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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1998:T037795.19980805
Datum der Entscheidung: 05 August 1998
Aktenzeichen: T 0377/95
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: G 0003/98
Anmeldenummer: 83901021.2
IPC-Klasse: A61K 39/245
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: MATERIAL UND VERFAHREN FÜR HERPES SIMPLEX VIRUSIMPFUNG
Name des Anmelders: University Patents, Inc.
Name des Einsprechenden: SmithKline Beecham Biologicals SA
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Wenn einer europäischen Patentanmeldung eine Priorität zuerkannt wird, ist dann für die Zwecke des Artikels 55 (1) EPÜ die Frist von 6 Monaten “vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung” vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung (Prioritätstag) oder vom tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen?
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 55
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 66
European Patent Convention 1973 Art 87
European Patent Convention 1973 Art 89
European Patent Convention 1973 Art 112
Paris Convention Art 4
Paris Convention Art 19
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 31
Vienna Convention on the Law of Treaties (1969) Art 32
Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms Art 6(1)
Strasbourg Convention Art 004
Schlagwörter: Mißbrauch
Neuheitsschonfrist
Prioritätstag
Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ
Befassung der Großen Beschwerdekammer
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/83
G 0001/88
G 0003/93
J 0004/91
T 0301/87
T 0261/88
T 0173/89
T 0830/90
T 0027/92
T 0436/92
T 0585/92
T 0356/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0003/08
T 0535/95
T 1045/98
T 0542/03
T 1465/07
T 1149/09

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 7. April 1995, mit der das Streitpatent in geändertem Umfang aufrechterhalten wurde.

II. Die vorliegende Entscheidung beschränkt sich auf den ersten Hilfsantrag der Beschwerdeführerin/Patentinhaberin, der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 EPÜ die Frage nach dem Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ vorzulegen, der auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgehende Offenbarungen betrifft.

III. Für die Entscheidung der Kammer über diese Rechtsfrage sind folgende Tatsachen erheblich:

Auf dem 17. Internationalen Kongreß über das Herpesvirus bei Mensch und Tier vom 7. – 9. Dezember 1981 in Lyon, Frankreich, hielt Frau Dr. Pereira einen Vortrag (nachstehend “Pereira-Vortrag” genannt). Beide Beteiligten stimmen darin überein, daß sie bei dieser Gelegenheit zwei Lichtbilder mit Daten zeigte, die auch in der ersten prioritätsbegründenden Anmeldung und in der europäischen Patentanmeldung, um die es hier geht, enthalten waren (Tabellen 3 und 4). Die Erfinder (denen Frau Dr. Pereira im Rahmen einer Zusammenarbeit Antikörper aus ihrem Laboratorium geliefert hatte) veröffentlichten im März 1982 im “Journal of Virology”, 43:1099-1104, einen Artikel über ihre Forschungsergebnisse, allerdings ohne diese Daten zu erwähnen. Frau Dr. Pereira wurde als Mitverfasserin des Artikels genannt. Der erste von der Patentinhaberin beanspruchte Prioritätstag ist der 18. Februar 1982 (US-Patent 350021). Der zweite beanspruchte Prioritätstag ist der 4. Februar 1983 (US-Patent 463141). Die fragliche europäische Patentanmeldung wurde am 14. Februar 1983 eingereicht.

IV. Es geht um die Frage, ob eine Offenbarung innerhalb von 6 Monaten vor dem Prioritätstag einer europäischen Patentanmeldung unter den Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ fällt, so daß, falls diese Frage bejaht wird, eine Offenbarung, die im Sinne dieser Bestimmung auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgeht, als unschädlich gilt und folglich nicht zum Stand der Technik gehört.

V. Zur Frage der richtigen Auslegung des Artikels 55 EPÜ machen die Beteiligten im wesentlichen folgendes geltend:

Die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin

a) Um den Stand der Technik definieren zu können, der für eine Entscheidung nach Artikel 100 a) EPÜ in Betracht zu ziehen sei, müsse die Kammer zunächst entscheiden, ob der Pereira-Vortrag auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seiner Rechtsvorgänger nach Artikel 55 (1) a) EPÜ zurückgehe und, falls dies bejaht werde, ob der maßgebende Tag für die Berechnung der Sechsmonatsfrist gemäß diesem Artikel die Unionspriorität oder der Tag der Einreichung der europäischen Patentanmeldung sei.

b) Die Einspruchsabteilung habe die erste Frage nicht beantwortet, aber die Anwendbarkeit des Artikels 55 (1) a) EPÜ auf den vorliegenden Fall mit der Begründung verneint, der Pereira-Vortrag sei mehr als 6 Monate vor der tatsächlichen Einreichung der vorliegenden europäischen Patentanmeldung gehalten worden. Damit habe sie eine frühere Entscheidung einer anderen Einspruchsabteilung – in der Sache Passoni/Stand Structure, veröffentlicht in EPOR 1992, 79 – nicht berücksichtigt, der zufolge Artikel 55 EPÜ auf die Sechsmonatsfrist vor dem Prioritätstag einer europäischen Patentanmeldung anwendbar sei.

c) Artikel 89 EPÜ besage, daß das Prioritätsrecht die Wirkung hat, daß der Anmeldetag einer Unionsanmeldung (Prioritätsanmeldung) als Tag der europäischen Patentanmeldung gilt. Die Artikel 55 und 56 EPÜ bezögen sich ebenfalls auf Vorveröffentlichungen und auf den Stand der Technik und ergänzten Artikel 54 EPÜ, auf den sie ausdrücklich verwiesen. Deshalb müsse sich der Tag der “Einreichung der europäischen Patentanmeldung” nach Artikel 55 (1) EPÜ mit dem in Artikel 54 (2) EPÜ genannten Tag decken, und der “Stand der Technik” müsse für die Zwecke der Artikel 54 (1) und 56 EPÜ ein und derselbe sein.

d) Das Argument, Artikel 55 EPÜ könne nur so ausgelegt werden, daß er sich auf die tatsächliche Einreichung der europäischen Patentanmeldung beziehe, da er in Artikel 89 EPÜ nicht erwähnt sei, lasse außer acht, daß auch Artikel 56 EPÜ dort nicht erwähnt sei. Niemand schließe daraus, daß bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit einer Anmeldung eine Priorität nicht berücksichtigt werden solle. Dieselbe rechtliche Konstruktion müsse deshalb für Artikel 55 EPÜ gelten, in dem es um besondere Fälle der Anwendung des Artikels 54 EPÜ gehe. Werde der “Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung” in Artikel 54 (2) EPÜ in Anbetracht des Artikels 89 EPÜ effektiv durch den Prioritätstag ersetzt, so müsse dies zwangsläufig auch für die “Einreichung der europäischen Patentanmeldung” in Artikel 55 (1) EPÜ gelten.

