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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1999:T102896.19990915
Datum der Entscheidung: 15 September 1999
Aktenzeichen: T 1028/96
Anmeldenummer: 86106603.3
IPC-Klasse: B68G 1/00
D04H 1/00
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: Polyesterfaserpolster und Verfahren zu dessen Herstellung
Name des Anmelders: E. I. Du Pont De Nemours and Company
Name des Einsprechenden: Fa. Karl Thiel
Fabromont AG
Firma Christian Heinrich Sandler GmbH & Co. KG
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: I. Unter bestimmten besonderen Umständen ist bei Mitgliedern einer Beschwerdekammer im Einspruchsbeschwerdeverfahren gemäß Artikel 24 (3) EPÜ “Befangenheit zu besorgen”, wenn sie in dieser Funktion an der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung durch die Prüfungsabteilung mitgewirkt haben (vgl. Nr. 6.5 der Entscheidungsgründe).
II. Die Kammer in der ursprünglichen Besetzung, d. h. mit dem (den) abgelehnten Mitglied(ern), ist für die Prüfung der Zulässigkeit einer Ablehnung nach Artikel 24 (1) oder 24 (3) EPÜ im Hinblick auf die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ zuständig (vgl. Nr. 1 der Entscheidungsgründe).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 19(2)
European Patent Convention 1973 Art 24
European Patent Convention 1973 R 10(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 1(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 2(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 3(2)
Schlagwörter: Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden der Beschwerdekammer
Zuständigkeit der Kammer in der ursprünglichen Besetzung – d. h. mit dem abgelehnten Mitglied – für die Prüfung der Zulässigkeit der Ablehnung wegen Befangenheit im Hinblick auf die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ (bejaht)
Anwendbarkeit des Artikels 24 (1) EPÜ, wenn ein Mitglied der Kammer des Einspruchsbeschwerdeverfahrens an der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Zurückweisung durch die Prüfungsabteilung mitgewirkt hat (verneint)
Anwendbarkeit des Grundes der Besorgnis der Befangenheit nach Artikel 24 (3) EPÜ in solchen Fällen (unter bestimmten Umständen bejaht)
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0005/91
G 0004/97
T 0261/88
T 0289/91
T 0519/91
T 0167/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0015/04
R 0012/09
R 0021/11
R 0002/14
T 0349/00
T 0985/01
T 1021/01
T 1193/02
T 0190/03
T 0281/03
T 0283/03
T 0572/03
T 1020/06
T 0049/11
T 1677/11
T 1760/11
T 0355/13
T 1889/13
T 1647/15

Sachverhalt und Anträge

I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 86 106 603.3 (Veröffentlichungsnummer 0 203 469) wurde mit Entscheidung der Prüfungsabteilung zurückgewiesen.

Die Zurückweisung wurde unter anderem damit begründet, daß das in den unabhängigen Ansprüchen beschriebene Verfahren zur Messung der Kohäsion unklar sei, weil der Abstand zwischen den untersten festen Stäben und dem Boden des zylindrischen Gefäßes mit dem Füllmaterial nicht angegeben sei.

II. Im Beschwerdeverfahren hob die Beschwerdekammer 3.2.1 die Zurückweisungsentscheidung mit Entscheidung T 519/91 vom 19. Juni 1992 auf und verwies die Sache an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung zurück, auf der Grundlage des geänderten Anspruchssatzes ein Patent zu erteilen.

Die unabhängigen Ansprüche 1 und 7 in der erteilten Fassung lauten wie folgt:

“1. Wiederaufschüttelbare Faserbällchen, bestehend im wesentlichen aus ineinandergewirrtem Polyesterfüllmaterial, dadurch gekennzeichnet, daß das Füllmaterial spiralförmig gekräuselt und mit einem Slickener überzogen ist, eine Schnittlänge von etwa 10 bis etwa 60 mm hat und in den Faserbällchen ungeordnet ineinandergewirrt ist, die durchschnittlich 1 bis 15 mm groß sind, wobei mindestens 50 Gew.-% der Bällchen einen Querschnitt aufweisen, dessen maximale Abmessung nicht mehr als das Doppelte seiner minimalen Abmessung beträgt, und der Kohäsionswert der Faserbällchen – wie in der Beschreibung unter der entsprechenden Überschrift definiert – weniger als 6 Newton (N) beträgt.”

“7. Verfahren zur Formung von Polyesterfüllmaterial zu Faserbällchen, die für den Transport per Gebläse geeignet sind, wobei das Füllmaterial in eine Vielzahl einzelner Faserbüschel getrennt wird, die gegen die zylindrische Innenwand eines festen zylindrischen Gefäßes geworfen werden, das mit Rührblättern ausgestattet ist, die um eine horizontal montierte axiale, mit Rührblättern versehene Welle rotieren, dadurch gekennzeichnet, daß das Polyesterfüllmaterial eine spiralförmige Kräuselung sowie eine Schnittlänge von etwa 10 bis etwa 60 mm aufweist und mit einem Slickener versehen ist und daß die Büschel in der Luft bewegt, d. h. durch die Rührblätter aufgewirbelt werden, wodurch die Büschel immer wieder gewendet und durch das Gebläse gegen die zylindrische Innenwand geschleudert werden, so daß sich die Fasern verwirren und die Büschel verdichtet und zu Faserbällchen aus ungeordnet ineinandergewirrten Fasern umgeformt werden, die durchschnittlich 1 bis 15 mm groß sind, wobei mindestens 50 Gew.-% der Bällchen einen Querschnitt aufweisen, dessen maximale Abmessung nicht mehr als das Doppelte seiner minimalen Abmessung beträgt, und der Kohäsionswert der Faserbällchen – wie in der Beschreibung unter der entsprechenden Überschrift definiert – weniger als 6 Newton (N) beträgt.”

Zur Ausräumung des Einwands, mit dem die Prüfungsabteilung die Angaben über die Kohäsionsmessung bemängelt hatte, legte die Beschwerdeführerin (Anmelderin) Kohäsionswerte für verschiedene Muster von Faserbällchen vor.

III. Die Einsprechenden und eine Beitretende (nun Einsprechende 03) legten gegen das Patent Einspruch wegen mangelnder Patentfähigkeit und unzureichender Offenbarung ein.

