der Entscheidungsgründe). Nach Auffassung der Kammer (Nr. 3.5.1 der Entscheidungsgründe) lasse es der generische Ausdruck “spezifische Masse unter 0,1 g/cm3” zu, eine Gruppe hohler Mikrosphären zu definieren, d. h. alternative Möglichkeiten zur Ausführung der Erfindung, denen entsprechend ein Prioritätstag zuerkannt werden könne. Im Prioritätsdokument seien als Beispiel Puder mit hohlen Mikrosphären des Typs “Expancel DE” angeführt, deren spezifische Masse in den Bereich falle, der in den Ansprüchen definiert sei. Unter den von Anspruch 10 umfassten Alternativen stünde also jenen der beanspruchte Prioritätstag zu, die sich auf Puder mit “Expancel DE”- Mikrosphären bezögen. Die geltend gemachte Vorbenutzung, die ein Puder betraf, das dieselben Mikrosphären des Typs “Expancel DE” enthielt, konnte deshalb nicht neuheitsschädlich sein.

Somit wurde in T 665/00 einem generischen “ODER”-Anspruch Teilpriorität zuerkannt, der als generischen Ausdruck einen bestimmten Massebereich umfasste, welcher im Prioritätsdokument nicht als solcher offenbart war und eine Verallgemeinerung der spezielleren Offenbarung in den Beispielen des Prioritätsdokuments darstellte, genauer gesagt der implizit offenbarten spezifischen Masse der verwendeten “Expancel DE”-Mikrosphären. Die Feststellung, dass dem Anspruch die Teilpriorität insoweit zustehe, als er bestimmte, im Prioritätsdokument offenbarte Alternativen umfasste, beruhte auf einem bloßen Vergleich des Umfangs des Anspruchs mit dem Inhalt des Prioritätsdokuments. Die Entscheidung enthält keine weiteren gezielten Bezugnahmen auf die Kriterien der “beschränkten Zahl” und der “eindeutig definierten alternativen Gegenstände” aus G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme).

15.3.3 In der Sache T 1222/11 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe) befürwortete die Kammer in einem obiter dictum eine Auslegung der in G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) aufgestellten Bedingung, die sich von der den Entscheidungen T 1127/00, T 1443/05, T 1877/08 und T 476/09 zugrunde gelegten unterschied:

– Die in G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) formulierte Bedingung könne nicht – wie in den angeführten Entscheidungen angenommen – so zu verstehen sein, dass der Gegenstand eines “ODER”-Anspruchs in einer bestimmten Weise definiert sein müsse, damit “dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird”, denn dies würde – zumindest in Bezug auf generische Definitionen – im Widerspruch zu dem auf dem Grundsatz einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung basierenden Offenbarungstest stehen (G 3/89, ABl. EPA 1993, 117).

Zu diesem Schluss kam die Kammer aufgrund folgender Erwägungen:

– Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme betreffe ausschließlich die Frage der Beanspruchung mehrerer Prioritäten für ein und denselben “ODER”-Anspruch. Der Verweis auf Artikel 88 (3) EPÜ sei als Hinweis der Großen Beschwerdekammer zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Prüfung der Voraussetzungen des Artikels 88 (3) EPÜ vorgenommen werden könne, wenn der “ODER”-Anspruch anhand eines generischen Begriffs oder einer generischen Formel abgefasst sei.

– Diese Prüfung könne nur durch einen Vergleich des im “ODER”-Anspruch beanspruchten Gegenstands mit der Offenbarung der verschiedenen Prioritätsdokumente vorgenommen werden.

– Daher beziehe sich die Formulierung, dass “dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird”, im Zusammenhang mit dieser Prüfung auf die Möglichkeit, durch diesen Vergleich diejenigen alternativen Gegenstände abstrakt zu ermitteln, denen sich mehrere beanspruchte Prioritätsrechte zuordnen ließen oder nicht. Dies sei notwendig, damit festgestellt werden könne, welche Teile des Anspruchs von der Wirkung des Prioritätsrechts nach Artikel 89 EPÜ profitierten.