e) Es wäre zutiefst ungerecht, wenn der Anmelder, der die erste Anmeldung innerhalb von 6 Monaten nach der Offenbarung eingereicht habe, dafür bestraft würde, daß er nicht auch die europäische Anmeldung innerhalb dieses Zeitraums eingereicht habe. In mehr als 90 % aller europäischen Patentanmeldungen werde eine frühere Unionspriorität in Anspruch genommen. Schränke das EPA in der Praxis die Anwendung des Artikels 55 EPÜ ein, so werde der durch diese Bestimmung vorgesehene Schutz von Prioritätsrechten illusorisch. Die Patentinhaberin habe von der Offenbarung durch Frau Dr. Pereira erst 1992 erfahren.

f) Deshalb solle der Großen Beschwerdekammer die folgende Frage vorgelegt werden:

Wenn die Artikel 54 und 55 EPÜ auf die Offenbarung einer Erfindung angewandt werden, die unmittelbar oder mittelbar auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seiner Rechtsvorgänger zurückgeht, endet dann die sechsmonatige Schonfrist nach Artikel 55 (1) a) EPÜ am Prioritätstag oder am späteren europäischen Anmeldetag?

Beschwerdeführerin/Einsprechende

g) Die Ansprüche 1 und 2 des Patents in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung seien in Anbetracht des Pereira-Vortrags nicht neu. Artikel 55 EPÜ sei auf diese Offenbarung nicht anwendbar, da sie mehr als 12 Monate vor der Einreichung der europäischen Anmeldung stattgefunden habe. Das EPÜ lasse daran insofern keinen Zweifel, als nach Artikel 89 EPÜ der Anmeldetag nur für die Zwecke der Artikel 54 (2), 54 (3) und 60 (2) EPÜ – nicht aber des Artikels 55 EPÜ – durch den Prioritätstag ersetzt werden könne. Artikel 55 EPÜ bezwecke eine Abwägung der berechtigten Interessen eines potentiellen Patentinhabers, dem Unrecht widerfahren sei, gegen die Interessen der Allgemeinheit. Damit ein Patentinhaber von der in Artikel 55 EPÜ enthaltenen Ausnahmeregelung profitieren könne, müsse er schnell handeln und eine europäische Patentanmeldung einreichen. Geschehe dies nicht innerhalb von 6 Monaten nach der Offenbarung, so werde dem Erfordernis des Artikels 55 EPÜ nicht Genüge getan, so daß es der Öffentlichkeit dann freistehe, von der Offenbarung Gebrauch zu machen.

h) In der Entscheidung T 173/83 werde – wenn auch nur als obiter dictum – bemerkt, die vorbereitenden Arbeiten zur Münchner Diplomatischen Konferenz zeigten, daß der Wortlaut des Artikels 55 EPÜ ausdrücklich gewählt worden sei, um sicherzustellen, daß diese Frist nicht an den Prioritätstag, sondern an den tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung geknüpft werde. Die Pereira-Offenbarung falle demzufolge nicht unter Artikel 55 EPÜ und gehöre somit zum Stand der Technik.

i) Es sei nicht nötig, die Große Beschwerdekammer mit dieser Frage zu befassen, da die Kammer ohne weiteres selbst über diese Rechtsfrage entscheiden könne, wobei sie sich von den Bemerkungen der Kammer in der Entscheidung T 173/83 leiten lassen solle. Ferner sei die Frage für das weitere Schicksal des Patents nicht entscheidend, da es ohnehin durch eine andere Druckschrift (Madras-Dissertation, Druckschrift A 1) vorweggenommen werde. Sie sei nicht einmal für die Frage des Artikels 55 EPÜ ausschlaggebend, da die Patentinhaberin einen offensichtlichen Mißbrauch nicht nachgewiesen habe.

Entscheidungsgründe

Zulässigkeit

1. Beide Beschwerden sind zulässig.

Geltungsbereich des Artikels 55 (1) a) EPÜ – Praxis des EPA

2. Bislang gibt es keine Entscheidung einer Beschwerdekammer, in der die hier zur Debatte stehende Frage gelöst worden wäre. Die Kammern haben den Geltungsbereich des Artikels 55 (1) a) EPÜ in einer Reihe von Fällen erörtert, aber nicht darüber entschieden, weil die betreffenden Offenbarungen nach ihrer Erkenntnis nicht – wie in diesem Artikel vorausgesetzt – auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgingen (siehe z. B. die Entscheidungen T 173/83, ABl. EPA 1987, 465; T 830/90, ABl. EPA 1994, 713; T 436/92 vom 20. März 1995 und T 585/92 vom 9. Februar 1995).

Es sei schon jetzt darauf hingewiesen, daß der Geltungsbereich, der hier für richtig befunden wird, auch für Fälle nach Artikel 55 (1) b) EPÜ gilt, der Offenbarungen auf bestimmten internationalen Ausstellungen betrifft.

3. Keine Gesetzesbestimmung kann jedoch auf einen Sachverhalt angewandt werden, wenn nicht zuvor geklärt worden ist, daß sie auf ebendiesen Sachverhalt rechtlich anwendbar ist. Entgegen der Annahme der Patentinhaberin, als erstes müsse die Frage entschieden werden, ob der Pereira-Vortrag auf einen offenkundigen Mißbrauch zurückgehe, muß die Kammer somit zunächst die Frage nach dem Geltungsbereich des Artikels 55 (1) a) EPÜ prüfen. Daraus folgt weiter, daß das Argument der Einsprechenden, auf die Beantwortung der Frage nach dem Geltungsbereich komme es nicht an, solange ein offensichtlicher Mißbrauch nicht nachgewiesen sei, ebenfalls fehlgeht. Erweist es sich, daß diese Bestimmung nur für die Sechsmonatsfrist vor der tatsächlichen Einreichung der europäischen Patentanmeldung gilt, stellt sich die Frage nach einer unschädlichen Offenbarung erst gar nicht, und der Pereira-Vortrag gehört zum Stand der Technik.