Zur Stützung des zweiten Einspruchsgrunds brachten sie vor, daß das Streitpatent dem Fachmann keine ausreichenden Informationen darüber liefere, wie die Kohäsionsmessungen durchgeführt würden, und zwar im wesentlichen deshalb, weil der Abstand zwischen den horizontalen Stäbepaaren und dem Boden des zylindrischen Gefäßes mit dem Füllmaterial in der Patentschrift nicht offenbart sei.

IV. Mit einer am 28. Oktober 1996 zur Post gegebenen Entscheidung widerrief die Einspruchsabteilung das europäische Patent mit der Begründung, daß der beanspruchte Gegenstand gegenüber den Entgegenhaltungen nicht erfinderisch sei.

V. Am 21. November 1996 legte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde gegen diese Entscheidung ein.

Die Beschwerdebegründung wurde am 28. Februar 1997 eingereicht.

VI. Nach dem Geschäftsverteilungsplan der Beschwerdekammern wurde die Beschwerde der Technischen Beschwerdekammer 3.2.1 zugeteilt. Der Vorsitzende dieser Kammer hatte in dieser Funktion im Erteilungsverfahren an der Entscheidung T 519/91 mitgewirkt.

VII. Am 23. Februar 1999 fand eine mündliche Verhandlung statt. In deren Verlauf beantragten die Beschwerdegegnerinnen I bis III (die Einsprechenden 01 bis 03), daß der Vorsitzende aus den in Artikel 24 (1) EPÜ angeführten Gründen oder wegen Besorgnis der Befangenheit (Art. 24 (3) EPÜ) ausgeschlossen werden sollte.

Der Vorsitzende unterbrach die mündliche Verhandlung; nach einer Beratung gelangte die Kammer zu der Auffassung, daß das Verfahren nach Artikel 24 (4) EPÜ anzuwenden sei.

Bei der Entscheidung über die Anwendung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ wurde der abgelehnte Vorsitzende durch seinen Vertreter ersetzt. Gemäß Artikel 3 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) wurde der abgelehnte Vorsitzende aufgefordert, sich zum Ausschließungsgrund zu äußern.

Mit Schreiben vom 10. März 1999 versicherte der Vorsitzende im wesentlichen, daß er trotz der behaupteten Befangenheit keinen objektiven Grund dafür sehe, im weiteren Beschwerdeverfahren aus der Beschwerdekammer ausgeschlossen zu werden.

VIII. Mit Schreiben vom 17. Juli 1999 bzw. vom 31. August 1999 lehnten die Beschwerdegegnerinnen III und I auch das technisch vorgebildete und das rechtskundige Mitglied der Kammer wegen “Besorgnis der Befangenheit” gemäß Artikel 24 (3) EPÜ ab. Daraufhin reichten die beiden betroffenen Mitglieder jeweils eine Erklärung nach Artikel 24 (2) EPÜ ein, in der sie die Auffassung vertraten, daß sie an der Entscheidung über eine etwaige Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden nicht mitwirken sollten.

Die beiden abgelehnten Mitglieder wurden durch ihre Vertreter ersetzt (Art. 24 (4) EPÜ).

IX. Am 15. September 1999 fand eine neue mündliche Verhandlung vor der Kammer in der jetzigen Besetzung statt, bei der alle Mitglieder der ehemaligen Kammer durch ihre Vertreter ersetzt waren.

Die Beschwerdegegnerinnen beantragten, daß der abgelehnte ursprüngliche Vorsitzende aus den in Artikel 24 (1) EPÜ angeführten Gründen oder wegen “Besorgnis der Befangenheit” gemäß Artikel 24 (3) EPÜ vom laufenden Beschwerdeverfahren ausgeschlossen werden sollte.

Außerdem beantragten sie, daß die Große Beschwerdekammer befaßt werden sollte, falls dem Antrag auf Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden nicht stattgegeben werde.

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung des Antrags auf Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden vom weiteren Beschwerdeverfahren.

X. Zur Stützung ihrer Anträge brachten die Beschwerdegegnerinnen schriftlich und mündlich unter anderem folgendes vor:

i) Bezüglich der Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden sehe Artikel 24 (1) EPÜ in der deutschen Fassung vor, daß Mitglieder der Beschwerdekammern nicht an der Erledigung einer Sache mitwirken dürften, an deren abschließender Entscheidung in der Vorinstanz sie mitgewirkt hätten. Der Begriff “Vorinstanz” sei mehrdeutig und könne so ausgelegt werden, daß er auch die Entscheidung einer Beschwerdekammer in der ersten Verfahrensstufe, d. h. im Erteilungsverfahren, umfasse. Außerdem müsse diese Bestimmung entsprechend ihrem Zweck ausgelegt werden: Die Mitwirkung des Vorsitzenden an einer früheren Entscheidung – etwa einer Entscheidung der Kammer im Erteilungsverfahren – würde nämlich zwangsläufig seine Sicht des Falls beeinflussen, weil er zum gleichen Urteil neigen würde wie bei der vorangegangenen Entscheidung. Daher müsse der Vorsitzende in jedem Fall – unabhängig von der vorangegangenen Entscheidung – ausgeschlossen werden, und zwar auch vom Einspruchsverfahren vor der Kammer, wenn er als Vorsitzender der Kammer im Erteilungsverfahren tätig geworden sei.

Dieses generelle Verbot der Mitwirkung von Mitgliedern einer Beschwerdekammer, die an einer früheren Entscheidung beteiligt gewesen seien, sei in Artikel 9 (1) des Gemeinschaftspatentübereinkommens (GPÜ) in der am 15. Dezember 1989 in Luxemburg revidierten Fassung eindeutig festgeschrieben. In dieser Bestimmung werde nicht zwischen Entscheidungen im Erteilungsverfahren und Entscheidungen im Einspruchsverfahren unterschieden.