Zudem entspreche der letzte Satz unter Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme G 2/98 dem Memorandum, das nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die Absicht des Gesetzgebers in Bezug auf Mehrfachprioritäten widerspiegle. Nacheinander auf die im Memorandum angeführten Beispiele eingehend, erläuterte die Kammer, wie in jedem einzelnen Fall die Priorität in Einklang mit G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) anerkannt werden könnte. Insbesondere Beispiel c des Memorandums belege, dass die Zuerkennung unterschiedlicher Prioritätstage “nicht nur Ansprüchen vorbehalten ist, die für sich genommen eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände definieren” (Nr. 11.5.7 der Entscheidungsgründe). Im Übrigen gebe es keinen Grund, warum die Bedingung aus G 2/98 bei der Prüfung einer Teilpriorität in Bezug auf ein einziges Prioritätsdokument eine andere sein sollte (Nr. 11.6 der Entscheidungsgründe).

Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die Entscheidung, ob einem im Prioritätsdokument offenbarten und von einem “ODER”-Anspruch umfassten Gegenstand eine Priorität zuerkannt werden könne, nicht davon abhänge, ob dieser Gegenstand im Anspruch ausdrücklich als gesonderte Alternative ausgewiesen sei.

15.3.4 In der Sache T 571/10 wurde ausdrücklich der in T 1222/11 entwickelte Ansatz angewendet. Die Kammer stellte fest (Nr. 4.5.14 der Entscheidungsgründe), dass der Anspruch zwei alternative Gruppen von Gegenständen umfasse, auch wenn diese darin nicht eigens genannt seien: Alternative a betreffend die Verwendung einer speziellen Zusammensetzung (Kalziumsalz der Säure als Wirkstoff und tribasisches Phosphatsalz mit mehrwertigem Kation) und Alternative b betreffend die Verwendung einer allgemeiner definierten Zusammensetzung (die Säure oder ein geeignetes Salz der Säure als Wirkstoff und ein anorganisches Salz mit mehrwertigem Kation, wobei der Wirkstoff und das anorganische Salz nicht das Kalziumsalz der Säure und ein tribasisches Phosphatsalz in Kombination sind). Alternative a war ein im Prioritätsdokument offenbarter Gegenstand, der als solcher im Anspruch nicht definiert, aber von diesem umfasst war. Alternative b war der übrige Gegenstand des Anspruchs, der im Prioritätsdokument nicht offenbart war. Die Kammer entschied, dass dem Gegenstand der Alternative a die Priorität zukomme, dem der Alternative b jedoch nicht. Somit war die parallele europäische Patentanmeldung D9, die die Priorität derselben früheren Anmeldung beanspruchte wie das Streitpatent und in der die dieselben beiden Alternativen a und b offenbart waren, kein Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ für Alternative a, weil sie kein früheres wirksames Datum hatte als diese Alternative. Für Alternative b war sie Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ, aber nicht neuheitsschädlich, denn die Alternativen a und b überlappten sich nicht.

Vorlage an die Große Beschwerdekammer

16. Artikel 112 (1) a)EPÜ

Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ kann eine Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer befassen, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält.

Die Kammer ist der Auffassung, dass die in Artikel 112 (1) a) EPÜ genannten Voraussetzungen für eine Vorlage von Rechtsfragen einerseits zur Teilpriorität und andererseits zur Anwendbarkeit des Artikels 54 (3) EPÜ auf Familienmitglieder einer europäischen Stamm-/Teilanmeldung aus den nachstehend aufgeführten Gründen erfüllt sind.

17. Fragen zur Teilpriorität

17.1 Vorbemerkung – Bestimmung von Prioritätstagen

Im Allgemeinen wird die Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs in Verfahren vor dem EPA nur dann geprüft, wenn der der Öffentlichkeit am oder nach dem beanspruchten Prioritätstag zugänglich gemachte Stand der Technik – zumindest für einen Teil des beanspruchten Gegenstands – potenziell neuheitsschädlich oder für die erfinderische Tätigkeit relevant ist. Ist dies der Fall, müssen die Prioritätstage ermittelt werden, die dem angefochtenen Anspruchsgegenstand bzw. gegebenenfalls dem angeführten Stand der Technik zukommen.

17.2 Erfordernisse des Artikels 112 (1) a) EPÜ

17.2.1 Anträge der Beteiligten

Beide Beteiligten erklärten, dass sie es für sachdienlich hielten, die Große Beschwerdekammer mit Fragen zur Teilpriorität im Falle generischer “ODER”-Ansprüche zu befassen, und beriefen sich dabei unter anderem auf die grundsätzliche Bedeutung prioritätsrelevanter Fragen und auf Abweichungen in der Rechtsprechung. Für vorrangig erachteten die Beteiligten dabei die von ihnen vorgelegten Fragen zur Teilpriorität.