4. Die einzige Entscheidung einer Instanz des EPA, in der es um diese Frage geht, ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 8. Juli 1991 über die Anmeldung Nr. 82 107 958.9, der sogenannte Passoni-Fall. Darin wurde festgestellt, daß – bei Abwägung aller Umstände – zwingende Gründe dafür sprächen, Artikel 55 (1) a) EPÜ auf die Sechsmonatsfrist vor dem Prioritätstag einer europäischen Patentanmeldung anzuwenden. Das Hauptargument der Einspruchsabteilung scheint gewesen zu sein, daß der durch die Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) garantierte Anspruch auf Prioritätsrechte gewahrt werden müsse. Es wurde festgestellt, daß in der großen Mehrheit der beim EPA eingereichten Anmeldungen eine Priorität in Anspruch genommen werde. Da das EPÜ ein regionales Abkommen nach Artikel 19 PVÜ sei, müsse das Übereinkommen zwangsläufig PVÜ-konform ausgelegt werden. Dies bedeute, daß das EPA einem Anmelder nicht mitteilen dürfe, er verliere sein Patent, weil er seine Anmeldung zunächst bei einem nationalen Amt eingereicht habe, was nicht geschehen wäre, wenn er die Anmeldung unmittelbar beim EPA eingereicht hätte. In diesem Zusammenhang hat die Einspruchsabteilung auch auf Artikel 66 EPÜ verwiesen, der garantiere, daß eine europäische Patentanmeldung, deren Anmeldetag feststehe, die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Hinterlegung habe, gegebenenfalls mit der für die europäische Patentanmeldung in Anspruch genommenen Priorität.

5. In der von der Einsprechenden angeführten Entscheidung T 173/83 (a. a. O.) wurde diese Frage nicht geklärt. Die Kammer stellte darin fest, daß Artikel 55 (1) a) EPÜ anscheinend auf die Sechsmonatsfrist vor dem tatsächlichen Einreichungstag beschränkt sei, auch wenn hierzu keine einhellige Lehrmeinung vorliege; sie gelangte aber zu dem Schluß, daß auf diese Frage nicht eingegangen werden müsse, da die Offenbarung nicht auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgehe (Nr. 5 der Entscheidungsgründe).

6. In der Entscheidung T 830/90 (a. a. O.) machte sich die Kammer dieselbe Betrachtungsweise zu eigen und kam zu dem Ergebnis, es erübrige sich, auf die Frage der Unschädlichkeit der Offenbarung nach Artikel 55 (1) a) EPÜ einzugehen, da der Beweis der offenkundigen Vorbenutzung nicht lückenlos erbracht sei (Nr. 4 der Entscheidungsgründe).

7. In der Entscheidung T 436/92 (a. a. O.) führte die Kammer aus, daß eigentlich zuerst über die Anwendbarkeit des Artikels 55 EPÜ entschieden werden müsse; da sie aber einen offensichtlichen Mißbrauch nicht festgestellt habe, könne auf eine Erörterung dieses Punkts verzichtet werden, wobei sie davon ausgehe, daß der Artikel für die Sechsmonatsfrist vor dem Prioritätstag gelte (Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe).

8. In der Entscheidung T 585/92 (a. a. O.) wurde auf die Feststellung in der Entscheidung T 173/83 (a. a. O.) verwiesen, daß über den Geltungsbereich des Artikels 55 (1) a) EPÜ nicht entschieden werden müsse, wenn eine Offenbarung nicht auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgehe.

Artikel 55 (1) a) und 89 EPÜ

9. Artikel 55 (1) a) EPÜ lautet einschließlich Überschrift wie folgt:

“Unschädliche Offenbarungen

(1) Für die Anwendung des Artikels 54 bleibt eine Offenbarung der Erfindung außer Betracht, wenn sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung erfolgt ist und unmittelbar oder mittelbar zurückgeht:

a) auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers oder”

10. Artikel 89 EPÜ lautet einschließlich Überschrift wie folgt:

“Wirkung des Prioritätsrechts

Das Prioritätsrecht hat die Wirkung, daß der Prioritätstag als Tag der europäischen Patentanmeldung für die Anwendung des Artikels 54 Absätze 2 und 3 sowie des Artikels 60 Absatz 2 gilt.”

11. Schon von ihrem Wortlaut her unterscheiden sich diese Bestimmungen insofern, als in Artikel 55 EPÜ von der “Einreichung der europäischen Patentanmeldung”, in Artikel 89 EPÜ hingegen vom “Tag der europäischen Patentanmeldung” die Rede ist (entsprechende Unterschiede finden sich auch in der englischen und der französischen Fassung des EPÜ). Dies könnte darauf hindeuten, daß der Unterschied nicht rein zufällig ist, daß die Gesetzgeber hier differenzieren wollten und daß sie dies mit der Absicht getan haben könnten, den Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ einzuschränken.

12. Eine solche absichtliche Einschränkung des Geltungsbereichs könnte aus den vorbereitenden Arbeiten zu Artikel 55 (1) EPÜ hervorgehen. Ausweislich der deutschen Fassung des Dokuments M/PR/I, Seite 30, Nummer 61 der Münchner Diplomatischen Konferenz über das EPÜ erläuterte der Vorsitzende auf eine Frage der niederländischen Delegation, daß unter “Anmeldetag” (wie in Art. 54 (2) EPÜ) der “Tag der Einreichung” (wie in Art. 55 EPÜ in seiner endgültigen Fassung) zu verstehen sei. Später wurde auch der Wortlaut entsprechend geändert.

13. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß einige Delegationen in den Verhandlungen vor der Diplomatischen Konferenz gegen eine Schonfrist waren – da in ihren nationalen Patentgesetzen das Konzept der absoluten Neuheit festgeschrieben war – und deshalb daran interessiert gewesen sein könnten, die Ausnahme soweit wie möglich einzuschränken (siehe z. B. Dok. IV/2767/61/Brüssel, 1. Sitzung der Arbeitsgruppe “Patente”, 17. – 28. April 1961 und Dok. 6551/IV/62/Brüssel, 6. Sitzung der Arbeitsgruppe “Patente”, 13. – 23. Juni 1962). Verschiedene Delegationen sprachen sich auch dafür aus, die Vorschrift mit der entsprechenden Vorschrift in einem Vorschlag für ein Übereinkommen über materielles Patentrecht zu harmonisieren, der seinerzeit im Europarat erörtert wurde (1963 angenommen als Straßburger Übereinkommen zur Vereinheitlichung gewisser Begriffe des materiellen Rechts der Erfindungspatente, Art. 4 (4) a)). Auf der Münchner Diplomatischen Konferenz wurden eine Reihe von Vorschlägen zur Änderung des Artikels 55 EPÜ erörtert, so auch die Frage der niederländischen Delegation (siehe M/PR/I, S. 30).

Auslegung internationaler Verträge

14. Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA ist das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1974 auf das EPÜ anwendbar (siehe G 1/83, ABl. EPA 1985, 60). Die Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens enthalten nützliche Richtlinien für die richtige Auslegung internationaler Übereinkommen.

15. Die grundlegende Auslegungsmethode findet sich in Artikel 31.1 des Wiener Übereinkommens, wonach ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist. Dies entspricht der sogenannten teleologischen Methode, bei der der Richter die Absichten des Gesetzgebers so genau wie möglich beachtet und die Bestimmungen des Vertrags in ihrem üblichen Sinn und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie stehen, auffaßt. Dieser Grundsatz wird von den Beschwerdekammern anerkannt, siehe zum Beispiel die Entscheidungen G 1/88, ABl. EPA 1989, 189, J 4/91, ABl. EPA 1992, 402 und T 356/93, ABl. EPA 1995, 545.

