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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1997:T075094.19970401
Datum der Entscheidung: 01 April 1997
Aktenzeichen: T 0750/94
Anmeldenummer: 88309251.2
IPC-Klasse: H01L 29/80
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: Anreicherung der Grenzschichtladung in einer delta-dotierten Heterostruktur
Name des Anmelders: AT&T Corp.
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: 1. Je schwerwiegender eine Tatfrage ist, die das EPA untersucht und nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit entscheidet, um so stichhaltiger muß das zugrundeliegende Beweismaterial sein. Führt die Entscheidung über diese Frage möglicherweise zur Zurückweisung einer europäischen Anmeldung oder zum Widerruf eines europäischen Patents – z. B. wegen einer angeblichen Vorveröffentlichung oder Vorbenutzung -, so ist das vorliegende Beweismaterial sehr kritisch und genau zu prüfen. Eine europäische Patentanmeldung sollte nur zurückgewiesen und ein europäisches Patent nur widerrufen werden, wenn die Zurückweisungs- bzw. Widerrufsgründe (d. h. die rechtlichen und faktischen Gründe) voll und ganz bewiesen sind.
2. Nach dem Grundsatz der “freien Beweiswürdigung” (s. Entscheidung T 482/89, ABl. EPA 1992, 646) muß jedes für die Streitfrage relevante Beweismittel nach seiner Beweiskraft gewichtet werden, damit zuverlässig festgestellt werden kann, was sich wahrscheinlich ereignet hat. Einem nicht unterschriebenen Vermerk einer unbekannten, namentlich nicht genannten Person sollte grundsätzlich nur eine sehr geringe Beweiskraft beigemessen werden.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 113
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Nomineller Erscheinungstag einer Zeitschrift – auf Anfrage beim Herausgeber zugänglich (nicht bewiesen)
Postversand an Abonnenten – bei mindestens einem Abonnenten vor dem Anmeldetag eingegangen (nicht bewiesen) – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (nicht bewiesen)
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0010/93
T 0381/87
T 0482/89
T 0472/92
T 0951/92
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1054/92
T 0929/94
T 0901/95
T 0048/96
T 0363/96
T 0212/97
T 0091/98
T 0182/00
T 0469/00
T 0665/00
T 0284/01
T 1080/01
T 1200/01
T 0060/02
T 0176/02
T 0329/02
T 0339/02
T 0225/03
T 0656/03
T 0759/03
T 0442/04
T 0163/05
T 0313/05
T 1210/05
T 1335/05
T 1134/06
T 0831/07
T 0545/08
T 1469/08
T 0071/09
T 0538/09
T 0286/10
T 0106/11
T 0184/11
T 0918/11
T 0526/12
T 1107/12

Sachverhalt und Anträge

I. Zu der vorliegenden europäischen Patentanmeldung erließ die Prüfungsabteilung einen Bescheid, in dem sie wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit Einwände gegen die Erteilung eines Patents erhob; sie bezog sich dabei insbesondere auf die Vorveröffentlichung

D1: Applied Physics Letters, Band 51, Nr. 15, 12. Oktober 1987, Seiten 1170 bis 1172 (eine Veröffentlichung des American Institute of Physics (“AIP”)).

In ihrer Erwiderung vom 26. März 1993 wies die Anmelderin die Einwände der Prüfungsabteilung zurück, wobei sie sich ausschließlich darauf stützte, daß D1 der Öffentlichkeit nicht vor dem 13. Oktober 1987, dem Prioritätstag der Anmeldung, zugänglich gemacht worden sei. D1 trage zwar das nominelle Erscheinungsdatum vom 12. Oktober 1987 (dieses Datum sei auf der Titelseite der betreffenden Ausgabe der Zeitschrift aufgedruckt), doch sei dies nur ein Anscheinsbeweis dafür, daß das Dokument der Öffentlichkeit tatsächlich an diesem Tag zugänglich gemacht worden sei. Die Anmelderin legte Fotokopien der Titelseiten derjenigen Zeitschriftenexemplare bei, die die Bibliotheken von Murray Hill und Holmdel (USA) erhalten hatten; danach sind beide Exemplare erst am 15. Oktober 1987 dort eingegangen. Dieses Beweismaterial – so die Anmelderin – widerlege den Anscheinsbeweis des nominellen Erscheinungstags; die Zeitschrift sei also nicht vor dem Prioritätstag veröffentlicht worden.