Schließlich sehe das EPÜ nicht ausdrücklich vor, daß ein Kammermitglied, das an einer Entscheidung im Erteilungsverfahren mitgewirkt habe, als Vorsitzender der Beschwerdekammer vom anschließenden Einspruchsverfahren ausgeschlossen werden müsse. Dies stehe im unmittelbaren Widerspruch zu den Bestimmungen des Artikels 19 (2) EPÜ, der die Zusammensetzung der Einspruchsabteilungen regle und einen solchen Ausschluß enthalte, nämlich daß “ein Prüfer, der in dem Verfahren zur Erteilung des europäischen Patents mitgewirkt hat, … nicht den Vorsitz (in der Einspruchsabteilung) führen” kann. Dies sollte um so mehr für das Verfahren vor der zweiten Instanz gelten, damit nicht ein Kammermitglied, das im Erteilungsverfahren an einer Entscheidung mitgewirkt habe, den Vorsitz in der Kammer führe, die im anschließenden Einspruchsverfahren in dieser Sache zu entscheiden habe.

ii) Außerdem vertraten die Beschwerdegegnerinnen die Auffassung, daß der ursprüngliche Vorsitzende wegen “Besorgnis der Befangenheit” gemäß Artikel 24 (3) EPÜ ausgeschlossen werden sollte:

– Da der Antrag nach Artikel 24 (1) EPÜ nicht zwangsläufig zu einer Kostenverteilung führe, werteten die Beschwerdegegnerinnen die Androhung des Vorsitzenden, die Beschwerdegegnerin I hätte die Kosten der mündlichen Verhandlung zu tragen, falls diese verschoben werden müsse, als Bedrohungs- oder Einschüchterungsversuch.

– Nach Ansicht der Beschwerdegegnerinnen habe der Vorsitzende ohne jede rechtliche Notwendigkeit gefordert, daß die Erklärung über die Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ schriftlich eingereicht werden müsse, und nicht zugelassen, daß sie in einer Pause der mündlichen Verhandlung abgefaßt werde.

– Die Tatsache, daß auch nach einer 40minütigen Beratungspause noch keine Entscheidung über die Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ gefallen sei, werteten die Beschwerdegegnerinnen als weiteres Anzeichen für die offensichtliche Befangenheit des Vorsitzenden.

– Schließlich sei auch die Mitwirkung des Vorsitzenden im Erteilungsverfahren vor der Kammer ein plausibler, konkreter Grund dafür, ihn der Parteilichkeit oder der Voreingenommenheit zu verdächtigen, weil er als Vorsitzender der Kammer im anschließenden Einspruchsverfahren mit derselben Frage der unzureichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ) befaßt sei. Insbesondere die zu Beginn der Verhandlung erfolgten Vorbemerkungen des Vorsitzenden zur Stichhaltigkeit der von der Beschwerdeführerin vorgelegten einschlägigen Beweismittel seien als Hinweis darauf zu werten, daß er Schwierigkeiten haben würde, über den Fall unvoreingenommen erneut zu verhandeln und zu entscheiden.

iii) Die Beschwerdegegnerinnen betonten, daß sich der Antrag auf Ausschließung des ursprünglichen technisch vorgebildeten und des ursprünglichen rechtskundigen Mitglieds der Kammer nicht nur auf die Entscheidung über eine etwaige Ausschließung des Vorsitzenden, sondern auch auf das weitere Einspruchsverfahren in der Sache vor der Kammer beziehe.

XI. Die obigen Ausführungen wurden von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) bestritten. Sie brachte im großen und ganzen vor, daß der Begriff “abschließende Entscheidung in der Vorinstanz” in Artikel 24 (1) EPÜ in seinem eindeutigen, wörtlichen Sinn gesehen werden müsse, nämlich im vorliegenden Fall als Entscheidung der Einspruchsabteilung, an der der abgelehnte ursprüngliche Vorsitzende offensichtlich nicht mitgewirkt habe.

Im vorliegenden Fall habe lediglich der ursprüngliche Vorsitzende an der abschließenden Entscheidung über die Erteilung des Patents mitgewirkt, nicht aber das ursprüngliche technisch vorgebildete und das ursprüngliche rechtskundige Mitglied. Somit hätten diese keine vorgefaßte Meinung darüber, wie in der Sache zu entscheiden sei, so daß auch kein Grund bestehe, sie vom weiteren Beschwerdeverfahren auszuschließen.

Für die Entscheidung über eine etwaige Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden beschloß die Kammer, die beiden betroffenen Mitglieder durch ihre Vertreter zu ersetzen. Aus der Sicht der Beschwerdeführerin lag hier ein Mangel vor, weil diese Entscheidung vor der mündlichen Verhandlung getroffen worden sei, so daß die Beteiligten keine Möglichkeit gehabt hätten, unter anderem zu den Erklärungen der beiden betroffenen Mitglieder nach Artikel 24 (2) EPÜ Stellung zu nehmen.

Entscheidungsgründe

1. Zuständigkeit der Beschwerdekammer 3.2.1 in der ursprünglichen Besetzung

Die Beschwerdegegnerinnen argumentierten, daß bei einer Ablehnung nach Artikel 24 Absatz 1 oder 3 EPÜ durch einen Beteiligten automatisch das Verfahren nach Artikel 24 (4) EPÜ zur Anwendung komme, ohne daß vorher geklärt werden müsse, ob diese Ablehnung zulässig sei. Somit sei die Ablehnung von der Kammer ohne Mitwirkung des abgelehnten Mitglieds zu prüfen, das durch seinen Vertreter ersetzt werden müsse.

Die Kammer kann sich dieser Argumentation nicht anschließen:

Artikel 24 (3) Satz 2 EPÜ sieht vor, daß “die Ablehnung nicht zulässig [ist], wenn der Beteiligte im Verfahren Anträge gestellt oder Stellungnahmen abgegeben hat, obwohl er bereits den Ablehnungsgrund kannte”. Des weiteren kann “die Ablehnung nicht mit der Staatsangehörigkeit der Mitglieder begründet werden”. Diese Bestimmungen erfordern eindeutig eine vorherige Prüfung auf Zulässigkeit.

Generell dient diese Prüfung im EPÜ zur Feststellung, ob ein Einwand sachlich geprüft und darüber entschieden werden kann. Ist der Einwand nicht zulässig, so braucht die Beschwerdekammer nicht zu prüfen, ob er statthaft und begründet ist. Was die Ablehnung nach Artikel 24 EPÜ anbelangt, so ist auch hier die Zulässigkeit eine Voraussetzung für die sachliche Prüfung, führt – wenn sie gegeben ist – aber lediglich zur Einleitung des in Artikel 24 (4) EPÜ festgelegten Verfahrens: Das abgelehnte Mitglied wird durch seinen Vertreter ersetzt, und die Kammer entscheidet in der neuen Besetzung über die Zulässigkeit und erforderlichenfalls über die Statthaftigkeit der Ablehnungen nach Artikel 24 EPÜ.