16. Artikel 31.2 des Wiener Übereinkommens sieht als mit diesem Vertrag außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen zusammenhängend jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft an, die zwischen allen Vertragsparteien anläßlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde, und jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anläßlich des Vertragsabschlusses abgefaßt und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde.

17. Da der Begriff “Zusammenhang” in Artikel 31.2 des Wiener Übereinkommens ausführlich definiert wird, ist diese Bestimmung wahrscheinlich als erschöpfend anzusehen. Dies würde bedeuten, daß Vereinbarungen zwischen lediglich einigen der anwesenden Delegationen oder in einem späteren Stadium geschlossene Übereinkünfte nicht zum “Zusammenhang” eines Vertrags gehören, wenn sie nicht von allen anderen Vertragsparteien bestätigt werden.

18. Dieses Verständnis des Begriffs “Zusammenhang” hat auch Einfluß auf dasjenige des Artikels 31.3 des Wiener Übereinkommens, wonach jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien und jede spätere Übung, aus der ihre Übereinstimmung hervorgeht, in gleicher Weise berücksichtigt werden können. Auch hier müßten aufgrund der Definition des Begriffs “Zusammenhang” in Artikel 31.2 des Wiener Übereinkommens alle Vertragsparteien die Übereinkunft geschlossen haben, damit sie als Teil des “Zusammenhangs” gilt.

19. Schließlich wird in Artikel 32 des Wiener Übereinkommens erwähnt, daß die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses als ergänzende Auslegungsmittel herangezogen werden können, “um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung einer Bestimmung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31: a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt” (Hervorhebung durch die Kammer).

20. Artikel 32 des Wiener Übereinkommens scheint Artikel 31 dieses Übereinkommens zu ergänzen und auf die erwähnten Umstände beschränkt zu sein, d. h., wenn eine Bestimmung bei Anwendung des Verfahrens nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens mehrdeutig oder dunkel erscheint oder zu unvernünftigen Ergebnissen führt.

21. Wendet man diese Grundsätze auf die einschlägigen Bestimmungen des EPÜ an, d. h. die Artikel 55 und 89, so kann man zu dem Schluß gelangen, daß die Terminologie folgerichtig gewählt wurde, wenn der Gesetzgeber tatsächlich zwischen den Bedingungen für Prioritätsrechte nach Artikel 89 EPÜ und den Bedingungen, unter denen ein Mißbrauch nach Artikel 55 (1) a) EPÜ geltend gemacht werden kann, differenzieren wollte.

22. Wie in der Entscheidung T 436/92, Nummer VI, festgestellt wurde, ist nach den nationalen Patentgesetzen einer Reihe von EPÜ-Vertragsstaaten, beispielsweise Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande, Italiens und Schwedens, die Einrede des Mißbrauchs ebenfalls nur beschränkt möglich.

23. Andererseits scheint das schweizerische Patentgesetz ausweislich des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts vom 19. August 1991 in der Sache S. GmbH ./. B. AG, siehe GRUR Int. 1992, Seite 293 ff., den umfassenderen Geltungsbereich zugelassen zu haben.

24. Daraus ließe sich folgern, daß unter den EPÜ-Vertragsstaaten weitgehende Übe reinstimmung – wenn nicht gar ein Konsens – darüber besteht, daß der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Verabschiedung des EPÜ das Recht, einen Mißbrauch geltend zu machen, auf die Sechsmonatsfrist vor dem tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Anmeldung beschränken wollte.

25. Diese Kammer hält es jedoch für erforderlich, diese Frage weiter zu prüfen, denn das Ergebnis einer solchen Auslegung des Artikels 55 (1) a) EPÜ könnte, wie nachstehend erörtert, zu einem unvernünftigen Ergebnis führen.

Sonstige Gesichtspunkte bei der Auslegung eines internationalen Vertrags

26. Bei einer anderen Auslegungsmethode, der dynamischen oder evolutiven, können die für die Anwendung einer bestimmten Rechtsvorschrift zuständigen Instanzen die ursprünglich beabsichtigte Bedeutung einer Bestimmung im Lauf der Zeit anpassen, wenn sich die Umstände und/oder die Auffassungen so geändert haben, daß die ursprüngliche Absicht nicht mehr akzeptabel erscheint. Dies kann der Fall sein, wenn beispielsweise Gesichtspunkten Rechnung getragen werden sollte, die der ursprüngliche Gesetzgeber entweder nicht berücksichtigen konnte, weil es sie noch nicht gab, oder zum damaligen Zeitpunkt als nicht wichtig genug eingeschätzt hatte, als daß sie die betreffende Bestimmung beeinflussen könnten. Die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lassen diese Auslegungsmethode gelten, siehe Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, in Macdonald et al., The European System for the Protection of Human Rights, Kluwer Academic Publishers, 1993, Seite 63 ff.

27. Bei der Wahl der Auslegungsmethode muß u. a. die Häufigkeit berücksichtigt werden, mit der Prioritäten für europäische Patentanmeldungen in Anspruch genommen werden; nach Loth (Artikel 55, Europäisches Patentübereinkommen, Münchner Gemeinschaftskommentar, 13. Lieferung, Januar 1990, Seite 31) lag sie in den 80er Jahren bei rund 94 %.

28. Ein weiterer Aspekt ist der Zeitfaktor, d. h. die Dauer der Bearbeitung von Patentanmeldungen. Von den 50er bis zu den 70er Jahren, als im Europarat und in der EWG ein europäisches Patentsystem erörtert wurde, könnte die Befürchtung bestanden haben, daß es zu langwierigen Streitigkeiten wegen einer Patentanmeldung kommen könnte, wenn sich der Patentinhaber auf einen Mißbrauch beruft. Da man sich jedoch im EPÜ für das der Patenterteilung nachgeschaltete Einspruchsverfahren entschieden hat, hat sich das Verfahren vor der Patenterteilungsbehörde ohnehin verlängert. Deshalb dürfte das Zeitargument für das EPÜ nicht dasselbe Gewicht wie für nationale Patentsysteme haben, die weiter eine Bekanntmachung der Erteilungsabsicht vorsehen, damit die Öffentlichkeit die Anmeldung vor der Erteilung einsehen und Einwände erheben kann.

