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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2008:T131904.20080422
Datum der Entscheidung: 22 April 2008
Aktenzeichen: T 1319/04
Anmeldenummer: 94306847.8
IPC-Klasse: A61K 31/445
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE | EN | FR
Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: Kos Life Sciences, Inc.
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
1. Wenn die Verwendung eines bestimmten Arzneimittels bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit bereits bekannt ist, kann dieses bekannte Arzneimittel dann gemäß den Bestimmungen der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 zur Verwendung bei einer anderen, neuen und erfinderischen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert werden?
2. Wenn Frage 1 bejaht wird, kann auch dann ein Patent erteilt werden, wenn das ein zige neue Merkmal der Behandlung eine neue und erfinderische Dosierungsanleitung ist?
3. Müssen bei der Auslegung und Anwendung der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 besondere Betrachtungen angestellt werden?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 53(c)
European Patent Convention Art 54(5)
European Patent Convention 1973 Art 52(4)
European Patent Convention 1973 Art 54(5)
Schlagwörter: Zulässigkeit einer Dosierungsanleitung – nach den Artikeln 52 (4) und 54 (5) EPÜ 1973 sowie nach den Artikeln 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 – Befassung der Großen Beschwerdekammer
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0005/83
T 0019/86
T 0290/86
T 0570/92
T 0051/93
T 0317/95
T 0056/97
T 0584/97
T 0004/98
T 0485/99
T 1020/03
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1287/05
T 0174/07
T 0294/07
T 0108/09

Sachverhalt und Anträge

I. Die unter der Nr. EP 643 965 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 94 306 847.8 wurde durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 25. September 2003 wegen mangelnder Neuheit gemäß Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973 und Nichterfüllung der Erfordernisse des Artikels 52 (4) EPÜ 1973 zurückgewiesen.

II. Der Entscheidung lag der Satz aus 7 Ansprüchen zugrunde, der am 25. September 2003 in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung eingereicht worden war. Der unabhängige Anspruch 1 lautet wie folgt:

1. Verwendung von Nicotinsäure oder einer aus der Gruppe d-Glucitolhexanicotinat, Aluminiumnicotinat, Niceritrol, d-1-alpha-Tocopherylnicotinat und Nicotinylalkoholtartrat ausgewählten Verbindung, die vom Körper zu Nicotinsäure umgewandelt wird, zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung einmal täglich vor dem Schlafengehen, dadurch gekennzeichnet, dass das Arzneimittel nicht folgende Mischung umfasst: 5 – 30 % Hydroxypropylmethylcellulose, 2 – 15 % eines wasserlöslichen pharmazeutischen Bindemittels, 2 – 20 % einer hydrophoben Komponente und 30 – 90 % Nicotinsäure.

III. In den Entscheidungsgründen im Verfahren vor der Prüfungsabteilung und im schriftlichen Verfahren vor der Beschwerdekammer wurden unter anderem folgende Dokumente angeführt:

(1) EP-A-577 504

(2) US-A-5 126 145

(3) JP-A-63 310 827 (als WPI-Zusammenfassung angeführt; englische Übersetzung von der Anmelderin eingereicht)

(4) JP-A-5 221 854 (als WPI-Zusammenfassung angeführt)

(5) J.Clin.Invest., Bd. 52(3), 1973, 732 – 740

(6) EP-A-349 235

(11) The American Journal of Medicine, 93 1992, 102 – 104

(12) The Journal of Family Practice, 34, 1992, 313 – 319

(13) Southern Medical Journal, 84, 1991, 496 – 497

(14) Metabolism, 34, 1985, 642 – 650

(15) J. Cardiovasc. Pharmacol. Therapeut., 1, 1996, 195 – 202

(16) Arch. Biochem. Biophys., 54, 1955, 558 – 559

(17) JAMA, Bd. 261(24), 23. – 30. Juni 1989, 3582 – 3587

(18) Am. J. Med., 91, September 1991, 239 – 246

(19) JAMA, Bd. 271(9), 2. März 1994, 672 – 677

(20) American Journal of Medicine, Bd. 92, Januar 1992, 77 – 81

(21) Präsentation von Dr. Eugenio Cefali, von der Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegründung eingereicht

Dokument 15 gehört nicht zum Stand der Technik und wurde nur wegen der darin enthaltenen Bezugnahmen auf den Stand der Technik angeführt.

Dokument 19 ist eine Nachveröffentlichung und bleibt in dieser Entscheidung unberücksichtigt.

Dokument 21 gehört nicht zum Stand der Technik. Es enthält Versuchsdaten, die für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant sind.

IV. Wie in der angefochtenen Entscheidung dargelegt, ist nach Auffassung der Prüfungsabteilung der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 und der von ihm abhängigen Ansprüche 2 bis 7 durch die Offenbarung in den Dokumenten 2 bis 4 vorweggenommen, in denen die Verwendung von Nicotinsäure zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung vorgeschlagen wird (Nr. 33 der Entscheidungsgründe).

Diesbezüglich argumentierte die Prüfungsabteilung, insbesondere unter Verweis auf die Entscheidungen T 317/95 und T 584/97, dass dem Merkmal in Anspruch 1, das sich auf eine spezielle Dosierungsanleitung eines Medikaments beziehe, nämlich einmal täglich vor dem Schlafengehen, eine medizinische Tätigkeit zugrunde liege, die nach Artikel 52 (4) EPÜ 1973 von der Patentierung ausgeschlossen sei und somit nicht als neuheitsbegründende weitere medizinische Indikation betrachtet werden könne (Nrn. 27 und 28 der Entscheidungsgründe).