Mit anderen Worten muß sich die Kammer in der ursprünglichen Besetzung im Hinblick auf die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ mit der Zulässigkeit befassen. Befindet sie die Ablehnung für zulässig, so kommt das Verfahren nach Artikel 24 (4) EPÜ zur Anwendung. Die von der Kammer in der ursprünglichen Besetzung zu klärende Frage der Zulässigkeit ist also nur für die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ relevant und hat keinerlei Auswirkung auf die künftige Entscheidung der späteren, entsprechend Artikel 24 (4) EPÜ besetzten Kammer.

Wie in der Entscheidung T 289/98, ABl. EPA 1994, 649 (zur Zulässigkeit eines Einspruchs) festgestellt wurde, ist die Zulässigkeit, die eine grundlegende Voraussetzung für eine Entscheidung in der Sache ist, von der Kammer von Amts wegen zu prüfen (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe). Wäre die Kammer in der ursprünglichen Besetzung nicht befugt, die Zulässigkeit zu prüfen, und somit auf eine rein passive Rolle beschränkt, so widerspräche dies eindeutig dem oben angeführten Verfahrensgrundsatz. Außerdem ist auch diese Kammer eine Entscheidungsinstanz; es wäre mit dieser Funktion unvereinbar, wenn sie nicht über die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ entscheiden dürfte, d. h. ein solches Verfahren automatisch anwenden müßte.

Wenn schließlich die Beschwerdekammer in der ursprünglichen Besetzung nicht berechtigt wäre, die Zulässigkeit zu prüfen, wenn es also keine Hürde gäbe, die ein Beteiligter nehmen muß, damit sein Einwand von einer umbesetzten Kammer ohne Beteiligung des abgelehnten Mitglieds geprüft wird, würde dies eindeutig die Möglichkeit eröffnen, das Einspruchsverfahren vor den Beschwerdekammern ungebührlich zu verzögern und die Beschwerdekammern mit dem Verfahren nach Artikel 24 (4) EPÜ zu belasten, das automatisch Anwendung fände, wann immer eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit erklärt wird. Wie in der Entscheidung G 3/97, ABl. EPA 1999, 245 – Einspruch in fremdem Auftrag/INDUPACK – betont, soll das Einspruchsverfahren ein einfaches, zügig durchgeführtes Verfahren sein, in dem einerseits relevante Einwände gegen die Patentierbarkeit angemessen berücksichtigt werden sollen, andererseits über den Bestand des Patents im Interesse der Beteiligten wie auch der Öffentlichkeit alsbald entschieden werden soll (s. Nr. 3.2.3 der Entscheidungsgründe).

Daher lag es im vorliegenden Fall im Zuständigkeitsbereich der Kammer in der ursprünglichen Besetzung, d. h. unter Mitwirkung des abgelehnten Vorsitzenden, die Zulässigkeit der Ablehnungen nach Artikel 24 Absätze 1 und 3 EPÜ im Hinblick auf die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 24 (4) EPÜ zu prüfen.

2. Formale Voraussetzungen für die Zulässigkeit

Nun sieht zwar Artikel 24 (3) EPÜ nur zwei Voraussetzungen für die Zulässigkeit vor (“Die Ablehnung ist nicht zulässig, wenn der Beteiligte im Verfahren Anträge gestellt oder Stellungnahmen abgegeben hat, obwohl er bereits den Ablehnungsgrund kannte” und “Die Ablehnung kann nicht mit der Staatsangehörigkeit der Mitglieder begründet werden”), so daß ein Beteiligter, der die Zusammensetzung der Kammer in Frage stellt, die oben genannte Hürde leicht nehmen könnte. Das EPÜ verlangt jedoch in aller Regel, daß Einwände begründet, d. h. Tatsachen und Argumente zu ihrer Stützung angegeben werden, auch wenn dies in Artikel 24 (3) EPÜ nicht ausdrücklich angegeben ist. Daraus ergibt sich zum einen, daß eine Ablehnung, die auf rein subjektiven, unbegründeten Zweifeln basiert, die nur in der Vorstellung des betreffenden Beteiligten existieren, als unzulässig zurückgewiesen werden sollte. Zum anderen ist auch eine Ablehnung unzulässig, die durch die vorgelegten Tatsachen und Beweismittel nicht gestützt wird. So schließt die Hürde, die ein Beteiligter nehmen muß, der die Zusammensetzung der Kammer in Frage stellt, auch diese formale Voraussetzung ein.

3. Zuständigkeit der Kammer in der jetzigen Besetzung, die nach Artikel 24 Absätze 1 und 3 EPÜ gegen den ursprünglichen Vorsitzenden erhobenen Einwände zu prüfen und darüber zu entscheiden

Mit Schreiben vom 17. Juli 1999 bzw. 31. August 1999 lehnten die Beschwerdegegnerinnen III und II auch das ursprüngliche technisch vorgebildete und das ursprüngliche rechtskundige Mitglied der Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit ab.

Artikel 24 (2) EPÜ sieht vor, daß ein Mitglied einer Beschwerdekammer der Kammer mitteilen kann, daß es aus einem der in Absatz 1 dieses Artikels genannten Gründe oder aus einem sonstigen Grund an einem bestimmten Verfahren nicht mitwirken kann. Entsprechend legten die beiden abgelehnten Mitglieder eine Erklärung vor, in der sie die Auffassung vertraten, daß sie an der Entscheidung über die beantragte Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden aus dem weiteren Beschwerdeverfahren nicht mitwirken sollten.

Deshalb wurde das Verfahren nach Artikel 24 (4) EPÜ wie folgt angewandt: Der verbleibende Vorsitzende der Kammer (d. h. der Vertreter des abgelehnten ursprünglichen Vorsitzenden) bestimmte gemäß Artikel 1 (2) VOBK die Vertreter der beiden abgelehnten Mitglieder; anschließend beschloß die Kammer in dieser neuen Besetzung, daß die beiden abgelehnten Mitglieder nicht an der Entscheidung über eine etwaige Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden mitwirken sollten.