29. Gegen einen umfassenden Geltungsbereich könnte daneben auch sprechen, daß sich Streitigkeiten im Einspruchsverfahren über Gebühr verlängern würden, weil Beweismittel einschließlich Zeugenaussagen beigebracht werden müßten. Dieses Argument, das zu den Zeiten seine Berechtigung hatte, als noch innerhalb von einem oder zwei Jahren Anmeldungen geprüft und Patente erteilt werden konnten, scheint bei einem internationalen System wie dem europäischen Patentsystem weniger stichhaltig zu sein, wo die Laufzeit eines Patents schon zur Hälfte abgelaufen sein kann, bevor eine Instanz des EPA eine abschließende Entscheidung trifft.

30. Beweismittel lange nach dem Eintritt eines Ereignisses zu bewerten, kann schwierig sein, und dies ist ein weiterer Gesichtspunkt des Zeitfaktors, der den Gesetzgeber bei der Abfassung des Artikels 55 EPÜ beeinflußt haben mag. Die Erörterungen auf der Münchner Diplomatischen Konferenz (u. s.) zeigen jedoch, daß der Mißbrauch, an den die Delegationen dachten, Patentanmeldungen Dritter betraf, die keinen Anspruch auf die betreffende Erfindung hatten. Zu ermitteln, wem das rechtmäßige Eigentum an einer Erfindung zusteht, dürfte normalerweise im Lauf der Zeit nicht schwieriger werden, während der Zeitfaktor die Aussichten verschlechtern könnte, ausreichende stichhaltige Beweismittel für die Begleitumstände einer Vorbenutzung zu finden.

31. Ob für die Auslegung eines internationalen Vertrags wie des EPÜ eine dynamische Methode gewählt werden soll, kann auch noch von anderen Faktoren abhängen. So könnten etwa wesentliche Verfahrensgrundsätze wie die rechtliche Gleichbehandlung der Beteiligten den Ausschlag geben.

32. Ob die betreffende Bestimmung eng ausgelegt werden sollte, weil sie eine Abweichung von dem im EPÜ verankerten Grundkonzept der absoluten Neuheit darstellt, muß ebenfalls geprüft werden. Eine solche Vorgehensweise muß gegen das berechtige Interesse der Anmelder daran abgewogen werden, daß sie für ihre erfinderischen Beiträge zum Stand der Technik zumindest dann ein Patent erhalten, wenn sie die öffentliche Zugänglichkeit nicht zu vertreten hatten.

Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) von 1950

33. Diese Konvention, die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern als maßgebend für das EPÜ anerkannt worden ist (siehe z. B. die Entscheidungen T 261/88, ABl. EPA 1992, 627 und T 27/92, ABl. EPA 1994, 853), legt wesentliche Verfahrensgrundsätze fest, die den Anspruch der Beteiligten auf ein faires und öffentliches Verfahren garantieren.

34. Artikel 6 (1) EMRK lautet auszugsweise wie folgt:

“Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabgängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht …”

Dies Konzept des “rechtlichen Gehörs” hat zur Folge, daß alle Verfahrensbeteiligten gleichbehandelt werden müssen, was wiederum erfordert, daß ihre Verteidigungsfähigkeit nicht unzulässig beeinträchtigt werden darf.

35. Nach der Rechtsprechung der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte setzt das Erfordernis der Gleichbehandlung voraus, daß ein Beteiligter Beweismittel beibringen oder sich auf Ereignisse berufen darf, um eine Behauptung der Gegenseite zu widerlegen; siehe Sutter ./. Schweiz, Anmeldung Nr. 8209/78, Decisions and Reports 16, Council of Europe, 1979. In diesem Fall stellte die Europäische Kommission den Grundsatz auf, daß ein Beteiligter das Recht hat zu versuchen, Behauptungen der Gegenseite zu widerlegen. Dazu gehört auch das Recht, Beweismittel beizubringen. Analog auf den Fall einer Offenbarung im Zusammenhang mit einer Patentanmeldung angewandt, würde dies auf das Recht hinauslaufen, auf einen Mißbrauch zu verweisen, d. h., sich auf die Sonderbestimmung des Artikels 55 (1) a) EPÜ zu berufen, wenn die Gegenseite behauptet hat, der Gegenstand des Patents sei wegen einer bestimmten Offenbarung, die vor dem Prioritätstag (wie vom Patentgesetz gefordert) erfolgt sei, nicht neu oder nicht erfinderisch. Ein Beteiligter muß also, wie die Europäische Kommission in einem frühen Fall – Anmeldung Nr. 434/58, X. ./. Schweden, Council of Europe Yearbook II, Seite 354 – festgestellt hat, “angemessen Gelegenheit erhalten, seine Sache dem Gericht unter Bedingungen vorzutragen, die ihn gegenüber der Gegenseite nicht wesentlich benachteiligen.”

36. Daß die EMRK allgemein als richtungsweisend anerkannt wird, zeigt die Tatsache, daß sie von allen EPÜ-Vertragsstaaten ratifiziert worden ist.

Patentliteratur

37. In der Patentliteratur werden unterschiedliche Meinungen zum Geltungsbereich des Artikels 55 (1) a) EPÜ vertreten. Verwiesen werden soll hier auf Singer/Singer, Europäisches Patentübereinkommen, C. Heymanns Verlag 1989, Artikel 55, Rdnr. 2, Paterson, The European Patent System, The Law and Practice of the European Patent Convention, Sweet & Maxwell, London 1992, Seite 382, 9 – 23, Van Empel, The Granting of European Patents, Sijthoff-Leyden, 1975, Seite 45 und Anmerkung 75, Benkard G., Patentgesetz, 9. Auflage, Verlag C. H. Beck München 1993, Patgesetz § 3, Rdnr. 96, C. I. P. A., Guide to the Patents Act, 4. Auflage, Sweet & Maxwell, Nr. 2.30, Seite 57. Alle diese Verfasser vertreten zwar übereinstimmend die Auffassung, daß der Geltungsbereich auf den Zeitraum unmittelbar vor der tatsächlichen Einreichung der europäischen Patentanmeldung beschränkt sein sollte, aber sie nennen nur wenige Gründe dafür.

Die gegenteilige Auffassung vertreten Loth (siehe Nr. 27) und Eisenführ (Die Schonfrist-Falle des Art. 55 (1) a) EPÜ, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 1997, Seite 268 ff.). Das Committee on National Institutes of Patent Agents (CNIPA), das sich schon 1962 zu einem Vorschlag des Europarats äußerte, hielt es für eine “seltsame Anomalie”, daß eine nach der Verbandsübereinkunft eingereichte Patentanmeldung, der eine nationale Anmeldung zugrunde liege, zurückgewiesen werden könne, während die nationale Anmeldung selbst Bestand hätte (siehe Dokument EXP/Brev. (62) 6, Council of Europe).

38. Gegen einen umfassenderen Geltungsbereich des Artikels 55 EPÜ wird in der Literatur u. a. der Einwand erhoben, dies könne zu einer “Kumulierung” der Sechsmonatsfrist mit der einjährigen Prioritätsfrist führen und dadurch letztere über die Zwölfmonatsfrist nach Artikel 4 C der Pariser Verbandsübereinkunft hinaus verlängern.