17.2.2 Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung

Nachdem das Prioritätsrecht einer der Eckpfeiler des Patentsystems ist, ist eine Klärung der im vorliegenden Zusammenhang aufgeworfenen Rechtsfragen nach Auffassung der Kammer von grundsätzlicher Bedeutung. Wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, ist die Art, in der die Berechtigung des Prioritätsanspruchs im Falle generischer “ODER”-Ansprüche beurteilt wird, von großer praktischer Bedeutung für die Anspruchsformulierung und für Anmeldestrategien.

Außerdem ist der Kammer ein weiteres anhängiges Beschwerdeverfahren bekannt (T 624/14-3402, europäisches Patent Nr. 2 157 457), in dem beantragt worden ist, die Große Beschwerdekammer mit Rechtsfragen zur Priorität eines generischen “ODER”-Anspruchs zu befassen (s. Vorbringen der Beschwerdegegnerin vom 30. Oktober 2014). Wie im vorliegenden Fall, so ist auch dort ein in der Stammanmeldung offenbarter Gegenstand einem Anspruchsgegenstand des Patents, das auf eine Teilanmeldung erteilt wurde, als neuheitsschädlich nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehalten worden.

Verwiesen wird außerdem auf die folgenden Publikationen, die belegen, wie bedeutsam die Frage der Teilpriorität für die interessierten Kreise ist und wie kontrovers sie diskutiert wird:

D30: D. Pearce et al., “Opposing views on partial priority”, CIPA, Dezember 2013, S. 716 – 720;

D31: M. Lawrence, “The Doctrine of Partial and Multiple Priorities, especially from the standpoint of Toxic Priority”, epi information, 1/2015, S. 23 – 35.

17.2.3 Divergierende Rechtsprechung

Wie der obigen Analyse der Rechtsprechung vor und nach G 2/98 zu entnehmen ist, sind bei der Beurteilung der Frage, ob für einen generischen “ODER”-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist, die rechtlichen Bestimmungen nicht einheitlich angewendet worden. Vor allem nach der Stellungnahme G 2/98 haben sich zwei divergierende Ansätze entwickelt, die beide von dem vor G 2/98 verfolgten Ansatz abweichen. Diese beiden Ansätze basieren auf unterschiedlichen Auslegungen der im letzten Satz von Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme G 2/98 aufgestellten Bedingung.

i) Rechtsprechung vor G 2/98

Teilpriorität wurde einem generischen “ODER”-Anspruch insoweit zuerkannt, als er einen im Prioritätsdokument direkt – oder zumindest implizit – und eindeutig offenbarten Gegenstand umfasst (s. oben T 85/87, T 352/97 und T 395/95). Der wirksame Tag des Gegenstands, den der Anspruch als Alternative umfasst und auf den sich der angeführte Stand der Technik bezieht, wurde ausgehend von einem Vergleich des Anspruchs mit dem Inhalt des Prioritätsdokuments bestimmt. Folglich konnte z. B. ein und dieselbe europäische Patentanmeldung einem Gegenstand, der vom Anspruch generisch umfasst und im Prioritätsdokument offenbart war, als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehalten werden und den übrigen Teilen des Anspruchs als Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ (T 395/95). Die Kammer weist darauf hin, dass diese Entscheidungen nicht auf einer Analyse des generischen “ODER”-Anspruchs im Hinblick auf Zahl und Klarheit der von ihm umfassten alternativen Gegenstände, einschließlich der nicht im Prioritätsdokument offenbarten, beruhten.