II. Die Prüfungsabteilung erließ am 24. Juni 1993 einen weiteren Bescheid und legte die Kopie eines Schreibens vom 13. Mai 1993 bei, das die Bibliothek des EPA mit nachstehendem maschinenschriftlichen Text an das AIP gefaxt hatte:

“Sehr geehrte Damen und Herren,

in unserem Fax vom 8.4.93 erkundigten wir uns nach dem Erscheinungsdatum (Tag, Monat, Jahr) der folgenden Veröffentlichung:

(D1)

Bisher haben wir keine Antwort bzw. Mitteilung von Ihnen erhalten. Bitte prüfen Sie umgehend Ihre Unterlagen und teilen Sie uns so rasch wie möglich die korrekten Daten mit. Wir benötigen diese Information dringend.”

Auf dem Schreiben war handschriftlich vermerkt:

“Ausgabe vom 12. Oktober – zur Post gegeben am 6.10.87”

In dem Bescheid hieß es, daß D1 “nach Angaben des Herausgebers, des American Institute of Physics, am Dienstag, den 6. Oktober 1987, zur Post gegeben wurde (s. beiliegende Antwort). Angesichts dieses Aufgabedatums ist unter Zugrundelegung einer normalen Postlaufzeit von 2 Tagen davon auszugehen, daß die meisten Adressaten D1 vor dem Prioritätstag …, dem 13. Oktober 1987, erhalten haben dürften, nämlich innerhalb einer Woche nach der Aufgabe von D1 bei der Post. … ist der Inhalt von D1 der Öffentlichkeit also vor dem Prioritätstag zugänglich gemacht worden.”

Hierauf erwiderte die Anmelderin (nach weiteren Erkundigungen), daß D1 als gewöhnliche Postsendung verschickt worden sei und der zuständigen amerikanischen Postbehörde zufolge “gewöhnliche Postsendungen im Jahr 1987 schätzungsweise vier bis sieben Tage nach dem Tag der Aufgabe bei der Post zugestellt worden sein dürften”. Die Anmelderin legte ferner eine Fotokopie der Titelseite eines weiteren Exemplars der Zeitschrift D1 bei, aus der hervorging, daß diese Ausgabe am 13. Oktober 1987 in einer Bibliothek in New Jersey, USA, eingetroffen war.

Die Anmelderin brachte im wesentlichen vor, daß eine Postlaufzeit von zwei Tagen für die betreffende Versandart sehr optimistisch kalkuliert sei und die zum Beweis angeführten tatsächlichen Zustelldaten zeigten, daß die kürzeste Laufzeit sieben Tage betragen habe. Ein Beleg über den tatsächlichen Eingang sei zuverlässiger als eine bloße Schätzung der Postlaufzeiten, weil diese für eine bestimmte Postsendung unter Umständen nicht zutreffe. Abgesehen davon seien Angaben über Versanddaten nicht immer zuverlässig. Angesichts dieser geringen Beweiskraft sei deshalb davon auszugehen, daß D1 nicht zum Stand der Technik gehört habe.