Diese Sichtweise scheint jedoch auf einer falschen Vorstellung davon zu beruhen, welche Wirkung eine erfolgreiche Berufung auf einen Mißbrauch hat. Falls die für diese Frage zuständige Stelle zugunsten des Patentinhabers entscheidet, d. h., daß die Offenbarung tatsächlich auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückging, dann hätte dies lediglich zur Folge, daß die behauptete Offenbarung nicht berücksichtigt wird, also nicht als Teil des Stands der Technik gilt. Der Prioritätstag bleibt derselbe, und alle anderen prioritätsälteren Offenbarungen gehören nach wie vor zum Stand der Technik. Zu beachten ist auch, daß die Überschrift des Artikels 55 EPÜ “Unschädliche Offenbarungen” lautet und von einer Kumulierung nicht die Rede ist. Aus diesem Grund dürfte ein “erweiterter” Geltungsbereich des Artikels 55 (1) a) EPÜ im Hinblick auf das internationale Recht und die Verpflichtungen aus einem anderen Vertrag nicht zu unannehmbaren Ergebnissen führen.

39. Die Befürworter des breiteren Geltungsbereichs verweisen auf die Systematik des EPÜ, nämlich daß auf den ausdrücklich in Artikel 89 EPÜ erwähnten Artikel 54 Absätze 2 und 3 EPÜ wiederum in Artikel 55 EPÜ Bezug genommen werde, und auf die Schwächung des Prioritätsrechts bei einer engen Auslegung.

Die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ

40. Da es den Rahmen dieser Entscheidung sprengen würde, wenn man alle einschlägigen Dokumente ausfindig machen wollte, in denen der Neuheitsbegriff und die Frage der Schonfrist erörtert werden, sollen nachstehend nur einige wenige kurz zusammengefaßt werden.

41. Die sechsmonatige Schonfrist nach Artikel 55 EPÜ stellt eine Abweichung vom strengen, absoluten Neuheitsbegriff dar, der auf die Beratungen über ein europäisches Patentsystem im Europarat in den 50er und 60er Jahren zurückgeht. Das Dokument CM/WP IV (51) enthält eine vergleichende Untersuchung der damaligen Rechtslage in den europäischen Ländern. Daraus geht hervor, daß die meisten Länder der ihnen durch die PVÜ auferlegten Verpflichtung nachkamen, auf internationalen Ausstellungen u. ä. zur Schau gestellte Erfindungen zu schützen, und daß einige Länder eine Schonfrist vorsahen, wenn Offenbarungen ohne Zustimmung des Anmelders stattgefunden hatten (z. B. Vereinigtes Königreich und die skandinavischen Länder). Das deutsche Patentgesetz kannte sogar eine sechsmonatige Schonfrist, die generell für alle Offenbarungen durch den Anmelder selbst galt; siehe Dokument EXP/Brev (53) 1, Seite 7. Das Sekretariat des Rats kam zu dem Ergebnis, daß allgemein absolute Neuheit gefordert werde, daß aber die Ausnahmen von diesem Konzept harmonisiert werden müßten. Der Beginn der Schonfrist wird in diesem Dokument nicht besonders erörtert, aber es ist durchweg von der Einreichung der Anmeldung die Rede. Ein diesbezüglicher skandinavischer Vorschlag wurde in dem Dokument EXP/Brev (60) 1, Seite 15 ff. erörtert. Eine Sechsmonatsfrist für eine unschädliche Offenbarung vor der Einreichung der Patentanmeldung wurde als angemessen betrachtet und war in den skandinavischen Patentgesetzen bereits vorgesehen. Ein entsprechender Wortlaut wurde später in den Artikel 4 des Straßburger Übereinkommens von 1963 aufgenommen.

42. Als die Verhandlungen im Rahmen der EWG begannen und später in einer erweiterten Gruppe europäischer Länder fortgesetzt wurden, wurde der skandinavische Vorschlag wiederaufgegriffen, was zu den vorstehend genannten Beratungen und Ergebnissen führte (Nrn. 12 – 13).

Das Verhältnis zwischen den Artikeln 54, 55, 56, 87 und 89 EPÜ

43. In der vorstehend genannten Patentliteratur (Nr. 37) wird als weiteres Argument für einen beschränkten Geltungsbereich angeführt, daß Artikel 89 EPÜ nicht auf Artikel 55 verweise, wenn er vorsehe, daß der Prioritätstag als Tag der Anmeldung “für die Anwendung des Artikels 54 Absätze 2 und 3 sowie des Artikels 60 Absatz 2” gilt, und daß die Formulierung in den betreffenden Artikeln nicht übereinstimme. Es könnte sich daher lohnen, einmal zu untersuchen, welcher Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bestimmungen über die Neuheit und den Stand der Technik besteht.

44. Neuheit ist das erste im EPÜ (Art. 54) definierte Patentierbarkeitskriterium. Die Schonfrist nach Artikel 55 EPÜ bezieht sich auf Artikel 54 EPÜ in seiner Gesamtheit, d. h. nicht nur auf die Absätze 2 und 3. Schlicht gesagt, bedeutet das, daß die in Artikel 54 EPÜ definierte Neuheit durch Artikel 55 EPÜ eingeschränkt wird. In einigen Ländern sind diese beiden Bestimmungen denn auch in ein und demselben Artikel zusammengefaßt (vgl. Patentgesetz des Vereinigten Königreichs, Art. 2, Absatz 4).

45. Nach Artikel 56 EPÜ muß die erfinderische Tätigkeit im Verhältnis zum “Stand der Technik” geprüft werden – ein Begriff, der wiederum in Artikel 54 (2) EPÜ definiert ist -, d. h. einschließlich der einschränkenden Bestimmung des Artikels 55 EPÜ. Dies scheint zu folgendem Ergebnis zu führen: Ist eine Offenbarung wegen eines Mißbrauchs nach Artikel 55 EPÜ vom Stand der Technik nach Artikel 54 EPÜ ausgeschlossen, so bleibt sie auch bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ außer Betracht. Dies bedeutet logischerweise, daß die Verweisung in Artikel 89 auf Artikel 54 (2) EPÜ auch dessen Einschränkung durch Artikel 55 EPÜ einschließt, d. h., daß Artikel 89 EPÜ implizit auch auf Artikel 55 EPÜ verweist. Die Verweisung in Artikel 89 EPÜ sollte mit anderen Worten wie folgt aufgefaßt werden: “… für die Anwendung des Artikels 54 Absätze 2 und 3, gegebenenfalls eingeschränkt durch Artikel 55 EPÜ …” Solch eine implizite Lesart könnte erklären, warum Artikel 89 EPÜ nicht ausdrücklich auf Artikel 55 EPÜ verweist.