Da sich das ursprüngliche technisch vorgebildete und das ursprüngliche rechtskundige Mitglied der Kammer selbst für befangen erklärten, gilt die Entscheidung der Kammer, sie nach Artikel 24 (4) EPÜ auszuschließen, als rein interne Entscheidung, die auch ohne Stellungnahme der Beteiligten zu den nach Artikel 24 (2) EPÜ abgegebenen Erklärungen getroffen werden kann. Es ist anzumerken, daß “das EPÜ kein formelles Verfahren für eine solche Entscheidung vorsieht und in der Praxis auch keine formelle Entscheidung ergeht” (s. Paterson, The European Patent System, London 1992, Nr. 2.20).

Daher ist die Kammer in der jetzigen Besetzung, bei der alle Mitglieder der früheren Kammer durch ihre Vertreter ersetzt sind, zu dem Schluß gelangt, daß sie berechtigt ist, die nach Artikel 24 Absätze 1 und 3 EPÜ erklärte Ablehnung des ursprünglichen Vorsitzenden zu prüfen und darüber zu entscheiden.

4. Zulässigkeit der Ablehnungen nach Artikel 24 Absätze 1 und 3 EPÜ

4.1 Bevor auf die Frage der Zulässigkeit eingegangen werden kann, muß das Verfahren für die Bestimmung der Kammermitglieder näher beleuchtet werden.

Die Besetzung der einzelnen Beschwerdekammern erfolgt nach einem Geschäftsverteilungsplan, der gemäß Regel 10 (1) EPÜ aufgestellt und in der ersten Ausgabe des Amtsblatts des betreffenden Jahres veröffentlicht wird. Im vorliegenden Fall war ABl. EPA 1996, 86 maßgebend.

Im Erteilungs- oder Einspruchsverfahren wird jede Beschwerde entsprechend der Klassifikation des technischen Gegenstands der betreffenden Patentanmeldung bzw. des betreffenden Patents einer bestimmten technischen Beschwerdekammer zugeteilt. Gemäß Artikel 1 (2) VOBK und Artikel 3 (1) des Geschäftsverteilungsplans bestimmt der Vorsitzende die Kammermitglieder, die für die Prüfung der einzelnen seiner Kammer zugewiesenen Beschwerden zuständig sein sollen, sobald die Beschwerde bei der Geschäftsstelle der Beschwerdekammern eingegangen ist. Dies bedeutet aber nicht unbedingt, daß der mit der Beschwerde befaßte Vorsitzende auch der Vorsitzende der betreffenden Kammer ist, weil dieser ja aus Gründen wie “Krankheit, Arbeitsüberlastung und unvermeidbaren Verpflichtungen” (Art. 2 (1) VOBK) durch seinen Vertreter ersetzt worden sein kann.

Am 21. November 1996 legte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent zu widerrufen, Beschwerde ein. Die Beschwerdeschrift ging den Beschwerdegegnerinnen zusammen mit einer Mitteilung vom 2. Dezember 1996 zu, wonach die Technische Beschwerdekammer 3.2.1 für diese Beschwerde zuständig war.

Nach der Praxis der Beschwerdekammern wurden die Beteiligten erstmals mit der am 15. Mai 1998 ergangenen Ladung zur mündlichen Verhandlung über die tatsächliche Zusammensetzung der Kammer unterrichtet. Nach Auffassung der jetzigen Kammer kann von einem Beteiligten nicht erwartet werden, daß er Einsicht in die Beschwerdeakte beantragt, um Aufschluß über die tatsächliche Zusammensetzung der Kammer zu erhalten.

4.2 Zum Zeitpunkt, zu dem eine Ablehnung nach Artikel 24 EPÜ erklärt werden konnte, ist folgendes anzumerken:

Die Beschwerdegegnerinnen I und II reichten Stellungnahmen zur Mitteilung der Kammer nach Artikel 11 (2) VOBK ein, die zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung ergangen war, und nahmen damit im Zeitraum zwischen der Ladung zur mündlichen Verhandlung und der am 23. Februar 1999 abgehaltenen mündlichen Verhandlung als Beteiligte am Beschwerdeverfahren eine Verfahrenshandlung oder einen Verfahrensschritt im Sinne des Artikels 24 (3) EPÜ vor.

Im Laufe der Verhandlung beantragten die Beschwerdegegnerinnen I bis III, daß der ursprüngliche Vorsitzende der Kammer aus den in Artikel 24 (1) EPÜ angeführten Gründen oder aufgrund seiner Ablehnung wegen “Besorgnis der Befangenheit” Artikel 24 (3) EPÜ vom weiteren Beschwerdeverfahren ausgeschlossen werden sollte.

Somit wurden zweierlei Ablehnungen ausgesprochen, nämlich zum einen eine Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ wegen der früheren Mitwirkung des Vorsitzenden in der Kammer, die die Entscheidung über die Erteilung des Streitpatents getroffen hatte, und zum anderen eine Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ, die auf der angeblich negativen Reaktion des Vorsitzenden auf die erste Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ beruhte. So wurde insbesondere die Androhung des Vorsitzenden, die Beschwerdegegnerin I habe die Kosten der mündlichen Verhandlung zu tragen, falls diese infolge der Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ verschoben werden müsse, von den Beschwerdegegnerinnen als Versuch angesehen, sie einzuschüchtern oder von der Erklärung einer solchen Ablehnung abzuhalten.

Damit war die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ eine direkte Folge der Vorkommnisse in der Verhandlung, nämlich der Vorbemerkungen des Vorsitzenden und seiner Haltung zur ersten Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ. Die Beschwerdegegnerinnen konnten also den Grund für die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ vor der mündlichen Verhandlung logischerweise noch gar nicht kennen. In der mündlichen Verhandlung reagierten sie dann sofort auf diese Vorkommnisse und erklärten die zweite Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ.

Damit ist im vorliegenden Fall das in Artikel 24 (3) Satz 2 EPÜ genannte Erfordernis erfüllt, wonach eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit zulässig ist, wenn der Beteiligte zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm der Ablehnungsgrund bewußt wird, im Verfahren noch keine Anträge gestellt oder Stellungnahmen abgegeben hat.

4.3 Vorbringen von Tatsachen und Argumenten

Wie bereits erläutert, beruhte die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ auf den Vorbemerkungen und der angeblich negativen Haltung des ursprünglichen Vorsitzenden zur ersten Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ. Damit wird auch die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ indirekt durch den einzigen Grund für die Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ gestützt, nämlich die Mitwirkung des ursprünglichen Vorsitzenden in der Kammer, die die Entscheidung über die Erteilung des Streitpatents getroffen hat.