Im Einklang mit den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 der Großen Beschwerdekammer steht nach Auffassung der Prüfungsabteilung der Disclaimer in Anspruch 1 in Bezug auf die kollidierende europäische Patentanmeldung 1, in der ein Arzneimittel zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung nach dem Abendessen und vor dem Zubettgehen offenbart wird, das folgende Mischung umfasst: 5 – 30 % Hydroxypropylmethylcellulose, 2 – 15 % eines wasserlöslichen pharmazeutischen Bindemittels, 2 – 20 % einer hydrophoben Komponente und 30 – 90 % Nicotinsäure (Nr. 15 der Entscheidungsgründe).

V. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) legte Beschwerde gegen diese Entscheidung ein.

Mit der Beschwerdebegründung reichte sie einen Haupt- und einen Hilfsantrag ein.

Der Anspruchssatz des Hauptantrags ist bis auf die Streichung der abhängigen Ansprüche 6 und 7 identisch mit dem der Prüfungsabteilung vorliegenden Anspruchssatz.

VI. Die Beschwerdeführerin machte schriftlich geltend, dass die Offenbarung in den Dokumenten 2 bis 4 nicht neuheitsschädlich sei, weil keines dieser Dokumente die spezielle Dosierungsanleitung aus Anspruch 1 offenbare, nämlich “einmal täglich vor dem Schlafengehen”.

Ferner brachte sie vor, dass dieses Merkmal nicht nur neuheitsbegründend sei, sondern auch nicht durch Artikel 52 (4) EPÜ 1973 ausgeschlossen werde.

Dabei verwies sie insbesondere auf die Entscheidung T 1020/03, wonach Ansprüche in der Anspruchsform einer zweiten medizinischen Verwendung gemäß dem Wortlaut von Artikel 52 (4) EPÜ 1973 und der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer weitgehend zuzulassen sind und eine Einschränkung des auf Neuheit zu prüfenden Bereichs nicht erforderlich ist.

Zur erfinderischen Tätigkeit trug sie vor, dass durch die Wahl des Zeitpunkts der Verabreichung von Niacin, nämlich einmal täglich vor dem Schlafengehen, allgemein bekannte Nebenwirkungen vermindert oder ausgeschaltet würden.

Da im verfügbaren Stand der Technik keinerlei Hinweise zu finden seien, dass der Verabreichungszeitpunkt überhaupt eine Rolle spiele, sei der beanspruchte Gegenstand nach Ansicht der Beschwerdeführerin nicht naheliegend.

Dies treffe umso mehr zu, als die einzige vorgeschlagene Lösung zur Vermeidung von schweren Nebenwirkungen, die bei der Dosierungsanleitung ansetze, darin bestehe, die Dosis zu verringern oder Niacin ganz abzusetzen.

VII. Mit Schreiben vom 9. November 2004 beantragte die Beschwerdeführerin eine Beschleunigung des Beschwerdeverfahrens.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte schriftlich Folgendes:

1. Aufhebung der Entscheidung und Erteilung der Anmeldung mit den Ansprüchen des Hauptantrags

2. Hilfsweise Erteilung der Anmeldung mit den Ansprüchen des Hilfsantrags

3. Sollte die Kammer dem Antrag nach 1 oder 2 nicht stattgeben wollen, Vorlage der folgenden Fragen an die Große Beschwerdekammer:

1. Kann das Fehlen von Nebenwirkungen als technischer Beitrag zum Stand der Technik oder alternativ als technische Wirkung betrachtet werden, die der bekannten Behandlung eines bestimmten pathologischen Zustands Neuheit verleihen kann?

2. Sind alle Dosierungsanleitungen für Arzneimittel nach Artikel 52 (4) EPÜ 1973 von der Patentierbarkeit ausgeschlossen?

Ein Antrag auf mündliche Verhandlung wurde nur für den Fall gestellt, dass die Kammer eine Entscheidung zuungunsten der Beschwerdeführerin in Betracht zieht.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Materiellrechtliche Prüfung der Anmeldung

Hauptantrag

2.1 Artikel 84 EPÜ und Artikel 123 (2) EPÜ

Die Prüfungsabteilung hatte gegen die Ansprüche dieses Antrags keinen Einwand wegen mangelnder Klarheit oder hinzugefügter Gegenstände erhoben, und die Kammer sieht prima facie keinen Grund, von dieser Auffassung abzuweichen.

Aus dem Merkmal in Anspruch 1 “einmal täglich vor dem Schlafengehen” leitet der Fachmann im Besonderen ab, dass der Patient das Arzneimittel einnehmen muss, bevor er zu Bett geht.

Dieser vernünftigen Auslegung des Merkmals steht die allgemeine Definition in der Beschreibung der Anmeldung nicht entgegen, wonach die Nicotinsäure enthaltende Zusammensetzung während der Behandlung “vor jedem regelmäßigen physiologisch bedingten Bewusstseinsverlust” eingenommen wird (A1-Schrift, S. 3, Z. 18 und 19).

2.2 Artikel 54 EPÜ

2.2.1 In Bezug auf den Neuheitseinwand der Prüfungsabteilung hinsichtlich der Dokumente 2 bis 4 stimmt die Kammer zu, dass die Dokumente 2 und 3 die Verwendung von Nicotinsäure bzw. Niceritrol zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung offenbaren ((2), Sp. 5, Z. 54 – 60; WPI-Zusammenfassung von (3)).

Da die Behandlung von Hyperlipidämie tatsächlich die einzige bekannte therapeutische Anwendung von Nicotinsäure ist, konnte die Prüfungsabteilung zu Recht davon ausgehen, dass diese Behandlungsmethode für den Fachmann implizit in den Dokumenten 2 und 3 offenbart ist, obwohl sie weder in Dokument 2 noch in der Zusammenfassung von (3) ausdrücklich erwähnt wird.

Jedoch wird in diesen Dokumenten nicht die spezielle Dosierungsanleitung gemäß Anspruch 1 offenbart, nämlich “einmal täglich vor dem Schlafengehen”.