III. Die Prüfungsabteilung wies die Anmeldung mit Entscheidung vom 6. Mai 1994 wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands zurück, weil D1 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag der Anmeldung zugänglich gemacht worden sei. Sie argumentierte dabei im wesentlichen wie folgt:

a) Die Prüfungsabteilung habe “keinen Grund, daran zu zweifeln, daß D1 am nominellen Erscheinungstag, d. h. am 12. Oktober 1987, auf Anfrage beim American Institute of Physics zugänglich war”.

b) Dies werde durch die Tatsache bestätigt, daß die Ausgabe von D1 am 6. Oktober 1987, sechs Tage vor dem nominellen Erscheinungstag, zur Post gegeben worden sei; ausgehend von einer Postlaufzeit von vier bis sieben Tagen ab dem Tag der Aufgabe bei der Post dürfte sie am 12. Oktober 1987 durch Zustellung an die Abonnenten “der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein”.

IV. Die Anmelderin legte ordnungsgemäß Beschwerde ein. In der Beschwerdebegründung nahm sie auf ihre im Verfahren vor der Prüfungsabteilung eingereichten Schriftsätze und Beweismittel Bezug und machte im wesentlichen geltend, daß “genügend Beweismaterial dafür vorliegt, die Vermutung des ersten Augenscheins zu widerlegen, wonach D1 tatsächlich am nominellen Erscheinungstag veröffentlicht worden ist”.

Entscheidungsgründe

1. In der vorliegenden Beschwerde geht es ausschließlich darum, anhand der vorliegenden Beweismittel zu klären, ob D1 der Öffentlichkeit vor dem 13. Oktober 1987 zugänglich gemacht worden ist.

2. In der Entscheidung T 381/87 (ABl. EPA 1990, 213) zu der Frage, ob ein Dokument, bei dem es sich um eine bestimmte Ausgabe einer Zeitschrift handelte, vor dem Prioritätstag veröffentlicht worden war, ermittelte die Beschwerdekammer den Sachverhalt selbst, indem sie den Bibliothekar einer bestimmten Bibliothek im Vereinigten Königreich anschrieb. Die Antworten des Bibliothekars waren für die Entscheidungsfindung in dieser Sache ausschlaggebend.

Seit Ergehen der Entscheidung T 381/87 hat die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 10/93 (ABl. EPA 1995, 172) zwar festgestellt, daß eine Kammer im Ex-parte-Verfahren neue Gründe für die Zurückweisung einer Anmeldung in das Beschwerdeverfahren einbeziehen könne, diese Feststellung aber gleichzeitig wie folgt eingeschränkt: “Die Befugnis zur Einbeziehung neuer Gründe im Ex-parte-Verfahren bedeutet aber nicht, daß die Beschwerdekammern die Prüfung der Anmeldung auf Patentierungserfordernisse in vollem Umfang durchführen. Dies ist Aufgabe der Prüfungsabteilung. Das Verfahren vor den Beschwerdekammern ist auch im Ex-parte-Verfahren primär auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung abgestellt.”

3. In der vorliegenden Sache stützte sich die angefochtene Entscheidung auf das Ergebnis von Ermittlungen und Erkundigungen, die die Bibliothek des EPA offenbar im Auftrag der Prüfungsabteilung durchgeführt hatte, sowie auf die von der Anmelderin eingereichten Beweismittel. Ermittlungen, die die Prüfungsabteilung in einer Sache durchführt oder durchführen läßt, müssen stets schriftlich zu den Akten genommen und den Verfahrensbeteiligten übermittelt werden. Im vorliegenden Fall wird in dem in Nummer II genannten und zitierten Schreiben vom 13. Mai 1993 an das AIP in New York auf ein früheres Fax vom 8. April 1993 verwiesen, das in der Akte nicht enthalten ist und der Anmelderin offenbar nicht übermittelt wurde. Daß versäumt wurde, eine Kopie des Faxes vom 8. April 1993 zu den Akten zu nehmen und auch der Anmelderin eine Kopie desselben zu übermitteln, stellt in diesem Fall einen unwesentlichen Verfahrensfehler dar; in anders gelagerten Fällen könnte ein solches Versäumnis aber durchaus ein wesentlicher Verfahrensfehler sein.

4. Der Entscheidung T 381/87 zufolge “muß das EPA … bei Tatfragen, in denen es … darum geht, wann ein Dokument der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht worden ist, anhand des ihm vorliegenden Beweismaterials nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit feststellen, was geschehen ist; d. h. es muß feststellen, was “aller Wahrscheinlichkeit nach” geschehen ist. Dies ist der übliche Maßstab bei der Beweiswürdigung in Verfahren dieser Art.”

Je schwerwiegender eine Tatfrage ist, die das EPA untersucht und nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit entscheidet, um so stichhaltiger muß das zugrundeliegende Beweismaterial sein. Führt die Entscheidung über eine strittige Frage möglicherweise zur Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung oder zum Widerruf eines europäischen Patents – z. B. im Falle einer angeblichen Vorveröffentlichung oder Vorbenutzung -, so ist das vorliegende Beweismaterial sehr kritisch und genau zu prüfen, damit beispielsweise festgestellt werden kann, ob ein Ereignis (die angebliche Vorveröffentlichung oder Vorbenutzung) vor dem jeweiligen Anmelde- oder Prioritätstag stattgefunden hat. Die Feststellung, daß eine Veröffentlichung oder eine Benutzung zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ gehört, sollte in diesen Fällen nur getroffen werden, wenn das vorliegende Beweismaterial nach sorgfältiger, strenger Beurteilung eine Vorveröffentlichung oder Vorbenutzung glaubhaft erscheinen läßt. Eine europäische Patentanmeldung sollte nur zurückgewiesen und ein europäisches Patent nur widerrufen werden, wenn die Zurückweisungs- bzw. Widerrufsgründe voll und ganz, d. h. “bis auf’s letzte”, bewiesen sind – siehe Entscheidung T 472/92 (wird veröffentlicht).

5. Der angefochtenen Entscheidung lag in erster Linie die Tatsachenfeststellung zugrunde, daß D1 der Öffentlichkeit am 12. Oktober 1987 auf Anfrage beim AIP zugänglich gewesen sei (s. Nr. III a)), weil dieses Datum den Angaben des Herausgebers AIP zufolge der “nominelle Erscheinungstag” und als solcher auf der Titelseite der Zeitschrift D1 aufgedruckt sei. Diese Tatsachenfeststellung und die ihr zugrunde liegende Argumentation sind Bestandteil der Argumentationskette und somit der “wesentlichen rechtlichen und faktischen Gründe”, die den Zurückweisungsbeschluß bedingten, denn ohne diese Tatsachenfeststellung (wonach D1 der Öffentlichkeit auf Anfrage am 12. Oktober 1987 zugänglich gemacht wurde) gäbe es keine Grundlage für die Folgerung, daß der beanspruchte Gegenstand im Hinblick auf die Vorveröffentlichung D1 nicht neu und nicht erfinderisch ist und die Anmeldung daher zurückzuweisen ist.

Dieser “Grund” für die Zurückweisung der Anmeldung (im Sinne des Artikels 113 (1) EPÜ in der Auslegung der Entscheidung T 951/92 – ABl. EPA 1996, 53 – also die “wesentlichen Gründe sowohl rechtlicher als auch faktischer Art, die die Zurückweisung der Anmeldung bedingen”) ist aber der Anmelderin vor Erlaß der angefochtenen Entscheidung nicht mitgeteilt worden. Die einzigen Zurückweisungsgründe, die der Anmelderin vor Erlaß der Entscheidung mitgeteilt wurden, enthielten die im Bescheid vom 24. Juni 1993 (s. Nr. II) dargelegte faktische Begründung, wonach die meisten Abonnenten der Zeitschrift D1 (die “Adressaten”) “D1 vor dem Prioritätstag … erhalten haben dürften”. In dem Bescheid war kein faktischer Grund angegeben, der die Feststellung rechtfertigen würde, D1 sei vor dem Prioritätstag beim Herausgeber “auf Anfrage zugänglich” gewesen. Diese Feststellung bildet aber das erste Glied in der aus rechtlichen und faktischen Gründen bestehenden Argumentationskette, die in der angefochtenen Zurückweisungsentscheidung dargelegt ist.

Im Verfahren vor der Prüfungsabteilung hatte die Anmelderin daher nicht die – in Artikel 113 (1) EPÜ vorgeschriebene – Gelegenheit, sich zu diesem die Zurückweisung der Anmeldung bedingenden “Grund” zu äußern; es liegt deshalb ein wesentlicher Verfahrensmangel vor.

Da die Anmeldung aber noch aus einem anderen Grund zurückgewiesen wurde, zu dem sich die Anmelderin sehr wohl äußern konnte, nämlich dem in Nummer III b) genannten und nachstehend erörterten, hält die Kammer eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ für nicht gerechtfertigt. Die Anmelderin hat auch weder den Verfahrensmangel beanstandet noch die Rückzahlung der Beschwerdegebühr beantragt.

6. Zu besagtem Zurückweisungsgrund äußerte sich die Anmelderin in ihrer Beschwerdebegründung wie folgt:

” … behauptet die Prüfungsabteilung, daß die Entgegenhaltung D1 am nominellen Erscheinungstag auf Anfrage in den Geschäftsräumen des AIP zugänglich gewesen wäre. Für diese Behauptung gibt es keinen Beweis.”

Nach dem Dafürhalten der Kammer ist die Tatsache, daß auf der betreffenden Ausgabe der Zeitschrift D1 das Datum des 12. Oktober 1985 aufgedruckt ist, als solche nicht mehr als ein Anscheinsbeweis dafür, daß die Ausgabe an diesem Tag im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ “der Öffentlichkeit zugänglich gemacht” wurde. Unter “Anscheinsbeweis” ist ein Beweis zu verstehen, der – sofern er nicht angefochten wird – ausreicht, um den streitigen Sachverhalt glaubhaft zu machen. In der vorliegenden Sache hat der Anmelder den Anscheinsbeweis jedoch in seinem Schreiben vom 26. März 1993 angefochten und Beweismittel eingereicht, um ihn zu widerlegen.

Nach Auffassung der Kammer kann es durchaus sein, daß dieser “nominelle” Erscheinungstag nichts mit dem Veröffentlichungstag im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zu tun hat. Ein Datumsaufdruck kann nämlich auch nur den Tag bezeichnen, an dem der Inhalt der Zeitschrift von Verlagsseite fertiggestellt war.

Die Kammer räumt allerdings ein, daß der Datumsaufdruck auf der betreffenden Ausgabe der Zeitschrift D1 ein Hinweis darauf sein könnte, daß die Zeitschrift am 12. Oktober 1987 auf Anfrage beim Herausgeber AIP zugänglich war, so daß es gerechtfertigt war, sich beim AIP danach zu erkundigen, ob es Beweise für eine Vorveröffentlichung gibt. Wie in Nummer II dargelegt, hat die Bibliothek des EPA denn auch ein Fax an das AIP geschickt und nach dem “Erscheinungsdatum (Tag, Monat, Jahr)” von D1 gefragt. Wäre D1 tatsächlich am 12. Oktober 1987 auf Anfrage beim AIP zugänglich gewesen, so hätte das AIP dies in seiner Antwort wohl vermerkt. Statt dessen hat es lediglich den Tag der Aufgabe bei der Post genannt.

Die Kammer stimmt deshalb mit der Anmelderin darin überein, daß es eigentlich keinen Beweis für die Feststellung der Prüfungsabteilung gibt, wonach D1 auf Anfrage am 12. Oktober 1987 zugänglich gewesen sei, und somit auch kein Grund für die Zurückweisung der Anmeldung vorliegt.

7. Wie in Nummer III b) ausgeführt, wird in der angefochtenen Entscheidung noch ein weiterer Zurückweisungsgrund genannt, nämlich daß die Zeitschrift D1 den Abonnenten per Post vor dem Prioritätstag zugestellt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. In der Entscheidung heißt es, diese Form der Veröffentlichung “bestätige”, daß D1 auf Anfrage am 12. Oktober 1987 beim AIP zugänglich gewesen sei; in Wirklichkeit aber besteht zwischen den beiden Veröffentlichungsformen kein Zusammenhang. Die Zeitschrift D1 kann (muß aber nicht) am 12. Oktober 1987 auf Anfrage beim AIP zugänglich gewesen sein, und sie kann (muß aber nicht) mindestens einem Abonnenten an oder vor dem 12. Oktober 1987 per Post zugegangen sein. Diese beiden Möglichkeiten gilt es getrennt voneinander unter Berücksichtigung des jeweils dazu vorliegenden Beweismaterials zu prüfen.

8. Bei dieser zweiten Form der Veröffentlichung von D1 ist zu klären, ob das vorliegende Beweismaterial glaubhaft macht, daß nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit mindestens ein Abonnent tatsächlich vor dem Prioritätstag 13. Oktober 1987 per Post ein Exemplar von D1 erhalten hat.

Das Beweismaterial, das für diese Form der Vorveröffentlichung spricht, muß nun gewichtet und beurteilt werden. Ist es – für sich allein betrachtet – als beweiskräftig genug anzusehen, um eine Vorveröffentlichung so wahrscheinlich erscheinen zu lassen, daß eine Zurückweisung der Anmeldung bzw. ein Widerruf des Patents gerechtfertigt ist, so muß anschließend geprüft werden, ob nicht andere Beweismittel vorhanden sind, die so sehr gegen die Wahrscheinlichkeit einer Vorveröffentlichung sprechen, daß das für eine Vorveröffentlichung sprechende Beweismaterial dadurch wieder aufgewogen wird und sich im Endeffekt herausstellt, daß eine Vorveröffentlichung doch nicht hinreichend wahrscheinlich ist.

Wie in der Entscheidung T 482/89 (ABl. EPA 1992, 646) festgestellt, muß das vorhandene Beweismaterial nach dem Grundsatz der “freien Beweiswürdigung” beurteilt werden. Das bedeutet insbesondere, daß jedes Beweismittel, das für die Streitfrage relevant ist, angemessen gewichtet werden muß. Umfaßt das relevante Beweismaterial eine mündliche oder schriftliche Aussage über vergangene Ereignisse, so bedeutet die Anwendung dieses Grundsatzes nicht, daß diese Aussage als wahr hingenommen werden muß, wenn sie nicht unmittelbar durch eine andere Aussage entkräftet wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Aussage richtig ist, muß im Lichte aller relevanten Begleitumstände geprüft werden, und zwar auch daraufhin, ob sie durch andere unabhängige Beweismittel, etwa durch schriftliche Unterlagen aus demselben Zeitraum, erhärtet wird. Eine Aussage über ein Ereignis, das Jahre zurückliegen soll, gilt an sich nicht schon als Beweis für dieses Ereignis, insbesondere dann nicht, wenn sie nicht durch andere unabhängige Beweise erhärtet wird.

Stellt sich im Verfahren vor dem EPA die Tatfrage, ob in der Vergangenheit (z. B. vor einem bestimmten Tag) ein Ereignis (etwa eine Vorveröffentlichung oder eine Vorbenutzung) stattgefunden hat, so kommen als Beweismittel entweder schriftliche Unterlagen aus der betreffenden Zeit oder Aussagen von Personen in Frage, die sich persönlich an das Ereignis erinnern, unter Umständen auch beides. In jedem Fall muß stets die Zuverlässigkeit der Quelle und damit die Beweiskraft geprüft werden: bei schriftlichen Unterlagen etwa die Frage, wie zuverlässig die Unterlagen als Informationsquelle sind, bei persönlichen Aussagen, wie zuverlässig die Person und wie zuverlässig ihr Erinnerungsvermögen ist.

Wird eine zuverlässige, aus der Erinnerung gemachte persönliche Aussage durch zuverlässige schriftliche Unterlagen aus der betreffenden Zeit erhärtet, so kann diesem Beweismittel eine hohe Beweiskraft beigemessen werden. Mangelnde Zuverlässigkeit und das Fehlen erhärtender Belege mindern die Beweiskraft entsprechend.

9. Im vorliegenden Fall deuten nur die folgenden Beweismittel darauf hin, daß mindestens ein Abonnent an oder vor dem 12. Oktober 1987 ein Exemplar von D1 erhalten hat:

i) Die Kopie des Faxes vom 13. Mai 1993 (s. Nr. II) wurde dem EPA vom AIP mit dem handschriftlichen Vermerk “zur Post gegeben am 6.10.87” zurückgesandt.

ii) Die zuständige Postbehörde hatte geschätzt, daß 1987 gewöhnliche Postsendungen innerhalb von vier bis sieben Tagen zugestellt wurden.

Was das unter Ziffer i genannte Beweismittel betrifft, so ist zwar dem handschriftlichen Vermerk zufolge die Zeitschrift D1 möglicherweise am 6. Oktober 1987 vom AIP per Post an die Abonnenten verschickt worden, das Fax enthält aber keine Angaben darüber, wer den handschriftlichen Vermerk im AIP angebracht hat und ob diese Person dazu befugt war und damit glaubwürdig ist. Auch geht aus dem Fax nicht hervor, worauf sich dieser Vermerk stützt – ob zum Beispiel das Versanddatum aus Aufzeichnungen entnommen wurde, die beim AIP geführt werden. Die Aussage könnte also eine reine Mutmaßung eines unbekannten AIP-Mitarbeiters darüber sein, was sich sechs Jahre zuvor zugetragen haben könnte. Nach Ansicht der Kammer ist solches Beweismaterial von vornherein nur von geringer Beweiskraft und darf unter keinen Umständen der Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung zugrunde gelegt werden.

Nach Ansicht der Kammer darf gemäß dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung einem nicht unterschriebenen Vermerk einer unbekannten und namentlich nicht genannten Person in den Verfahren vor dem EPA grundsätzlich nur eine sehr geringe Beweiskraft beigemessen werden. Im vorliegenden Fall war dies das einzige verfügbare Beweismittel, das als wesentliches Glied in einer Argumentationskette zu der Feststellung führen konnte, daß eine Vorveröffentlichung vorlag. Ein solches Beweismittel allein darf grundsätzlich nicht zu einer Tatsachenfeststellung führen, die die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung oder den Widerruf eines europäischen Patents zur Folge hat.

In jedem Fall ist es – wie die Anmelderin bemerkt – fraglich, was unter dem Vermerk “zur Post gegeben am 6.10.87” genau zu verstehen ist. Er könnte auch bedeuten, daß die Zeitschriften an eine Vertriebsstelle weitergeleitet und von dort aus an die einzelnen Abonnenten verschickt wurden.

Was das unter Ziffer ii genannte Beweismaterial betrifft, so ist die von einer Postbehörde geschätzte Postlaufzeit natürlich nur dann von Bedeutung, wenn der Tag der Aufgabe bei der Post mit hoher Wahrscheinlichkeit feststeht; dies trifft hier aber nicht zu. In jedem Fall ist auch die Schätzung einer Postbehörde, wie lange die Postlaufzeiten in einem bereits sechs Jahre zurückliegenden Jahr (1987) in einem nicht bekannten geographischen Gebiet gewesen sind, von vornherein als Beweismittel für die Zurückweisung einer Patentanmeldung nur von sehr geringem Wert.

Die unter i und ii genannten Beweismittel sind nach Auffassung der Kammer in Verbindung miteinander eindeutig nicht beweiskräftig genug, um die Zurückweisung der vorliegenden Patentanmeldung zu begründen.

10. Selbst wenn – entgegen der Auffassung der Kammer – die unter i und ii genannten Beweismittel für sich genommen mit einiger Wahrscheinlichkeit dafür sprächen, daß ein Abonnent vor dem 13. Oktober 1987 ein Exemplar von D1 erhalten hat, müßten die von der Anmelderin vorgelegten Belege für den tatsächlichen Tag des Eingangs bei den Abonnenten (zwei Exemplare gingen am 15. Oktober 1987, eines am 13. Oktober 1987 ein) gegen die Beweismittel nach den Ziffern i und ii abgewogen werden (s. Nr. 7).

11. Die Kammer hält es unter Berücksichtigung sämtlicher vorliegender Beweismittel (einschließlich der Belege über die tatsächlichen Zustelltage) für durchaus möglich, daß mindestens ein Abonnent D1 vor dem 13. Oktober 1987 erhalten hat; ebenso möglich ist es aber auch, daß keiner der Abonnenten D1 vor dem Prioritätstag erhalten hat. Das vorliegende Beweismaterial macht nicht hinreichend glaubhaft, daß ein Abonnent D1 vor dem Prioritätstag erhalten hat, um als Zurückweisungsgrund dienen zu können.

12. Das bei der Entscheidung T 381/87 vorhandene Beweismaterial (anhand dessen festgestellt wurde, daß eine Vorveröffentlichung vorlag) soll nun mit dem hier vorliegenden Beweismaterial verglichen werden.

In dem der Entscheidung T 381/87 zugrunde liegenden Fall erklärte der Bibliothekar der Royal Society of Chemistry in einem von ihm geschriebenen und unterzeichneten Brief vom 25. März 1988, daß das Dokument A “am 26. November 1981 in der Bibliothek der Gesellschaft ausgelegt worden ist”. Auf eine Nachfrage der Anmelderin hin schrieb und unterzeichnete der Bibliothekar einen weiteren Brief und legte die Kopie eines Belegs der Bibliothek bei, aus der hervorging, daß das Dokument A am 26. November 1981 in der Bibliothek eingegangen und dort bearbeitet worden war und daß es normalerweise am selben Tag in der Freihandbibliothek ausgelegt worden sein dürfte.

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dem einzigen Beweismittel für den Versandtag um einen nicht unterzeichneten Vermerk einer namentlich nicht genannten Person, der weder durch einen Hinweis auf eine schriftliche Unterlage aus dem betreffenden Zeitraum noch durch andere Beweismittel erhärtet wird.

13. Möglicherweise würden weitere Ermittlungen ergeben, daß D1 der Öffentlichkeit am 12. Oktober 1987 auf Anfrage beim AIP war zugänglich (s. Nrn. 4 und 5) oder daß mindestens ein Abonnent an oder vor dem 12. Oktober 1987 ein Exemplar von D1 per Post erhalten hat.

Wie die Große Beschwerdekammer aber in der Entscheidung G 10/93 (s. Nr. 2) festgestellt hat, ist das Verfahren vor den Beschwerdekammern “primär auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung abgestellt”. Die Kammer könnte die Sache mit der Anordnung an die Prüfungsabteilung zurückverweisen, weitere Ermittlungen durchzuführen; es erscheint jedoch unwahrscheinlich, daß diese weitere zuverlässige Beweismittel für die Ereignisse in Zusammenhang mit dieser über zehn Jahre zurückliegenden Veröffentlichung erbringen können.

Aus diesem Grund hat die Kammer entschieden, der Beschwerde stattzugeben.

Selbstverständlich steht es einem Einsprechenden nach der Patenterteilung frei, nachzuweisen, daß D1 der Öffentlichkeit tatsächlich vor dem Prioritätstag zugänglich gemacht worden ist.

14. Die Sache wird daher an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, zu prüfen, ob die Anmeldung die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, wobei davon auszugehen ist, daß D1 nicht zum Stand der Technik gehört.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.