ii) G 2/98

Die Große Beschwerdekammer beanstandete in G 2/98 den vorstehenden Ansatz der früheren Entscheidungen bei der Zuerkennung einer Teilpriorität nicht. Unter Nummer 6.7 der Begründung ihrer Stellungnahme erklärte sie mit Bezug auf das Memorandum: “Die Verwendung eines generischen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäß Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ mehrere Prioritäten beansprucht werden, ist nach den Artikeln 87 (1) und 88 (3) EPÜ durchaus akzeptabel, sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird.” Doch weder unter Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme noch irgendwo sonst in G 2/98 findet sich eine ausdrückliche Bezugnahme auf einen generischen “ODER”-Anspruch, für den eine Teilpriorität beansprucht wird. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin scheint es fragwürdig, ob die Bedingung “sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird” (nachfolgend: “die in G 2/98 aufgestellte Bedingung”) als Maßstab der rechtlichen Beurteilung der Frage anwendbar ist, ob für einen generischen “ODER”-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist. Zudem ist in G 2/98, wie von den Beteiligten ebenfalls betont, nicht näher erläutert, wie die Kriterien “beschränkte Zahl” und “eindeutig definierte alternative Gegenstände” zu verstehen sind. In G 2/98 ist augenscheinlich nicht ausdrücklich angegeben, ob alle oder nur einige der verschiedenen Arten generischer “ODER”-Ansprüche, die im Memorandum unter den Beispielen a, b und c analysiert wurden, diese Kriterien tatsächlich erfüllen und ihnen somit Teilpriorität zukommt (Hervorhebungen durch die Kammer).

iii) Rechtsprechung nach G 2/98

– Der vor G 2/98 verfolgte Ansatz scheint auch später noch angewendet worden zu sein, wobei in einigen Fällen G 2/98 sogar gänzlich unberücksichtigt blieb (s. oben T 135/01) und in anderen nicht ausdrücklich geprüft wurde, ob der Anspruch insoweit die in G 2/98 aufgestellte Bedingung erfüllt, als er auch im Prioritätsdokument nicht offenbarte Gegenstände und/oder nicht angefochtene Gegenstände umfasst.

– Gemäß einem ersten Ansatz, der in der Rechtsprechung nach G 2/98 entwickelt wurde (s. oben T 1127/00, T 1877/08 und T 476/09), verweigerten die Beschwerdekammern die Teilpriorität mit Verweis auf die Kriterien der in G 2/98 aufgestellten Bedingung, ohne jedoch ausdrücklich die vergleichbaren Beispiele aus dem Memorandum zu berücksichtigen, also auf Beispiel a betreffend die Erweiterung chemischer Formeln und Beispiel b betreffend die Erweiterung eines Konzentrationsbereichs. In Nestec SA ./. Dualit Ltd (s. oben) wurde die in G 2/98 aufgestellte Bedingung auch als Vorbedingung für die Zuerkennung einer Teilpriorität angewendet. Selbst eine Teilpriorität wurde verweigert, weil die weiteren, vom Anspruch umfassten, aber im Prioritätsdokument nicht offenbarten Alternativen nicht ausreichend klar zu unterscheiden gewesen seien.

– Beim zweiten in der Rechtsprechung nach G 2/98 entwickelten Ansatz (s. T 1222/11 und T 571/10) scheint die in G 2/98 aufgestellte Bedingung ebenfalls als Maßstab für die rechtliche Beurteilung des Rechts auf Teilpriorität aufgefasst, aber anders ausgelegt worden zu sein als beim ersten Ansatz (T 1127/00, T 1877/08 und T 476/09). Gemäß diesem zweiten Ansatz müssen die “eindeutig definierten alternativen Gegenstände” im Anspruch nicht eigens genannt sein. Es genügt vielmehr, dass durch einen Vergleich des generischen “ODER”-Anspruchs mit dem Prioritätsdokument eine beschränkte Zahl solcher alternativen Gegenstände abstrakt ermittelt werden kann. Alternativen Gegenständen, die im Prioritätsdokument offenbart sind, kann somit eine Teilpriorität zuerkannt werden. Die übrigen Gegenstände des generischen “ODER”-Anspruchs werden so behandelt, als bildeten sie alle zusammen eine Alternative.

Der Kammer ist auch die Entscheidung T 2406/10 vom 13. Januar 2015 bekannt, in der die Teilpriorität mit Verweis auf die in G 2/98 aufgestellte Bedingung und unter besonderer Betonung des Kriteriums der “beschränkten Zahl” verweigert wurde (Nr. 3.2.2 der Entscheidungsgründe). Dem zweiten nach G 2/98 entwickelten Ansatz aus den jüngeren Entscheidungen T 1222/11 und T 571/10 wurde nicht gefolgt. Somit konvergiert die Rechtsprechung nach wie vor nicht, was die Notwendigkeit einer Befassung der Großen Beschwerdekammer noch unterstreicht.