So enthält Dokument 2 Tabellen, in denen Dosen von 250, 500 und 750 mg offenbart werden, sowie die Angabe, dass Niacin zweimal am Tag verabreicht wird (Sp. 5, Z. 58 – 60).

In der englischen Übersetzung des Dokuments 3 wird keine Dosierungsanleitung erwähnt. Es wird lediglich offenbart, dass Niceritrol, eine biologische Vorstufe von Nicotinsäure, nach dem Essen eingenommen wird, ohne dass darauf jedoch näher eingegangen wird (S. 8, Testbeispiel 3).

In diesem Zusammenhang stellt die Kammer auch fest, dass Testbeispiel 3 primär auf die Untersuchung der Häufigkeit von “Flush”-Reaktionen als Nebenwirkungen gerichtet war und nicht auf eine Behandlung.

Das japanische Dokument 4 entspricht Dokument 2, sodass für die zugehörige WPI-Zusammenfassung dieselbe Feststellung gilt, nämlich dass die spezielle Dosierungsanleitung gemäß Anspruch 1 “einmal täglich vor dem Schlafengehen” darin nicht offenbart ist.

2.2.2 Wie aus den folgenden Ausführungen hervorgeht, wird diese spezielle Dosierungsanleitung auch in keinem der übrigen verfügbaren Dokumente offenbart:

Dokument 5 betrifft die intravenöse Infusion von Nicotinsäure.

Dokument 6 offenbart ein Nicotinsäure enthaltendes Retardarzneimittel zur oralen Verabreichung, das der Patient dreimal täglich einzunehmen hat (S. 4, Z. 24).

Dokument 11 bezieht sich auf eine Studie über Hepatotoxizität in Zusammenhang mit einem Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimittel zur Behandlung von Hyperlipidämie. Es enthält keine Angaben über eine Dosierungsanleitung.

Dokument 12 betrifft eine klinische Studie zu einem Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimittel, das zwei- oder dreimal täglich eingenommen wird (S. 317, linke Spalte, erster Absatz).

Dokument 13 enthält einen Bericht über Nebenwirkungen, die bei der Behandlung mit einem Nicotinsäure enthaltenden Retardpräparat auftreten können. Als Dosierungsanleitung wird dreimal täglich angegeben (S. 496, Z. 1 – 3, unter “Case report”).

Dokument 14 betrifft eine klinische Studie zu einem Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimittel. Das Medikament wurde den Patienten dreimal täglich verabreicht (S. 643, zweiter Absatz, erster Satz).

Dokument 16 betrifft nicht die Retardformulierung von Nicotinsäure, und die angegebene Dosierungsanleitung lautet viermal täglich (S. 558, dritter Absatz, Z. 21 und 22).

Dokument 17 beschreibt die Einnahme des Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimittels dreimal täglich (S. 3585, dritte Spalte, Z. 13 und 14).

Dokument 18 bezieht sich sowohl auf ein Nicotinsäure enthaltendes Arzneimittel mit verzögerter Freisetzung als auch auf ein Nicotinsäure enthaltendes Arzneimittel mit sofortiger Freisetzung. Es offenbart, dass man bei der sofort wirkenden Formulierung mit einer niedrigen Dosis zum Frühstück beginnt und nach und nach auf eine höhere Dosierung mit vier Einzeldosen übergeht (S. 240, rechte Spalte, Z. 2 – 5). Beim Retardarzneimittel wird die Dosierungsanleitung jedoch nicht erwähnt.

Dokument 20 beschreibt ebenfalls ein Nicotinsäure enthaltendes Arzneimittel mit verzögerter Freisetzung und ein Nicotinsäure enthaltendes Arzneimittel mit sofortiger Freisetzung. In Bezug auf die Dosierungsanleitung wird die Veröffentlichung “U.S. Pharmacopeia Drug Information for Health Care Professionals” zitiert, wonach die Retardformulierung zweimal täglich eingenommen wird, nämlich morgens und abends (S. 81, linke Spalte, zweiter Absatz).

Darüber hinaus wird in diesem Dokument ohne Angaben zur Formulierung des Arzneimittels offenbart, dass die Behandlung in der Regel mit einer einzigen subtherapeutischen Dosis beginnt und die Einnahmefrequenz sowie die tägliche Gesamtdosis allmählich auf eine erste therapeutische Dosis erhöht werden (S. 77, rechte Spalte, zweiter Absatz, erster und zweiter Satz).

2.2.3 Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit, dass das Merkmal in Anspruch 1 – “einmal täglich vor dem Schlafengehen” – durch die Vorveröffentlichungen nicht vorweggenommen wird.

2.3 Da die vorliegende Anmeldung am 13. Dezember 2007, dem Tag des Inkrafttretens des EPÜ 2000, anhängig war und noch keine Entscheidung über die Erteilung des Patents wirksam geworden war, sind gemäß dem Beschluss des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des Europäischen Patentübereinkommens vom 29. November 2000, Artikel 1 und 3, die Bestimmungen der Artikel 53 c) sowie 54 (4) und (5) EPÜ 2000 anzuwenden und nicht mehr die der Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ 1973, die anwendbar waren, als die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung getroffen hat.

2.3.1 Artikel 53 und 54 EPÜ 2000 haben, soweit maßgebend, folgenden Wortlaut:

Artikel 53 – Ausnahmen von der Patentierbarkeit

Europäische Patente werden nicht erteilt für:

a) …

b) …

c) Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden. Dies gilt nicht für Erzeugnisse, insbesondere Stoffe oder Stoffgemische, zur Anwendung in einem dieser Verfahren.

Artikel 54 – Neuheit

(5) Ebenso wenig wird die Patentierbarkeit der in Absatz 4 genannten Stoffe oder Stoffgemische zur spezifischen Anwendung in einem in Artikel 53 c) genannten Verfahren durch die Absätze 2 und 3 ausgeschlossen, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört.