Infolgedessen und angesichts der unter der Nummer X.ii dargelegten Tatsachen und Argumente ist die Kammer überzeugt, daß die zweite Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ klar dargelegt und ausreichend begründet wurde: Sie stützt sich nicht lediglich auf rein subjektive, unbegründete Zweifel, sondern auf einen unbestritten objektiven Grund, der für die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ eindeutig relevant ist bzw. mit ihr in Zusammenhang steht, nämlich auf die Mitwirkung des ursprünglichen Vorsitzenden in der Kammer, die die Entscheidung über die Erteilung des Streitpatents getroffen hat.

4.4 Daher hält die Kammer die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ für zulässig.

Ist wie im vorliegenden Fall die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ im Antrag der Beschwerdegegnerin zulässig, so erstreckt sich diese Zulässigkeit auch auf den gesamten Antrag, also auch auf die erste Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ, die allein darauf beruhte, daß der ursprüngliche Vorsitzende in der Kammer mitgewirkt hatte, die die Entscheidung über die Patenterteilung getroffen hat.

5. Begründetheit der Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ

Die Beschwerdegegnerinnen haben auf den Ausdruck “an deren abschließender Entscheidung in der Vorinstanz” in der deutschen Fassung des Artikels 24 (1) EPÜ hingewiesen, der mehrdeutig sei. Die Entsprechungen “decision under appeal” und “décision qui fait l’objet du recours” in der englischen bzw. französischen Fassung des Artikels 24 (1) EPÜ sind aber völlig eindeutig.

Die Kammer legt deshalb die eindeutige, wörtliche Bedeutung des Ausdrucks “decision under appeal” zugrunde, der das heißt, was da steht, nämlich im vorliegenden Fall die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das strittige Patent zu widerrufen. Dieser Einspruchsabteilung gehörte der ursprüngliche Vorsitzende ganz offensichtlich nicht an.

Außerdem beriefen sich die Beschwerdegegnerinnen auf den entsprechenden Artikel 9 (1) des noch nicht in Kraft getretenen Gemeinschaftspatentübereinkommens (GPÜ), wo es wie folgt heißt:

“(1) Die Mitglieder der Nichtigkeitsabteilungen dürfen nicht an der Erledigung einer Sache mitwirken, … oder an deren abschließender Entscheidung im Erteilungsverfahren oder Einspruchsverfahren sie mitgewirkt haben.”

Der Artikel 9 (1) GPÜ ist unbestreitbar weiter gefaßt als der Begriff “decision under appeal” in Artikel 24 (1) EPÜ; so ist nach diesem Artikel beim Einspruchsbeschwerdeverfahren ein Kammermitglied auszuschließen, das an einer “abschließenden Entscheidung im Erteilungsverfahren” mitgewirkt hat.

Die Formulierung “abschließende Entscheidung im Erteilungsverfahren oder Einspruchsverfahren” in Artikel 9 (1) GPÜ bietet allerdings keinen Anlaß dazu, auch den restriktiveren Wortlaut “decision under appeal” in Artikel 24 (1) EPÜ in diesem Sinn zu verstehen. Sie läßt lediglich den Schluß zu, daß der Gesetzgeber sehr wohl zwischen “abschließender Entscheidung in der Vorinstanz” und “abschließender Entscheidung im Erteilungsverfahren oder Einspruchsverfahren” unterscheiden kann, wenn er will. Im übrigen enthält das EPÜ anders als das GPÜ keine Bestimmung, wonach gegen “eine abschließende Entscheidung im Einspruchsverfahren” Beschwerde eingelegt werden kann, wie in Artikel 9 (1) GPÜ vorgesehen.

Somit ist die Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ nach Auffassung der Kammer nicht begründet und wird daher zurückgewiesen.

6. Begründetheit der Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ

Hier geht es um die Frage, ob bei einem Mitglied einer technischen Beschwerdekammer im Einspruchsverfahren “Befangenheit zu besorgen ist”, wenn es an der Entscheidung der früheren Kammer mitgewirkt hat, mit der die Zurückweisungsentscheidung der Prüfungsabteilung aufgehoben und das Streitpatent erteilt wurde.

6.1 Die Kammer schließt sich der in der Entscheidung T 261/88 (ABl. EPA 1992, 627) vertretenen Auffassung an, wonach eine den Ausschluß rechtfertigende Befangenheit voraussetzt, daß ein Mitglied der Beschwerdekammer einem Beteiligten gegenüber voreingenommen ist. Genauer gesagt liegt nach Ansicht der Kammer Befangenheit eines Kammermitglieds im Sinne des Artikels 24 (3) EPÜ vor, wenn dieses Mitglied eine vorgefaßte Meinung darüber haben könnte, wie in der Sache zu entscheiden ist. Eine solche vorgefaßte Meinung, die die Haltung eines Mitglieds in der Sache beeinflussen könnte, kann unter bestimmten besonderen Umständen aus seiner Mitwirkung an einer früheren Entscheidung in dieser Sache herrühren. Diese Voreingenommenheit kann durchaus dem löblichen Wunsch des Mitglieds entspringen, bei aufeinanderfolgenden Entscheidungen logisch und konsequent zu sein. Um dieser Gefahr vorzubeugen, haben die Verfasser des EPÜ entschieden, daß Mitglieder der Beschwerdekammern nicht an der Erledigung einer Sache mitwirken dürfen, an deren abschließender Entscheidung in der Vorinstanz sie mitgewirkt haben (Art. 24 (1) EPÜ).

Wie bereits erwähnt, geht das Gemeinschaftspatentübereinkommen in Artikel 9 (1) sogar noch weiter und dehnt den Ausschluß auf die Mitwirkung an der “abschließenden Entscheidung im Erteilungs- oder Einspruchsverfahren” aus.