17.2.4 Erforderlichkeit einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer

Je nachdem, welchen der vorstehenden Ansätze man anwendet, würde man im vorliegenden Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf die Teilpriorität und damit die Neuheit gelangen:

i) Eine Anwendung des vor G 2/98 entwickelten Ansatzes (z. B. T 85/87, T 135/01) könnte zu einer Anerkennung der Teilpriorität für Anspruch 1 führen, insoweit er sich auf die im Prioritätsdokument D16 offenbarte spezielle Verwendung bezieht. Nach diesem Ansatz müsste nicht geprüft werden, wie klar die alternativen, nicht im Prioritätsdokument offenbarten Gegenstände unterschieden werden können und zählbar sind.

ii) Würde stattdessen einer der nach G 2/98 entwickelten Ansätze verfolgt, dürfte die Entscheidung über eine Teilpriorität davon abhängen, wie die Kriterien der in G 2/98 aufgestellten Bedingung angewendet werden:

– Der erste (wörtliche) Ansatz könnte zu einer Nichtanerkennung einer Teilpriorität für Anspruch 1 führen, da dieser eine praktisch unbegrenzte Zahl alternativer Verbindungen umfasst, die nicht eigens genannt sind. Die beiden Erweiterungen in Form von Kontinua numerischer Werte könnten die Identifikation klar unterscheidbarer Alternativen zusätzlich verkomplizieren.

– Der zweite (abstrakte oder begriffliche) Ansatz könnte dagegen – wie der vor G 2/98 entwickelte Ansatz – zu einer Anerkennung einer Teilpriorität für Anspruch 1 führen, insoweit er die im Prioritätsdokument D16 offenbarte Verwendung der Verbindung aus Beispiel 1 umfasst.

Somit muss für den vorliegenden Fall geklärt werden, welcher Ansatz richtigerweise zu befolgen ist.

17.3 Formulierung der Vorlagefragen

Die Vorlagefragen 1 bis 4 wurden so formuliert, dass sie die grundsätzliche Bedeutung von Fragen der Teilpriorität widerspiegeln, die nicht nur in Fällen einer sogenannten “toxischen Priorität” oder “giftigen Teilanmeldung” (vorliegender Fall), sondern immer dann auftreten können, wenn es einen potenziell relevanten Stand der Technik nach Artikel 54 (3) oder (2) EPÜ gibt.

Die Fragen befassen sich auch damit,

– ob die in G 2/98 aufgestellte Bedingung überhaupt anwendbar ist für die Prüfung des Rechts auf Teilpriorität bei generischen “ODER”-Ansprüchen im Gegensatz zu Ansprüchen mit mehreren Prioritäten (s. auch T 1222/11, Nr. 11.5.1 der Entscheidungsgründe; D25, S. 17, linke Spalte, Zln. 22 – 35) und

– ob, sollte diese Bedingung anwendbar sein, alle denkbaren von dem generischen “ODER”-Anspruch umfassten Alternativen, die im Prioritätsdokument nicht offenbart sind, zusammen als eine Alternative angesehen werden können, wie in T 1222/11, Nr. 11.5.5 der Entscheidungsgründe und T 571/10, Nrn. 4.5.9 und 4.9.14 der Entscheidungsgründe geschehen (s. auch D25, S. 18, rechte Spalte, vorletzter Satz, Zln. 15 – 19).

18. Vorlagefrage betreffend Artikel 54 (3) EPÜ

18.1 Erfordernisse des Artikels 112 (1) a) EPÜ

18.1.1 Anträge der Beteiligten

Mit den Anträgen der Beteiligten stimmt die Kammer in folgender Hinsicht überein: Sollte die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss kommen, dass die Teilpriorität in Bezug auf Gegenstände verweigert werden kann, die von einem generischen “ODER”-Anspruch als Alternative umfasst werden und im Prioritätsdokument offenbart sind (s. unten Frage 1), könnte es für den vorliegenden Fall entscheidend werden, ob die Stammanmeldung D1 dem Anspruch 1 des angefochtenen Teilpatents als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehalten werden kann.

18.1.2 Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung

Die Frage der Anwendbarkeit von Artikel 54 (3) EPÜ in Fällen potenziell kollidierender europäischer Stamm- und Teilanmeldungen hängt eng mit den vorangehenden Fragen zusammen, da sie ebenfalls Prioritätsaspekte berührt. Schließlich können zwei europäische Anmeldungen ein und derselben Familie von Stamm-/Teilanmeldungen nur kollidieren, wenn die Priorität einer früheren Anmeldung beansprucht wird. Anderenfalls teilen sich Stamm- und Teilanmeldungen zwangsläufig den Anmeldetag der Stammanmeldung als wirksames Datum (Art. 76 (1) EPÜ). Daher ist die Anwendbarkeit des Artikels 54 (3) EPÜ nach Auffassung der Kammer ebenfalls eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, die weitreichende praktische Auswirkungen hat, z. B. in Fällen, in denen eine Teilanmeldung als Reaktion auf einen Einwand mangelnder Einheitlichkeit eingereicht wird.

18.1.3 Gegensätzliche Standpunkte

Der Kammer ist nur die von der Einspruchsabteilung in der hier angefochtenen Entscheidung angezogene Entscheidung T 1496/11 (s. oben) bekannt, in der Artikel 54 (3) EPÜ in einer derartigen Situation (Anführung der Teilanmeldung gegen die Stammanmeldung) angewendet wurde. Diese Entscheidung hat in den interessierten Kreisen große Aufmerksamkeit erregt. Wie kontrovers die Debatte in dieser Frage geführt wird, zeigt sich in der jüngsten Flut von Publikationen, darunter D20 (letzte vier Absätze), D21 (Nrn. 3.8 – 3.10), D22, D23, D27 (Nrn. II.1, II.2 und IV) sowie D31 (Nr. 1.6.6 und Fußnote 37).

Mit Bezug auf die Anwendbarkeit des Artikels 54 (3) EPÜ In diesem Zusammenhang wurden von den Beteiligten und in der Literatur insbesondere folgende Argumente vorgebracht:

i) Argumente dafür

– Weder der Wortlaut des Artikels 54 (3) EPÜ selbst noch der des Artikels 55 EPÜ über unschädliche Offenbarungen schließt aus, dass Mitglieder einer Familie europäischer Stamm-/Teilanmeldungen einander als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehalten werden können.

– Ein solcher Ausschluss würde Anmeldern, die eine Teilanmeldung zu einer Stammanmeldung einreichen, welche die Priorität einer früheren Anmeldung beansprucht, einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber den Anmeldern verschaffen, die parallele europäische Anmeldungen einreichen, welche die Priorität derselben früheren Anmeldung beanspruchen.

– Eine europäische Teilanmeldung, die die Priorität einer früheren Anmeldung genießt, ist eine nach Artikel 54 (3) EPÜ anführbare europäische Anmeldung, da Stamm- und Teilanmeldungen nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern voneinander unabhängig sind (s. G 1/05, T 441/92, T 1177/00).

ii) Argumente dagegen

– Der Gesetzgeber hat nicht vorausgesehen, dass die Einreichung einer Teilanmeldung rückwirkend einen (fiktiven) Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ schaffen könnte, der einen früheren Prioritätstag als deren eigene Stammanmeldung haben und dieser somit entgegengehalten werden könnte.

– Der Standpunkt, dass derselben Familie von Stamm-/Teilanmeldungen angehörende europäische Anmeldungen nicht nach Artikel 54 (3) EPÜ kollidieren können, scheint sich auch widerzuspiegeln in “Europäisches Patentübereinkommen”, Münchner Gemeinschaftskommentar, 8. Aufl., Januar 1986, Art. 76 (1) EPÜ/Bossung, Rdnrn. 131 – 134.

– Zudem wird dies als Verstoß gegen die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft empfunden (s. z. B. auch D25, S. 16, letzter Absatz).

– Aufgrund ihres besonderen Verhältnisses zueinander kann eine europäische Teilanmeldung der Stammanmeldung nicht nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehalten werden: der Ausgangsgegenstand ist derselbe, die Teilanmeldung kann keinen gegenüber der Stammanmeldung erweiterten Gegenstand enthalten, sie gilt als am selben Tag wie die frühere Anmeldung eingereicht und genießt deren Prioritätsrecht (Art. 76 (1) EPÜ).

18.1.4 Anmerkungen der Kammer

i) In anderen Fällen einer potenziellen Kollision zweier verwandter europäischer Anmeldungen besteht dieses besondere Verhältnis nicht, weder bei parallelen europäischen Anmeldungen, die die Priorität ein und derselben früheren Anmeldung beanspruchen (wie in T 571/10), noch bei einer europäischen Anmeldung und ihrer europäischen Prioritätsanmeldung (wie in T 1443/05), wo mitunter auch von einer “toxischen” oder “giftigen Priorität” gesprochen wird.

ii) Obwohl die Große Beschwerdekammer sich in G 3/93 (ABl. EPA, 1995, 18), G 2/98 (Nr. 8.1 der Begründung der Stellungnahme), G 1/03 (ABl. EPA, 2005, Nrn. 2.1 bis 2.13 der Entscheidungsgründe) und G 1/05 (Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe) mit Fragen bezüglich Priorität, Teilanmeldungen und/oder Artikel 54 (3) EPÜ befasst hat, wird in keiner dieser Stellungnahmen bzw. Entscheidungen auf die spezielle Frage eingegangen, ob eine Stammanmeldung und eine daraus hervorgegangene Teilanmeldung in Bezug zueinander als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ angesehen werden können.

18.2 Formulierung der Vorlagefragen

Die Kammer hat die Frage breiter formuliert, als von den Beteiligten vorgeschlagen, weil sie der Auffassung ist, dass eine potenzielle Kollision nach Artikel 54 (3) EPÜ zwischen beliebigen zwei Mitgliedern einer Familie europäischer Stamm-/Teilanmeldungen auftreten kann.

19. Keine Vorlagefrage betreffend Artikel 76 (1) EPÜ

19.1 Aus den folgenden Gründen hält die Kammer es nicht für sachdienlich, die Große Beschwerdekammer mit einer Frage zu befassen, die auf die Wirkung des Artikels 76 (1) EPÜ abhebt.

19.2 Die Kammer ist der Auffassung, dass gemäß der Pariser Verbandsübereinkunft und dem EPÜ für einen in einer Erstanmeldung in einem PVÜ-Vertragsstaat offenbarten konkreten Gegenstand ein Prioritätsrecht begründet wird und der diesem Gegenstand zustehende Prioritätstag nicht verloren gehen darf, wenn dieser Gegenstand Teil einer Anmeldung wird, die aus einer (Stamm-)Anmeldung ausgeschieden wird, welche die Priorität der Erstanmeldung beansprucht.

Dennoch kann, wie z. B. in G 2/98 bestätigt (Nr. 4 der Begründung der Stellungnahme, dritter Absatz), einem Anspruch die Priorität verweigert werden, wenn sein Gegenstand nicht in der Anmeldung offenbart war, deren Priorität beansprucht wird, d. h. aus materiellrechtlichen Gründen. Dies sollte wohl auch im Falle eines Anspruchs einer Teilanmeldung oder des darauf erteilten Patents gelten, der die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllt (Verbot der Erweiterung des Gegenstands über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus).

19.3 Im vorliegenden Fall dürfte sich eine Frage zu Artikel 76 (1) EPÜ, wie sie von den Beteiligten vorgeschlagen wurde, erübrigen, sollte die Vorlagefrage 1 verneint werden. Wird die Vorlagefrage 1 dagegen bejaht, könnte die Argumentation der Großen Beschwerdekammer in Bezug auf die fünf Vorlagefragen eine gesonderte Frage zu Artikel 76 (1) EPÜ ebenso überflüssig machen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

1. Wenn ein Anspruch einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer “ODER”-Anspruch), kann dann nach dem EPÜ für diesen Anspruch das Recht auf Teilpriorität bezüglich eines alternativen Gegenstands verweigert werden, der im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit – und eindeutig (ausführbar) offenbart ist?

2. Lautet die Antwort ja, unter bestimmten Bedingungen, ist dann die in Nummer 6.7 von G 2/98 aufgestellte Bedingung “sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird” als Maßstab der rechtlichen Beurteilung der Frage, ob für einen generischen “ODER”-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist, heranzuziehen?

3. Falls Frage 2 bejaht wird, wie sind dann die Kriterien “beschränkte Zahl” und “eindeutig definierte alternative Gegenstände” auszulegen und anzuwenden?

4. Falls Frage 2 verneint wird, wie ist dann zu beurteilen, ob für einen generischen “ODER”-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist?

5. Kann im Fall einer zustimmenden Antwort auf Frage 1 ein in einer Stamm- oder Teilanmeldung zu einer europäischen Patentanmeldung offenbarter Gegenstand als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ einem Gegenstand entgegengehalten werden, der im Prioritätsdokument offenbart ist und als Alternative von einem generischen “ODER”-Anspruch dieser europäischen Patentanmeldung oder des darauf erteilten Patents umfasst wird?