2.3.2 Die Antwort auf die Frage, ob das Merkmal in Anspruch 1 – “einmal täglich vor dem Schlafengehen” – nach Artikel 54 (5) EPÜ 2000 als eine spezifische Anwendung in einem in Artikel 53 c) genannten, nicht zum Stand der Technik gehörenden Verfahren betrachtet werden kann oder nicht, dürfte für den Ausgang der vorliegenden Sache von entscheidender Bedeutung sein, weil im Fall einer positiven Antwort aus den nachstehenden Gründen auch die erfinderische Tätigkeit und die gewerbliche Anwendbarkeit (Art. 56 und 57 EPÜ 2000) anerkannt werden könnten.

2.4 Artikel 56 EPÜ

2.4.1 Die Anmeldung betrifft die Behandlung von Hyperlipidämie mit einem oral zu verabreichenden Retardarzneimittel, das Nicotinsäure enthält, dadurch gekennzeichnet, dass es “einmal täglich vor dem Schlafengehen” eingenommen wird (A1-Schrift, Anspruch 1, S. 2, erster Absatz, S. 3, Z. 15 – 19).

2.4.2 Laut der Beschreibung gelang es dank der Entwicklung einer Retardformulierung eines Nicotinsäure enthaltenden Arzneimittels, Flush-Nebenwirkungen zu vermeiden, die bei der früher eingesetzten Formulierung von Nicotinsäure, nämlich einer sofort wirkenden Formulierung, auftraten (A1-Schrift, S. 2, Z. 23 – 29).

Dies wird durch die Dokumente 2, 3, 6, 11, 14, 18 und 20 gestützt.

In Dokument 3 heißt es, dass Nebenwirkungen wie Flush-Effekte durch die Retardformulierungen von Nicotinsäure weitgehend verhindert werden können (englische Übersetzung von (3), S. 8, unter “Effect of the Invention”).

In Dokument 6 werden Flush-Effekte aufgrund eines Guarmehl enthaltenden Retardarzneimittels verhindert (S. 6, letzter Absatz; s. a. Dokument 11, zweiter und dritter Satz der Zusammenfassung).

In Dokument 14 wird festgestellt, dass kutane Flush-Effekte durch eine Retardformulierung von Nicotinsäure minimiert werden können (erster Satz der Zusammenfassung).

In Dokument 18 wird vorgeschlagen, die sofort wirkende Formulierung durch eine Retardformulierung zu ersetzen, wenn kutane Flush-Effekte auftreten (S. 240, linke Spalte, erster Satz des letzten Absatzes).

In Dokument 20 wird erwähnt, dass Retardformulierungen von Arzneimitteln entwickelt wurden, um Flush-Reaktionen zu minimieren oder auszuschalten (S. 78, letzter Satz des ersten Absatzes).

2.4.3 In der Beschreibung der vorliegenden Anmeldung ist ferner angegeben, dass Retardformulierungen jedoch schwerere Nebenwirkungen auslösen als sofort wirkende Formen, so beispielsweise Lebertoxizität (A1-Schrift, S. 2, Z. 30 – 40).

Die Hepatotoxizität aller Retardformulierungen von Nicotinsäure ist auch in den Dokumenten 11, 12, 20 und 21 belegt.

Laut Dokument 11 deutet immer mehr darauf hin, dass die Verwendung von Retardformulierungen mit einer erhöhten Hepatotoxizität verbunden sein kann (S. 103, rechte Spalte, letzter Satz).

In Dokument 12 wird ein klinischer Versuch mit Retardformulierungen von Nicotinsäure beschrieben, bei dem erhöhte Leberenzymwerte festgestellt wurden, was ein Anzeichen für Lebertoxizität ist (S. 317, linke Spalte, zweiter Satz, unter “Discussion”; S. 318, rechte Spalte, letzter Satz des ersten Absatzes unter “Discussion”).

Dokument 20 nennt Lebertoxizität als potenzielle schwere Nebenwirkung von Nicotinsäure (S. 78, linke Spalte, vorletzter Absatz).

In Dokument 21 wird auf Folie 7 gezeigt, dass die Verabreichung einer Retardformulierung von Nicotinsäure zweimal täglich anstelle einer sofort wirkenden Formulierung einen Transaminasenanstieg verursacht; ein solcher Anstieg der Leberenzyme ist ein Anzeichen für Hepatotoxizität, was wiederum auf Lebertoxizität hindeutet (Folie 7 und S. 3 unter “Slide 7”).

2.4.4 Aus den Ausführungsbeispielen in der Beschreibung der Anmeldung geht hervor, dass eine Einnahme von einmal täglich 1 500 mg der Retardformulierung am Abend keinen Anstieg der Leberenzyme verursacht, was darauf hindeutet, dass die Leber nicht geschädigt wird (Tabellen III, IV und V).

Dies wird durch die Versuchsdaten in Dokument 21 bestätigt, aus denen hervorgeht, dass die Leberenzymwerte selbst bei einer Dosierung von 3 g täglich ebenso konstant bleiben wie bei einer sofort wirkenden Formulierung, wenn das Retardarzneimittel “einmal täglich vor dem Schlafengehen” eingenommen wird, hingegen in Abhängigkeit von der Dosierungsanleitung wesentlich ansteigen, wenn es zweimal täglich verabreicht wird.

2.4.5 Als nächstliegender Stand der Technik könnte beispielsweise Dokument 2 betrachtet werden, in dem die Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung zweimal täglich offenbart wird.

2.4.6 Ausgehend von den vorstehenden Nummern 2.4.1 bis 2.4.5 kann die gegenüber Dokument 1 zu lösende Aufgabe in der Bereitstellung einer oralen Behandlung von Hyperlipidämie mit einem Retardarzneimittel bestehen, das keine hepatotoxischen Nebenwirkungen hat.