Somit kennt das EPÜ – anders als das Gemeinschaftspatentübereinkommen – kein absolutes Verbot, was die frühere Mitwirkung eines Mitglieds an der Entscheidung über die Patenterteilung anbelangt. Das allgemeine Erfordernis des Artikels 24 (3) EPÜ, wonach bei Mitgliedern der Kammern keine Befangenheit zu besorgen sein sollte, gilt aber auch für den vorliegenden Fall und ist nach dem in der Entscheidung G 5/91 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1992, 617 – beschwerdefähige Entscheidung/DISCOVISION) dargelegten Grundsatz zu behandeln. Nach dieser Entscheidung läßt sich die Frage der Besorgnis der Befangenheit nur “unter Berücksichtigung der Sachlage im Einzelfall beantworten. … Bei diesen Erwägungen handelt es sich um Tat- und nicht um Rechtsfragen” (s. Nr. 6 der Entscheidungsgründe). Außerdem geht es in einem solchen Fall – wie der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu entnehmen ist – nicht um die Frage, ob das abgelehnte Kammermitglied tatsächlich befangen war, sondern lediglich darum, ob objektive oder verständliche Gründe dafür vorliegen, ein Mitglied der Befangenheit zu verdächtigen (s. Nr. 3 der Entscheidungsgründe).

6.2 Die Beschwerdeführerin weist zu Recht darauf hin, daß Artikel 24 EPÜ keine konkrete Aussage zur vorherigen Mitwirkung eines Kammermitglieds an der Entscheidung über die Erteilung des Patents enthält.

Nach Auffassung der Kammer darf die Mitwirkung eines Kammermitglieds an einer früheren Entscheidung über die Erteilung des Patents nicht dazu führen, daß dieses Mitglied der Voreingenommenheit verdächtigt wird, wenn beispielsweise die Prüfungsabteilung die Patentanmeldung wegen einer Erweiterung ihres Gegenstands (Art. 123 (2) EPÜ) zurückgewiesen hat und ein Einsprechender im anschließenden Einspruchsverfahren und im daraus resultierenden Beschwerdeverfahren nur mangelnde erfinderische Tätigkeit beanstandet hat. In einem solchen Fall ist es vernünftig, davon auszugehen, daß das Kammermitglied, das an der früheren Entscheidung mitgewirkt hatte, unvoreingenommen und unparteiisch ist und somit unbeeinflußt von seinem früheren Urteil entscheiden kann.

Es sind aber auch besondere Fälle denkbar, in denen ein Kammermitglied im Einspruchsverfahren über eine wichtige Frage zu befinden hat, über die im wesentlichen bereits im Erteilungsverfahren vor der früheren Kammer entschieden wurde, der auch das betreffende Mitglied angehörte. Daher ist im vorliegenden Fall zu untersuchen, ob der ursprüngliche Vorsitzende der Kammer im Einspruchsverfahren mit Fragen konfrontiert war, die nach Ansicht der Kammer für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung wichtig sind und die im wesentlichen mit denen identisch oder vergleichbar sind, die im Erteilungsverfahren geprüft und entschieden wurden. Ist dies der Fall, so könnte der ursprüngliche Vorsitzende eine vorgefaßte Meinung darüber haben, wie im Einspruchsbeschwerdeverfahren in dieser Sache zu entscheiden ist, und sollte daher wegen Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossen werden.

6.3 Wie bereits angeführt, wurde die Patentanmeldung im Erteilungsverfahren von der Prüfungsabteilung zurückgewiesen. Als Grund für die Zurückweisung wurde unter anderem genannt, daß das Verfahren zur Messung der Kohäsion unklar sei, weil der Abstand zwischen den untersten festen Stäben und dem Boden des zylindrischen Gefäßes mit dem Faserfüllmaterial nicht offenbart sei.

Um die Einwände auszuräumen, mit denen die Prüfungsabteilung die Art und Weise beanstandet hatte, wie die Kohäsionsmessung durchgeführt wird, erteilte die Beschwerdeführerin einem unabhängigen Forschungsinstitut den Auftrag, Kohäsionsmessungen zu verschiedenen mitgelieferten Mustern von Füllmaterial vorzunehmen, wobei ihm nur die in der Patentanmeldung enthaltenen Informationen vorlagen, die nichts über diesen Abstand aussagen. Das Institut baute folglich eine Testvorrichtung auf und nahm die Messungen vor, deren Ergebnisse unter Berücksichtigung der unter den Umständen zu erwartenden Fehlerquote mit den von der Beschwerdeführerin (Anmelderin) erzielten Ergebnissen übereinstimmten. Nachdem das Institut seine Ergebnisse vorgelegt hatte, wurde es gebeten, zum konkreten Einwand der Prüfungsabteilung Stellung zu nehmen. Es erklärte, der Abstand des untersten Stäbepaars zum Boden des zylindrischen Gefäßes hänge mehr oder weniger von der Kombination der anderen Faktoren und insbesondere der Länge der rechteckigen Zugvorrichtung, dem vertikalen Abstand zwischen den Stäbepaaren und der Höhe der Säule der Faserbällchen nach der Komprimierung ab (s. Entscheidung T 519/91, s. o., Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe).

Die frühere Beschwerdekammer im Erteilungsverfahren (deren Vorsitzender der abgelehnte ursprüngliche Vorsitzende war) erachtete die von der Beschwerdeführerin (Anmelderin) vorgelegten Beweismittel als “überzeugend” (s. Entscheidung T 519/91, s. o., Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe).

6.4 Im anschließenden Einspruchsverfahren vor der Einspruchsabteilung brachten die Einsprechenden zur Stützung der unzureichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ) vor, daß das Streitpatent dem Fachmann keine ausreichenden Angaben darüber liefere, wie die Kohäsionsmessung durchzuführen sei, und zwar vor allem deshalb, weil der Abstand zwischen dem Boden und den untersten festen Stäben in der Vorrichtung nicht offenbart sei. Sie legten Beweismittel vor, die angeblich zeigten, daß eine Veränderung dieses Abstands zu großen Abweichungen bei den Meßwerten führe.

In ihrer Widerrufsentscheidung befand die Einspruchsabteilung, daß die beanspruchte Erfindung gegenüber den Entgegenhaltungen nicht erfinderisch sei. Die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ seien aber erfüllt. Sie verwies auf die frühere Entscheidung T 519/91 der Beschwerdekammer 3.2.1, in der es hieß, daß die Kohäsionsmessungen so deutlich offenbart seien, daß sie von einem Fachmann durchgeführt werden könnten. Die Einspruchsabteilung sehe keinen Grund, von dieser Meinung abzurücken.

Im Einspruchsbeschwerdeverfahren sprachen die Beschwerdegegnerinnen der beanspruchten Erfindung die Patentierbarkeit ab und wiederholten ihre Einwände bezüglich der unzureichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ). Ihrer Auffassung nach habe die frühere Entscheidung T 519/91 aus dem Erteilungsverfahren keine bindende Wirkung für das Einspruchsbeschwerdeverfahren. Außerdem verwiesen sie auf die Entscheidung T 167/93 (ABl. EPA 1997, 229), in der festgestellt werde, daß eine Entscheidung einer Beschwerdekammer über eine Beschwerde gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung für das nachfolgende Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren keine Bindungswirkung habe, weil der Grundsatz der “res judicata” (Rechtskraftwirkung) in einem solchen Fall keine Anwendung finde.

In der Mitteilung der Kammer nach Artikel 11 (2) VOBK, die zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung erging, hieß es unter anderem, daß die Kohäsionsmessung offensichtlich der wichtigste Aspekt des Streitpatents für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei.

6.5 Daraus wird deutlich, daß die im Einspruchsverfahren befaßte Kammer, der der ursprüngliche abgelehnte Vorsitzende angehörte, über eine wichtige Frage entscheiden mußte, die von der früheren Kammer mit demselben Vorsitzenden bereits im Erteilungsverfahren entschieden worden war, nämlich über die Frage, ob die Beschreibung und die Zeichnungen dem Fachmann ausreichende Informationen zur Durchführung der Kohäsionsmessung lieferten und, genauer gesagt, ob der Fachmann bei Durchsicht der Beschreibung und der Zeichnungen in der Lage war, die Kohäsionsmessung ohne Angaben zum Abstand des untersten Stäbepaars vom Boden des zylindrischen Gefäßes vorzunehmen. Mit anderen Worten war der im Einspruchsverfahren vor der Kammer abgelehnte ursprüngliche Vorsitzende unter diesen besonderen Umständen gezwungen, sein eigenes früheres Urteil entweder zu bestätigen oder zu verwerfen. Genau diese Situation wollte der Gesetzgeber aber vermeiden, als er festlegte, daß ein Kammermitglied ausgeschlossen werden soll, das an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, um Unparteilichkeit und Objektivität der Kammermitglieder zu gewährleisten (vgl. Art. 24 (1) EPÜ bzw. Art. 9 (1) GPÜ).

Somit hatten die Beschwerdegegnerinnen berechtigte Gründe zu der Annahme, dieser Vorsitzende könnte Schwierigkeiten haben, die Sache unvoreingenommen erneut zu prüfen und darüber zu entscheiden.

Aus diesen Gründen gelangt die Kammer zu der Schlußfolgerung, daß der Einwand nach Artikel 24 (3) EPÜ zulässig ist.

Es ist darauf hinzuweisen, daß dieser Fall ganz besonders gelagert ist. Heikel daran ist i), daß der abgelehnte ursprüngliche Vorsitzende bereits Vorsitzender der früheren Kammer im Erteilungsverfahren war, und ii), daß er als Vorsitzender der Kammer im anschließenden Einspruchsverfahren bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ) im wesentlichen über dieselbe Kernfrage zu entscheiden hatte.

6.6 Artikel 19 (2) EPÜ sieht unter anderem vor, daß ein Prüfer, der im Verfahren zur Erteilung des europäischen Patents mitgewirkt hat, nicht den Vorsitz in der Einspruchsabteilung führen kann. Die Kammer hat durchaus Verständnis für das Argument der Beschwerdeführerin, daß ein solches Verbot unter den dargelegten Umständen um so mehr für die zweite Instanz gelten sollte, der im europäischen Patentsystem richterliche Funktion auf höchster Ebene zukommt. Wie bereits erläutert, war diese Tatsache einer der entscheidenden Punkte, die die Kammer dazu bewogen, die Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ für zulässig zu befinden.

7. Nachdem die Kammer zu dem Schluß gelangt ist, daß der ursprüngliche Vorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit auszuschließen ist, und zwar im wesentlichen deshalb, weil er an der Entscheidung der früheren Kammer über die Erteilung des Streitpatents mitgewirkt hat, kann die Frage unbeantwortet bleiben, ob sein angebliches Verhalten in der mündlichen Verhandlung zu einer weiteren begründeten Ablehnung nach Artikel 24 (3) EPÜ Anlaß geben könnte.

8. Bezüglich der Ausschließung des ursprünglichen technisch vorgebildeten und des ursprünglichen rechtskundigen Mitglieds vom weiteren Einspruchsverfahren vor der Kammer ist folgendes anzumerken:

Die Beschwerdeführerin erklärt zu Recht, daß die in der Mitteilung der Kammer vom 8. September 1999 angekündigte Ausschließung dieser beiden Mitglieder nur für das Verfahren über eine etwaige Ausschließung des ursprünglichen Vorsitzenden galt.

Die beiden Mitglieder haben sich aber selbst für befangen erklärt, und das rechtskundige Mitglied hat in seiner Erklärung darauf hingewiesen, daß es eine Mitwirkung als Mitglied der Kammer im weiteren Beschwerdeverfahren entschieden ablehne. Der Kammer erscheint die angegebene Begründung überzeugend.

Außerdem könnte im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens die Entscheidung einer Kammer, der zwei Mitglieder angehören, die zuvor wegen Besorgnis der Befangenheit von einem Teil des Verfahrens ausgeschlossen wurden, auch bei der Öffentlichkeit verständliches Mißtrauen oder gar den Verdacht wecken, die Kammer sei in dieser Besetzung nicht unbefangen gewesen. Grundsätzlich gilt, daß nicht unparteilich entschieden werden muß, sondern daß dies auch sichtbar werden muß.

Daher gilt die Ausschließung des ursprünglichen technisch vorgebildeten und des ursprünglichen rechtskundigen Mitglieds der Kammer nach Auffassung der Kammer auch für das Einspruchsbeschwerdeverfahren vor der Kammer.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Der ursprüngliche Vorsitzende der Kammer wird aus dem weiteren Einspruchsbeschwerdeverfahren ausgeschlossen.

2. Die Ausschließung des ursprünglichen technisch vorgebildeten und des ursprünglichen rechtskundigen Mitglieds der Kammer gilt auch für das weitere Einspruchsbeschwerdeverfahren.