Während zu der Frage, warum Artikel 89 EPÜ nicht ausdrücklich auch auf Artikel 56 EPÜ verweist, unterschiedliche Meinungen vertreten werden (siehe die unter Nr. 37 angegebene Literatur), möchte die Kammer hier lediglich bemerken, daß dies einfach darauf zurückzuführen sein könnte, daß erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) ein gesondertes Patentierbarkeitserfordernis ist, das erst geprüft wird, wenn schon feststeht, daß die Erfindung nach Artikel 54 EPÜ neu ist.

46. Dies erklärt jedoch nicht, warum in Artikel 89 EPÜ (“Tag der europäischen Patentanmeldung”) eine andere Formulierung als in Artikel 55 EPÜ (“Einreichung der europäischen Patentanmeldung”) verwendet wird

47. Artikel 87 EPÜ verwendet den Begriff “Einreichung der ersten Anmeldung”, wobei die erste Anmeldung eine in einem PVÜ-Vertragsstaat eingereichte Anmeldung ist, und sieht während einer Frist von 12 Monaten nach dieser Einreichung ein Prioritätsrecht vor. Kann diese Bestimmung wegen einer restriktiven Auslegung des Artikels 55 EPÜ nicht befolgt werden, weil das Prioritätsrecht aus der “ersten” Anmeldung nicht garantiert werden kann, so scheint diese restriktive Auslegung als solche nicht nur gegen die PVÜ, sondern auch gegen das EPÜ zu verstoßen. Bei einem solchen rechtlichen Konflikt wäre es gerechtfertigt, das Gesetz vorrangig mit Blick auf das Interesse des Anmelders und die aus der PVÜ herrührende Verpflichtung auszulegen. Im Ergebnis würde man einen breiteren Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ akzeptieren.

Abwägen gegensätzlicher Interessen

48. Wie bereits die Einspruchsabteilung im Fall Passoni festgestellt hat, erscheint es nicht gerade vernünftig, daß das Schicksal einer Patentanmeldung einzig und allein davon abhängen soll, ob sie ursprünglich bei einem nationalen Amt oder bei einer internationalen Einrichtung wie dem EPA eingereicht wurde. Dies würde darauf hinauslaufen, daß ein Anmelder, der seine Anmeldung bei einem nationalen Amt – vielleicht sogar eines EPÜ-Vertragsstaats – eingereicht hat und später eine Anmeldung unter Inanspruchnahme der Priorität der nationalen Anmeldung beim EPA einreicht, keinen Mißbrauch in bezug auf eine Offenbarung gelten machen könnte, die innerhalb von 6 Monaten nach der Einreichung der nationalen (prioritätsbegründenden) Anmeldung stattgefunden hat.

49. Ein Einsprechender, der ein Patent zu Fall bringen möchte, dem von der zuständigen Behörde (d. h. dem EPA) eine Priorität zuerkannt worden ist, muß sich zwangsläufig auf Offenbarungen berufen, die vor diesem Prioritätstag erfolgt sind; andernfalls gehören sie nicht zum Stand der Technik. Da in der überwiegenden Mehrheit der beim EPA eingereichten Anmeldungen eine Priorität beansprucht wird, werden folglich in einer entsprechenden Anzahl von Einsprüchen jeweils prioritätsältere Dokumente angeführt.

50. Im vorliegenden Fall widerspricht die Einsprechende jedoch der Schlußfolgerung im Fall Passoni und behauptet, mit der eingeschränkten Möglichkeit, einen Mißbrauch geltend zu machen, würden die Interessen der Allgemeinheit gerecht gegen die des Erfinders abgegrenzt. Habe ein Mißbrauch stattgefunden, so müsse der Erfinder sorgfältig darauf bedacht sein, seine Anmeldung innerhalb von 6 Monaten einzureichen.

51. Die Kammer vermag diesem Argument nicht zu folgen, da Sorgfalt seitens des Erfinders oder des Inhabers der Erfindung voraussetzt, daß er von der Offenbarung unverzüglich Kenntnis erlangt. Im vorliegenden Fall gibt die Patentinhaberin aber an, daß die Erfinder vom Inhalt des Pereira-Vortrags erst 1992, also 11 Jahre danach, in Kenntnis gesetzt geworden seien.

52. Die Kammer würde daher meinen, daß eine enge Auslegung des Artikels 55 (1) EPÜ, die von einer Sorgfaltspflicht seitens des Erfinders ausgeht, unvernünftig erscheint.

Verpflichtungen nach der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ)

53. Artikel 4 A (1) PVÜ garantiert, daß jeder, der in einem der Verbandsländer eine Anmeldung hinterlegt, für die Hinterlegung in den anderen Ländern ein Prioritätsrecht genießt. Nach internationalem Recht müssen die Vertragsstaaten durch entsprechende Rechtsvorschriften dafür sorgen, daß die Bestimmungen des betreffenden Vertrags eingehalten werden, d. h. in diesem speziellen Fall, daß das Prioritätsrecht garantiert wird.

54. Das EPÜ fällt als Sonderabkommen zum Schutz des gewerblichen Eigentums unter Artikel 19 PVÜ. Solche Abkommen sind jedoch nur insoweit zulässig, als sie nicht gegen die Bestimmungen der PVÜ verstoßen. Die Möglichkeit, regionale Übereinkommen zu schließen, ist ebenfalls in Artikel 4 A (2) PVÜ vorgesehen, der Hinterlegungen erwähnt, die nationalen Hinterlegungen oder Hinterlegungen nach den zwischen Verbandsländern abgeschlossenen zwei- oder mehrseitigen Verträgen gleichgestellt sind; im vorliegenden Fall sind dies europäische Anmeldungen. Wollte man daraus den Schluß ziehen, der Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ hätte eingeschränkt werden sollen, wie dies die Einsprechende behauptet, so könnte man im obigen Ergebnis (Nr. 4) einen Verstoß gegen die PVÜ sehen.

Entscheidungen auf nationaler Ebene

55. Als letztes möchte die Kammer auf Entscheidungen zur Frage des Geltungsbereichs des Artikels 55 (1) EPÜ verweisen, die bereits auf nationaler Ebene auf der Grundlage der entsprechenden nationalen Gesetze ergangen sind. Abgesehen von dem oben genannten schweizerischen Urteil (Nr. 23) sind zwei einschlägige Entscheidungen – eine niederländische und eine deutsche – kürzlich in Nummer 5 des ABl. EPA 1998, Seiten 278 bzw. 263 veröffentlicht worden.