2.4.7 Die Aufgabe wird durch ein besonderes Merkmal des Gegenstands in Anspruch 1 gelöst, das eine spezielle Dosierungsanleitung betrifft, nämlich einmal täglich vor dem Schlafengehen.

2.4.8 In Anbetracht der Ausführungsbeispiele, der Beschreibung der Anmeldung und den Versuchsdaten in Dokument 21 ist die Kammer überzeugt, dass die Aufgabe einleuchtend gelöst wurde (siehe Nr. 2.4.4 oben).

2.4.9 Nun ist zu klären, ob sich die vorgeschlagene Lösung, nämlich die Verabreichung eines Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimittels einmal täglich vor dem Schlafengehen, für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab.

2.4.10 Die Kammer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ausschließlich die Dokumente 11 und 12 Informationen über Hepatotoxizität in Verbindung mit Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimitteln umfassen.

Dokument 11 enthält jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass der Arzt die Dosierungsanleitung des Retardarzneimittels genau festlegen sollte, um Nebenwirkungen zu verringern. Es wird lediglich erwähnt, dass der Arzt zu entscheiden hat, ob Niacin überhaupt eingesetzt werden kann (S. 103, linke Spalte, vorletzter Satz).

In Dokument 12 wird vorgeschlagen, entweder die Dosis herabzusetzen oder die Behandlung abzubrechen (S. 317, linke Spalte, zweiter Satz unter “Discussion”).

In diesem Dokument wird auch ein Zusammenhang zwischen den Nebenwirkungen und der Dosierungsanleitung festgestellt, z. B. Einnahme dreimal täglich gegenüber zweimal täglich.

Jedoch ging es dabei um Magen-Darm-Beschwerden, die bei einer zweimaligen Einnahme pro Tag weniger häufig auftraten, sowie um kutane Nebenwirkungen, die durch eine dreimalige Einnahme pro Tag reduziert werden konnten (S. 317, rechte Spalte, zweiter Absatz unter “Side effects and intolerance”).

Die übrigen Dokumente sind noch weniger relevant, weil sie die Hepatotoxizität nicht behandeln und nichts darauf hindeutet, dass die Dosierungsanleitung die Nebenwirkungen beeinflussen könnte.

Wie die Kammer feststellt, wird lediglich in dem 1973 veröffentlichten Dokument 5 erwähnt, dass es vorteilhaft wäre, Niacin nachts anzuwenden, da die Lipolyse dann am aktivsten zu sein scheint (S. 739, rechte Spalte, letzter Satz).

Eine Auswirkung auf die Hepatotoxizität wird dabei aber nicht in Betracht gezogen, und es geht um intravenöse Injektionen.

So kommt die Kammer angesichts des derzeit aktenkundigen Sachverhalts zu dem Schluss, dass das Merkmal in Anspruch 1 “einmal täglich vor dem Schlafengehen” erfinderisch ist, da der Fachmann nicht in Erwägung gezogen hätte, die übliche Dosierungsanleitung bei der oralen Behandlung von Hyperlipidämie von zweimal täglich auf einmal täglich vor dem Schlafengehen zu ändern.

Tatsächlich erschiene es dem Fachmann aufgrund der bekannten Hepatotoxizität von Nicotinsäure logischer, eine häufigere Einnahme geringerer Dosen als eine Dosierungsanleitung vorzusehen, bei der die gesamte toxische Substanz auf einmal eingenommen wird. Bestätigt wird dies durch Dokument 18, in dem eine Dosierungsanleitung vorgeschlagen wird, bei der man mit einer niedrigen Dosis zum Frühstück beginnt und nach und nach auf eine höhere Dosierung mit vier Einzeldosen übergeht (S. 240, rechte Spalte, Z. 2 – 5), sowie Dokument 20, wonach die Behandlung in der Regel anfangs eine einzige subtherapeutische Dosis vorsieht, deren Häufigkeit und tägliche Gesamtdosis allmählich auf eine erste therapeutische Dosis erhöht werden (S. 77, rechte Spalte, zweiter Absatz, erster und zweiter Satz).

In Anbetracht der verfügbaren Dokumente würde sich der Fachmann in Bezug auf die Hepatotoxizität auch keine Vorteile davon versprechen, wenn das Arzneimittel vor dem Schlafengehen eingenommen wird, da dem Stand der Technik nichts darüber zu entnehmen ist.

2.5 Artikel 57 EPÜ

Aus den zahlreichen Dokumenten des Stands der Technik zu oralen, Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimitteln (z. B. (2), (3), (4), (6), (11), (12), (14), (18) und (20)) geht hervor, dass die Verwendung von Nicotinsäure zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur oralen Verabreichung zum allgemeinen Fachwissen gehört und zahlreiche kommerzielle Arzneimittel auf dem Markt erhältlich sind.

Es besteht somit kein Zweifel, dass zumindest das Merkmal in Anspruch 1 betreffend die Herstellung eines Nicotinsäure enthaltenden Retardarzneimittels zur oralen Verabreichung die Erfordernisse des Artikels 57 EPÜ erfüllt.

3. Daraus ist zu schließen, dass die Entscheidung in der vorliegenden Sache tatsächlich von der Antwort auf die in 2.3.2 dargelegte Frage abhängt. Allgemeiner ausgedrückt wirft dies die Rechtsfrage auf, ob eine Verwendung, die sich von den im Stand der Technik bekannten Verwendungen nur durch die Dosierungsanleitung des zur Behandlung einer bestimmten Krankheit verabreichten Stoffs unterscheidet, als eine neue spezifische Anwendung nach Artikel 54 (5) EPÜ 2000 angesehen werden kann. Artikel 54 (5) EPÜ ist breit gefasst, und aus dem Wortlaut geht nicht hervor, dass einige spezifische Anwendungen anders behandelt werden sollen als andere.

3.1 Soweit der Kammer bekannt, wurde bisher noch kein anderer Fall auf der Grundlage von Artikel 54 (5) EPÜ 2000 entschieden, der keine genaue Entsprechung im EPÜ 1973 hat. Jedoch ergibt sich aus den Travaux préparatoires zur Konferenz der Vertragsstaaten zur Revision des Europäischen Patentübereinkommens vom 20. bis 29. November 2000 in München und insbesondere aus dem Bericht der Konferenz (Dokument MR/24/00), Seiten 71 und 72, Nummern 136 bis 142 und dem Dokument MR/18/00, Basisvorschlag – Erläuterungen – Artikel 54 (4) und Artikel 54 (5) EPÜ, dass “hinsichtlich der sog. zweiten und jeder weiteren medizinischen Indikation … die von der Großen Beschwerdekammer des EPA entwickelte Rechtsprechung im Übereinkommen verankert werden [soll]” (Nr. 139 des Konferenzberichts). Daher ist es angebracht, zur Auslegung des Artikels 54 (5) EPÜ 2000 die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 1/83 vom 5. Dezember 1984 sowie in den gleichlautenden Entscheidungen in den anderen Amtssprachen in parallelen Fällen (z. B. G 5/83 und G 6/83) heranzuziehen.

3.2 Bevor auf die Entscheidung G 1/83 selbst eingegangen wird, sollte sie zunächst in ihren historischen Kontext gestellt werden. Hierzu wird anhand eines Auszugs aus dem Nachschlagewerk von Maître Paul Mathély “Le Droit Européen des brevets d’invention” (Paris, 1978) eine Auffassung dargelegt, die vor diesen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer weit verbreitet war (S. 116, Übersetzung durch die Kammer):

“So kann für aus dem Stand der Technik bekannte und damit nicht mehr patentierbare Stoffe oder Stoffgemische ein Patent für eine erste Verwendung als Arzneimittel erteilt werden; wird dann noch eine zweite Möglichkeit der Verwendung desselben Stoffs entdeckt, kann aber kein Patent mehr erteilt werden.

Diese Bestimmung erklärt sich folgendermaßen: aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht kann die Verwendung eines Arzneimittels nicht kontrolliert werden; daher kann in der Praxis für eine weitere medizinische Verwendung eines Produkts, das bereits als Arzneimittel eingesetzt wird, kein Ausschlussrecht gewährt werden.

Dies gilt jedoch nur für denselben Stoff oder dasselbe Stoffgemisch. Wird der Wirkstoff für eine neue therapeutische Anwendung auf unterschiedliche Weise behandelt, angepasst oder formuliert, so hat er folglich als unterschiedliches Produkt zu gelten, das zum ersten Mal als Arzneimittel vorgestellt wird.”

Gemäß dieser Auslegung des Artikels 54 (5) EPÜ 1973 kann für einen Stoff zur medizinischen Verwendung nur dann ein Patent erteilt werden, wenn in der entsprechenden Anmeldung zum ersten Mal eine medizinische Verwendung dieses Stoffs vorgeschlagen wird. Zwar hatte sich zumindest in den Vertragsstaaten Deutschland und Schweiz eine positivere Einstellung in Bezug auf die Patentierung von weiteren Verwendungen eines bekannten Stoffes als Arzneimittel entwickelt, aber es kann davon ausgegangen werden, dass der Großen Beschwerdekammer die vorstehend dargelegte engere Auslegung bekannt war, die in anderen Vertragsstaaten angewendet wurde.

3.3 In ihrer Entscheidung G 1/83 wies die Große Beschwerdekammer ausdrücklich auf den problematischen Fall hin, in dem sich das sich aus der beanspruchten Verwendung ergebende Arzneimittel in keiner Weise von einem bekannten Arzneimittel unterscheidet (Nr. 20 der Entscheidungsgründe, letzter Satz). Sie gelangte zu dem Schluss, dass es “Zweck von Artikel 52 (4) EPÜ ist …, die nicht-kommerziellen und nicht-industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Human- und Veterinärmedizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten”, und sich diese Ausnahmeregel deshalb nicht über ihren Zweck hinaus auswirken sollte (Nr. 22 der Entscheidungsgründe). Aus diesen Gründen hielt sie es für gerechtfertigt, Patentansprüche zuzulassen, die darauf gerichtet sind, dass ein Stoff oder Stoffgemisch für die Herstellung eines Arzneimittels verwendet wird, das auf eine neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet ist, selbst wenn das Herstellungsverfahren als solches sich nicht von einem bekannten Verfahren, bei dem der gleiche Wirkstoff verwendet wird, unterscheidet (Nr. 23 der Entscheidungsgründe).

3.4 Soweit die Kammer feststellen konnte, betrafen alle Fälle, auf die in G 1/83 und den parallelen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer Bezug genommen wird, die Verwendung eines bekannten Arzneimittels zur Behandlung einer neuen Krankheit. Die Große Beschwerdekammer hatte daher keine besondere Veranlassung, zwischen Fällen zu unterscheiden, in denen die Verwendung auf die Behandlung einer anderen Krankheit gerichtet war, und Fällen, in denen dieselbe Krankheit mit einer anderen Dosierungsanleitung behandelt wurde. In G 1/83 heißt es unter Nummer 20 der Entscheidungsgründe ausdrücklich: “Wenn das Arzneimittel selbst in dem Sinne neu ist, dass es neue technische Merkmale besitzt – zum Beispiel eine neue Formulierung, Dosierung oder synergistische Kombination – sind die üblichen Voraussetzungen des Artikels 54 (1) bis (4) EPÜ erfüllt”, d. h. die Dosierung wurde in Zusammenhang mit einem neuen Produkt betrachtet. Daraus herzuleiten, dass die Große Beschwerdekammer dabei auch an die Patentierbarkeit von Stoffen dachte, die sich vom Stand der Technik nur in ihrer Dosierungsanleitung unterscheiden, ist reine Spekulation. Nichtsdestotrotz bietet die gängige Bedeutung der Formulierung der Großen Beschwerdekammer in Nummer 23 der Entscheidungsgründe und in Nummer 2 der Entscheidungsformel sowie der sehr ähnliche Wortlaut von Artikel 54 (5) EPÜ 2000 prima facie eine ausreichende Grundlage für die Patentierung eines Stoffs oder Stoffgemischs zur Verwendung bei einer neuen und erfinderischen therapeutischen Behandlung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass bei der Behandlung derselben Krankheit mit demselben Stoff eine neue Dosierungsanleitung angewendet wird. Liegen nun ausreichende Gründe dafür vor, den Wortlaut dahingehend enger auszulegen, dass diese Möglichkeit von der Patentierung ausgeschlossen ist?

4. Eine Analyse der Fälle, die in Anlehnung an die Entscheidung G 1/83 entschieden wurden, wirft ein neues Licht auf die Kategorien der neuen und erfinderischen therapeutischen Verwendung, und zwar einer Verwendung, bei der die Herstellung aus einer bekannten Substanz oder Verbindung als patentierbar betrachtet wurde.

4.1 Die Herstellung eines bekannten Stoffgemischs zur Verwendung bei einer neuen Behandlung wurde in folgenden Fällen als patentierbar erachtet: Behandlung einer anderen Zielgruppe (seronegative Schweine statt seropositive Schweine; T 19/86, ABl. EPA 1989, 25), neue Behandlung mit einer anderen technischen Wirkung (Vorbeugung gegen Karies mit einem bekannten Stoff, aber durch die Entfernung von Zahnbelag statt durch die Verringerung der Löslichkeit des Zahnschmelzes; T 290/86, ABl. EPA 1992, 414) und neue Behandlung mit einer anderen Verabreichungsart (subkutane statt intramuskuläre Injektion; T 51/93).

4.2 Einige Beschwerdekammern halten dagegen eine grundsätzliche Anerkennung der Patentierbarkeit von spezifischen therapeutischen Verwendungen für problematisch, wenn diese sich lediglich durch die Dosierungsanleitung vom Stand der Technik unterscheiden.

4.3 Unter Verweis auf die Rechtsprechung und eine mögliche Kollision mit Artikel 52 (4) EPÜ 1973 wurde mit der Entscheidung T 584/97 ein Anspruch von der Patentierung ausgeschlossen, der im Wesentlichen auf die Verabreichung von Nicotin in zunehmend höheren Dosen gerichtet war. Auch in den Sachen T 317/95, T 56/97 und T 4/98 (ABl. EPA 2002, 139) wurde diese Frage erörtert und eher negativ beurteilt, blieb letztlich aber unbeantwortet. In allen diesen Fällen wäre die Anmeldung aus anderen Gründen, d. h. mangelnde Neuheit oder mangelnde erfinderische Tätigkeit, ohnehin zurückgewiesen worden, sodass die Entscheidung dieser Frage unerheblich war.

4.4 In T 570/92 ging es um einen Anspruch, mit dem “die Verwendung von Nifedipinkristallen … zur Herstellung von festen pharmazeutischen Stoffgemischen … zur Herstellung eines Arzneimittels … für die orale Behandlung von … durch ein- bis zweimal tägliche Verabreichung” geschützt werden sollte. Die Kammer sah hier keine Kollision mit Artikel 52 (4) EPÜ 1973. Sie hat den Wortlaut dahin gehend ausgelegt, dass der Fachmann über die Möglichkeit eines Erfolgs der Behandlung bei einer nicht mehr als zweimaligen Verabreichung pro Tag unterrichtet wird, dem Arzt dabei aber keine Anweisungen bezüglich der konkreten Behandlung eines Patienten gegeben werden.

4.5 In T 485/99 war nach Auffassung der Kammer vorrangig zu klären, ob die definierte Dosierungsanleitung (präoperative Verabreichung zur Erzielung einer postoperativen Wirkung) zu einer unterschiedlichen medizinischen (physiologischen) Wirkung führt. Wenn nicht, könnte die Patentierung möglicherweise die ärztliche Freiheit einschränken und wäre daher nicht zulässig. Da die Frage, ob die vorgeschlagene Dosierungsanleitung eine unterschiedliche medizinische Wirkung hat, noch nicht untersucht worden war, verwies die Kammer die Sache an die Prüfungsabteilung zurück.

4.6 Eine lange und ausführliche Behandlung des Themas enthält die Entscheidung T 1020/03 der Technischen Beschwerdekammer 3.3.4 vom 29. Oktober 2004 (ABl. EPA 2007, 204), mit der zum ersten Mal eine bloße Dosierungsanleitung als patentierbar anerkannt wurde.

Gemäß der in dieser Entscheidung vertretenen Auffassung “gibt es hier keine Grauzone: Entweder ist ein Verfahren zur Verwendung eines Stoffgemisches keine therapeutische Behandlung, fällt somit nicht unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ und ist daher patentierbar, sofern es den übrigen Bestimmungen des EPÜ genügt, oder ein Verfahren ist eine therapeutische Behandlung, fällt damit unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ und ist also nicht an sich patentierbar; patentiert werden kann jedoch die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels, das im Rahmen einer solchen therapeutischen Behandlung angewandt wird, und zwar für eine unbestimmte Therapie als erste medizinische Indikation oder für eine bestimmte Therapie als weitere medizinische Indikation, sofern wiederum die übrigen Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind, insbesondere Neuheit und erfinderische Tätigkeit” (Nr. 36 der Entscheidungsgründe). Für die ausführliche Begründung, die zu dieser Schlussfolgerung führte, und die Gründe, warum in dieser Entscheidung von der Argumentation in den Entscheidungen T 317/95, T 56/96, T 584/97, T 4/98 und T 485/99 abgewichen wurde, die als im Widerspruch zur Entscheidung G 1/83 stehend erachtet wurden, wird auf den vollständigen Text der Entscheidung T 1020/03 verwiesen.

5.1 Eine gegenteilige Ansicht zu T 1020/03 kann auf zweierlei Weise formuliert werden. Die erste ist die Aussage, dass sich eine therapeutische Behandlung von einer bekannten therapeutischen Behandlung derselben Krankheit mit demselben Stoff oder Stoffgemisch durch ein weiteres Merkmal neben der Dosierungsanleitung unterscheiden muss, damit sie als neu im Sinne der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 gelten kann. Die andere Möglichkeit ist die Auffassung, dass für die Zwecke der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 bei einer bekannten Therapie mit Verwendung eines Stoffs zur Behandlung einer Krankheit alle möglichen Dosierungen dieses bekannten Stoffs zur Behandlung dieser Krankheit als offenbart gelten. Beide Alternativen dieses Standpunkts ließen sich damit begründen, dass die Wahl der richtigen Dosierung eine Sache zwischen Arzt und Patient ist, weshalb der Schutz der ärztlichen Freiheit bei der Wahl der richtigen Dosierung dem Recht auf ein Patent übergeordnet werden muss. Beispiele für eine Argumentation in diesem Sinne sind in den Entscheidungen T 317/95 (s. Nr. 4.5 der Entscheidungsgründe), T 56/97 (s. Nrn. 2.4 und 2.5 der Entscheidungsgründe) und T 584/97 (s. Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe) zu finden, sowie in der angefochtenen Entscheidung der Prüfungsabteilung im vorliegenden Fall. Folgt man dieser gegenteiligen Ansicht, so ist der Formulierung “Verfahren zur therapeutischen Behandlung” für die Zwecke der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ eine ganz spezielle Bedeutung beizumessen. Die Travaux préparatoires zum EPÜ 2000 enthalten keinerlei Anhaltspunkt für eine solche Absicht, es sei denn, dies sei implizit aus dem Hinweis (s. Nr. 3.1) abzuleiten, dass “hinsichtlich der sog. zweiten und jeder weiteren medizinischen Indikation die von der Großen Beschwerdekammer des EPA entwickelte Rechtsprechung im Übereinkommen verankert werden [soll]”. Der einzige einschlägige Fall, auf den sich dies beziehen kann, scheint die Entscheidung G 1/83 (sowie die entsprechenden parallelen Fälle) zu sein, sodass eine verbindliche Auslegung erforderlich ist, die nur eine weitere Entscheidung der Großen Beschwerdekammer geben kann.

5.2 Die Frage, ob Arzneimittel zur Verwendung bei Verfahren zur therapeutischen Behandlung, deren einziges neues Merkmal eine neue Dosierungsanleitung ist, nach den Artikeln 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 patentierbar sind, ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da sie häufig gestellt werden muss. Ist eine Patentierung unter solchen Umständen ausgeschlossen, so müssen die Anmelder dessen sicher sein können, sodass in Fällen, in denen die neue Dosierungsanleitung mit einer neuen, physikalisch unterschiedlichen Form des Arzneimittels angewendet werden kann, Angaben darüber in die Anmeldung bei der Einreichung aufgenommen werden und zumindest dafür Patentschutz erlangt werden kann.

5.3 Ein kategorisches Verbot der Patentierung von Arzneimitteln zur Verwendung bei Verfahren zur therapeutischen Behandlung, deren einziges neues Merkmal eine Dosierungsanleitung ist, würde es insofern erleichtern, Patentanmeldungen zurückzuweisen bzw. Patente für nichtig zu erklären, deren einziger Unterschied zum Stand der Technik in einer neuen Dosierungsanleitung besteht, als die gewöhnlich schwierigste Frage des Naheliegens niemals gestellt werden müsste. Ein solcher kategorischer Patentierungsausschluss würde es auch den Gerichten ersparen, die Frage klären zu müssen, welche Beweismittel als ausreichend für die Herstellung und/oder Vermarktung eines (alten) Arzneimittels zur Verwendung in einer neuen Dosierungsanleitung gelten. Jedoch scheint es fraglich, ob solche Überlegungen bei der Auslegung der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 zu berücksichtigen sind.

5.4 Die Gesetzgeber der Vertragsstaaten haben in der Tat bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Patentierung von Arzneimitteln oder gar therapeutischer Verfahren verschiedentlich Erwägungen hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit, der ärztlichen Schweigepflicht zur Wahrung des Arzt-Patienten-Verhältnisses oder der Erhaltung der Freiheit der Ärzte, ihren Patienten die bestmögliche Behandlung zu bieten, berücksichtigt. Dies spiegelt sich unter anderem auch in Artikel 167 EPÜ 1973 wider, wonach die Vertragsstaaten für eine Übergangszeit gewisse Vorbehalte machen konnten. Solche Überlegungen sind allerdings in erster Linie für den Gesetzgeber bei der Gesetzgebung von Bedeutung und nicht unbedingt bei der Rechtsauslegung. Wenn solche Betrachtungen bei der Auslegung der Bestimmungen des EPÜ eine Rolle spielen sollen, so scheint es zur Sicherung einer einheitlichen Entwicklung der Rechtsprechung erforderlich, dass die Große Beschwerdekammer entsprechende Leitlinien vorgibt, wie dabei zu verfahren ist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:

1. Wenn die Verwendung eines bestimmten Arzneimittels bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit bereits bekannt ist, kann dieses bekannte Arzneimittel dann gemäß den Bestimmungen der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 zur Verwendung bei einer anderen, neuen und erfinderischen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert werden?

2. Wenn Frage 1 bejaht wird, kann auch dann ein Patent erteilt werden, wenn das einzige neue Merkmal der Behandlung eine neue und erfinderische Dosierungsanleitung ist?

3. Müssen bei der Auslegung und Anwendung der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 besondere Betrachtungen angestellt werden?