56. Das schweizerische Urteil

In diesem Urteil kam das Schweizerische Bundesgericht zu dem Schluß, daß das schweizerische Patentgesetz, wonach die sechsmonatigen Schonfrist vom Prioritätstag einer Anmeldung an zu berechnen sei, mit der Artikel 55 (1) EPÜ zugrunde liegenden Absicht nicht übereinstimme. Das Gericht verwehrte dem Patentinhaber daher das Recht, sich auf einen Mißbrauch bei einer Offenbarung zu berufen, die mehr als 6 Monate vor der tatsächlichen Einreichung der betreffenden Anmeldung erfolgt war. Bei der Entscheidungsfindung verwies das Bundesgericht in erster Linie auf den Wortlaut des EPÜ, die Patentliteratur und die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ, aus denen hervorgehe, daß der Geltungsbereich des Artikels 55 (1) EPÜ restriktiv ausgelegt werden solle.

57. Das niederländische Urteil

Dieses Urteil des Kassationshofs (Hoge Raad) der Niederlande vom 23. Juni 1995 erging in der Sache Organon International BV et al. ./. Applied Research Systems ARS Holding BV. Der Kassationshof vertrat die Auffassung, daß die Sechsmonatsfrist nach Artikel 55 (1) EPÜ vom Prioritäts- und nicht vom Anmeldezeitpunkt an zu berechnen sei, und begründete sie wie folgt (siehe Nr. 3.3.2 des Urteils in der im ABl. EPA veröffentlichten deutschen Fassung):

“Wie sich aus Artikel 89 EPÜ ergibt, bewirkt das Prioritätsrecht, daß unter anderem für die Anwendung von Artikel 54 (2) EPÜ – einer Bestimmung, die den relevanten Stand der Technik zeitlich festlegt und also eng mit Artikel 55 (1) EPÜ zusammenhängt – der Prioritätstag als der Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung gilt. Der Zweck von Artikel 55 (1) EPÜ – Schutz der Anmelder – würde nicht zur Geltung gebracht, würde man diese Bestimmung in den Fällen, in denen ein Prioritätsrecht existiert, wörtlich auslegen. Das System des Übereinkommens rechtfertigt somit eine Auslegung, bei der das Prioritätsdatum, auch bei der Berechnung der in Artikel 55 (1) EPÜ bestimmten Frist, an die Stelle des Anmeldetages tritt.”

58. Der deutsche Beschluß

Dieser Beschluß des Bundesgerichtshofs erging am 5. Dezember 1995 in der Sache X ZB 1/94 “Corioliskraft”. Das Deutsche Patentamt hatte das Patent mit der Begründung widerrufen, daß eine frühere Patentanmeldung vom 20. Mai 1978, für die eine Priorität vom 7. Juni 1977 beansprucht worden war (nachstehend “Entgegenhaltung” genannt), das Streitpatent vorwegnehme, das am 25. Juli 1978 unter Beanspruchung einer Priorität vom 25. Juli 1977 angemeldet worden war. Das Beschwerdegericht hatte die Beschwerde des Patentinhabers mit der Begründung zurückgewiesen, nach dem deutschen Patentgesetz müsse die Neuheitsschonfrist vom Tag der Einreichung der Anmeldung des Streitpatents an berechnet werden. Diese Auslegung des deutschen Patentgesetzes wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt. Da nach seiner Auffassung als Tag der Offenbarung der Entgegenhaltung ihr Prioritätstag, d. h. der 7. Juni 1977, zu gelten hat, war diese Offenbarung somit mehr als 6 Monate vor dem Tag der Einreichung der fraglichen Anmeldung, d. h. dem 25. Juli 1978, erfolgt, was die Berufung auf einen Mißbrauch ausschloß. Der Bundesgerichtshof zitierte den Wortlaut des Gesetzes und die unter deutschen Patentfachleuten überwiegende Ansicht sowie die Entscheidung T 173/83 (Nr. 5), verwies aber auch auf die gegenteilige Auffassung anderer und das niederländische Urteil (Nr. 57).

59. Daß die Gerichte in diesen Entscheidungen zu unterschiedlichen Auslegungen gelangten, ist nach Auffassung der Kammer ein weiterer Grund, warum diese Frage auf europäischer Ebene gelöst werden muß, damit die Harmonisierung der nationalen Patentgesetze in Europa weiter fortschreitet.

Befassung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 EPÜ

60. Der obige Überblick zeigt die Vielschichtigkeit der Problematik im Zusammenhang mit Artikel 55 EPÜ. In Anbetracht ihrer Bedeutsamkeit, namentlich was das von der Pariser Verbandsübereinkunft vorgeschriebene Prioritätsrecht angeht, ist die Kammer der Meinung, daß sie eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft, mit der die Große Beschwerdekammer befaßt werden sollte.

61. Die Einsprechende hat jedoch nicht nur einen Einwand im Zusammenhang mit der Frage eines Mißbrauchs erhoben, sondern sich auch gegen eine Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der Begründung ausgesprochen, daß a) die Beschwerdekammer diese Rechtsfrage selbst beantworten könne und b) über sie nicht entschieden zu werden brauche, da das Patent durch eine andere von der Einsprechenden angeführte Druckschrift vorweggenommen werde.

62. Was die erste Begründung angeht, so teilt die Kammer die Auffassung der Einsprechenden nicht; erstens handelt es sich hier um eine Grundsatzfrage mit möglicherweise weitreichenden Folgen, und zweitens besteht kein Einvernehmen darüber, wie Artikel 55 EPÜ richtig auszulegen ist. Da die Beschwerdekammern ihre Auffassungen über diese Frage bislang nur als obiter dicta dargelegt haben, gehören diese Äußerungen genaugenommen nicht zu ihrer Rechtsprechung; sie dienen deshalb nicht als Richtschnur in späteren Verfahren, können aber in anderen Entscheidungen erwähnt werden (so hat etwa die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 3/93 die Entscheidung T 301/87 im Zusammenhang mit der Priorität angeführt, obwohl sie einräumte, daß letztere nur ein obiter dictum zu der betreffenden Frage enthalte; siehe Entscheidung G 3/93, Nr. 2 der Gründe).

63. Was die zweite Begründung angeht, so stellt die Kammer fest, daß sie ohne vorherige Prüfung nicht sagen kann, ob eine dem Patent entgegengehaltene Druckschrift relevant ist. Sollte die Kammer letztlich die Auffassung der Einsprechenden über die Entgegenhaltung nicht teilen, so müßte der Pereira-Vortrag erörtert werden.

64. Demzufolge hält die Kammer eine Befassung der Großen Beschwerdekammer für erforderlich.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:

Wenn einer europäischen Patentanmeldung eine Priorität zuerkannt wird, ist dann für die Zwecke des Artikels 55 (1) EPÜ die Frist von 6 Monaten “vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung” vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung (Prioritätstag) oder vom tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen?