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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1999:T097793.19990330
Datum der Entscheidung: 30 März 1999
Aktenzeichen: T 0977/93
Anmeldenummer: 84902632.3
IPC-Klasse: A61K 39/12
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: IMPFSTOFF GEGEN HUNDECORONAVIRUS
Name des Anmelders: American Home Products Corporation
Name des Einsprechenden: Rhône Mérieux
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: Ein der Öffentlichkeit zugänglich gemachtes Erzeugnis ist nicht reproduzierbar im Sinne der Stellungnahme G 1/92 (Nr. 2.1 der Begründung) und gehört folglich nicht zum Stand der Technik, wenn der Fachmann nicht feststellen kann, ob das reproduzierte Erzeugnis mit dem Handelsprodukt identisch ist, weil die intrinsischen und extrinsischen Merkmale des Erzeugnisses nicht zugänglich sind und sich bei der Reproduktion mit hoher Wahrscheinlichkeit Abweichungen ergeben (s. Nrn. 11.1 bis 11.3 und 12 der Entscheidungsgründe).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
European Patent Convention 1973 Art 123(3)
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Zugänglichkeit der intrinsischen und extrinsischen Merkmale eines Impfstoffs (verneint)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/88
G 0001/92
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1076/00

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 0 145 783 (Anmeldenr. 84 902 632.3) wurde auf der Grundlage von 28 Ansprüchen erteilt und ist auf einen inaktivierten Impfstoff gegen canine Coronaviren gerichtet.

II. Zwei Einsprechende (Einsprechende I und Einsprechende II) legten Einspruch gegen dieses Patent ein und beantragten seinen Widerruf in vollem Umfang wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Art. 54, 56 und 100 a) EPÜ). Die Einsprechende II machte insbesondere geltend, daß zwei Impfstoffe (Duramune C® und Coronavac®), die unter den Anspruch 1 des Streitpatents fielen, der Öffentlichkeit vor dem frühesten Prioritätstag des Patents durch ein Verkaufsangebot bzw. durch Verkauf zugänglich gemacht worden seien.

III. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent. Ihrer Entscheidung lagen die Ansprüche in der erteilten Fassung zugrunde. Anspruch 1 der erteilten Fassung lautete für alle Vertragsstaaten mit Ausnahme von AT wie folgt:

“1. Impfzusammensetzung mit dem avirulenten antigenen Produkt, gebildet entweder durch

a) Abschwächen lebender caniner Coronaviren durch Passagen in Zellen felinen Ursprungs, so daß die abgeschwächten lebenden Viren bei Verabreichung an einen Hund durch Injektion selektiv das Darmepithel infizieren, oder

b) Inaktivieren caniner Coronaviren, die in felinen oder caninen Zellen vermehrt wurden, wobei das avirulente antigene Produkt in einer Menge vorhanden ist, die einen Hund wirksam vor der Infektion durch virulente canine Coronaviren schützt, und einem nichttoxischen pharmazeutisch brauchbaren Träger.”

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 waren auf besondere Ausführungsarten des Impfstoffs nach Anspruch 1 gerichtet. Die Ansprüche 11 bis 28 betrafen Verfahren zur Herstellung von Impfstoffen gegen canine Coronaviren (Ansprüche 11 bis 16), zur Vermehrung caniner Coronaviren (Ansprüche 17 bis 24) und zur Beurteilung der Wirksamkeit des Impfstoffs (Ansprüche 25 bis 28). Für AT waren die Ansprüche 1 bis 28 entsprechend als Herstellungs- bzw. Verfahrensansprüche abgefaßt.

IV. Die Einspruchsabteilung befand, daß Coronavac® unter den Anspruch 1 falle und öffentlich zugänglich gemacht worden sei, weil der Käufer dieses Impfstoffs, Herr Fazzi, die intrinsischen und extrinsischen Merkmale des Impfstoffs ermitteln und ihn habe reproduzieren können. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei demnach durch das Verkaufsangebot für Coronavac® vorweggenommen worden.

V. Nachdem sie bereits die Neuheit verneint hatte, ging die Einspruchsabteilung auf den anderen Einspruchsgrund – mangelnde erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) – nicht weiter ein.

VI. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, entrichtete die Beschwerdegebühr und reichte eine Beschwerdebegründung ein. Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechenden) brachten Gegenargumente vor.

VII. Mit Schreiben vom 10. März 1998 nahm die Einsprechende I ihren Einspruch zurück.

VIII. Am 3. November 1998 reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 und 2 ein.

IX. Am 30. März 1999 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der die Beschwerdeführerin anstelle aller früheren Anträge einen einzigen Hauptantrag vorlegte.

Anspruch 1 dieses Hauptantrags lautet für alle Vertragsstaaten mit Ausnahme von AT wie folgt (die Ergänzungen gegenüber Anspruch 1 in der erteilten Fassung sind durch Fettdruck gekennzeichnet):

“1. Impfzusammensetzung mit dem avirulenten antigenen Produkt, gebildet entweder durch a) Abschwächen lebender caniner Coronaviren durch mindestens acht Passagen in Zellen felinen Ursprungs bei einem niedrigen Viren-Zellen-Verhältnis von etwa 1:1000 bis 1:10000, gemessen nach dem TCID50-Verfahren, so daß die abgeschwächten lebenden Viren bei Verabreichung an einen Hund durch Injektion selektiv das Darmepithel infizieren, oder b) Inaktivieren caniner Coronaviren, die in felinen oder caninen Zellen vermehrt wurden, wobei das avirulente antigene Produkt in einer Menge vorhanden ist, die einen Hund bei parenteraler Verabreichung wirksam vor der Infektion durch virulente canine Coronaviren schützt, und einem nichttoxischen pharmazeutisch brauchbaren Träger.”

Die Ansprüche 2 bis 28 waren mit den Ansprüchen 2 bis 28 der erteilten Fassung identisch; es wurde lediglich in Anspruch 11 ein Verweis auf Anspruch 1 sowie der Begriff “inaktivierten” zwischen “Verfahren zur Herstellung eines” und “Impfstoffs gegen canine Coronaviren” und in Anspruch 17 ein Verweis auf Anspruch 1 a) aufgenommen.

X. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Dokumente eingegangen:

(3) US-A-3 704 203

(7) Horzinek M. C. et al., Infection and Immunity, Band 37, Nr. 3, Seiten 1148 – 1155 (1982)

(8) Woods R. D., Veterinary Microbiology, Band 7, Seiten 427 – 435 (1982)

(10) Appel M. et al., Canine Practice-Medicine, Band 7, Seiten 25 – 29 und 32 – 35 (1980)

(15) Pollock R. et al., Veterinary Clinics of North America: Small Animal Practice, Band 13, Nr. 3, Seiten 551 – 566 (August 1983)

(21) Vaccines Inc., Outline of production, Canine corona virus vaccine, Modified live virus, Cell line origin US. Veterinärlizenz Nr. 227 (22. Juli 1981)

(25) Erklärung von Dr. R. Wichmann vor dem US-Bezirksgericht für Kalifornien vom 24. April 1991

(26) Erklärung von Dr. C. J. York vor dem US-Bezirksgericht für Kalifornien vom 19. April 1991

(27) Zeugenaussage von Dr. C. J. York vor dem US-Bezirksgericht für Kalifornien vom 6. Februar 1991

(46) Schultz R. H. et al., Canadian Veterinary Journal, Band 31, Seiten 617 – 620 (1990)

(47) Erklärung von Dr. Acree vor dem USPTO vom 20. September 1984

(49) Schreiben von Prof. L. Carmichael an Dr. G. Chappuis vom 27. Mai 1994

(62) Unterlagen zum Seminar “Canine Virus Disease” der Fort Dodge Laboratories am 7. April 1983

(63) Horst Glathe, Virusimpfstoffe, Akademie Verlag GmbH, Berlin, Seiten 32, 41 und 65 (1991)

(64) Erklärung von Prof. L. Carmichael vom 28. Oktober 1998

(66) Encyclopaedia of Virology, Band 1, Academic Press, Seiten 255 – 260 (1994)

XI. Zur Stützung ihres Antrags brachte die Beschwerdeführerin in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung folgende Argumente vor:

Neuheit

– Duramune C® sei Gegenstand von Vertraulichkeitsvereinbarungen zwischen der Patentinhaberin und Vaccine Inc. und könne daher nicht öffentlich zugänglich gewesen sein.

– Der beanspruchte CCV-Impfstoff sei durch folgende drei Merkmale gekennzeichnet:

(1) Der Impfstoff enthalte CCV, die durch mindestens acht Passagen in felinen Zellen bei einem niedrigen Viren-Zellen-Verhältnis von etwa 1:1000 bis 1:10000 – gemessen nach dem TCID50-Verfahren – abgeschwächt worden seien.

(2) Bei parenteraler Injektion infizierten die abgeschwächten Viren selektiv das Darmepithel.

(3) Der Impfstoff schütze Hunde vor einer CCV-Infektion.

– Die Beschwerdegegnerinnen hätten nicht nachgewiesen, daß die Zusammensetzung Coronavac® unter den Anspruch 1 des Streitpatents falle. Es sei nicht belegt worden, daß Coronavac® die genannten drei Merkmale 1, 2 und 3 aufweise.

– Die Vorbenutzung eines abgeschwächten CCV-Impfstoffs gemäß Anspruch 1 des Streitpatents sei nicht erwiesen.

– Selbst wenn der Fachmann tatsächlich vor dem Prioritätstag des Streitpatents im Besitz von Coronavac® und Duramune C® gewesen wäre, wären ihm ihre intrinsischen und extrinsischen Merkmale dadurch noch nicht zugänglich gewesen. Die drei Merkmale 1, 2 und 3 hätten nicht abgeleitet werden können, sondern wären nur dann öffentlich zugänglich gewesen, wenn der Fachmann in der Lage gewesen wäre, das Erzeugnis ohne unzumutbaren Aufwand zu analysieren und zu reproduzieren (Stellungnahme G 1/92, ABl. EPA 1993, 277). Es lasse sich aber nicht feststellen, wie die Viren abgeschwächt worden seien und wie viele Passagen sie durchlaufen hätten (Merkmal 1). Auch die Merkmale 2 und 3 hätten sich dem Fachmann nicht erschlossen, weil die Immunreaktion auf CCV kaum erforscht sei und kein Versuchsmodell existiere. Außerdem könnten die Viren nicht reproduziert werden, weil kein “Mutterkulturvirus” (“working stock”) zugänglich sei. Die Reproduktion eines abgeschwächten CCV-Impfstoffs durch die weitere Vermehrung von Coronavac® sei nicht möglich, da nicht beliebig viele Passagen durchgeführt werden könnten, wenn man unerwünschte Mutationen vermeiden wolle (Druckschriften 63 und 66).

Erfinderische Tätigkeit

– Der nächstliegende Stand der Technik sei die Druckschrift 10. Darin heiße es, daß es keinen Impfstoff gegen CCV gebe und die parenterale Impfung mit abgeschwächten CCV nur begrenzten Schutz biete. In der späteren Druckschrift 15 werde dies bestätigt. Das Streitpatent löse die Aufgabe, Mittel und Wege zur Herstellung eines CCV-Impfstoffs bereitzustellen.

– In der Druckschrift 62 werde lediglich berichtet, daß ein parenteral verabreichter CCV-Impfstoff den Darmtrakt zu 95 % schütze. Es sei aber nicht angegeben, ob es sich beim betreffenden Impfstoff um einen abgeschwächten Lebendimpfstoff oder um einen inaktivierten Impfstoff handle. Außerdem bedeute “Schutz des Darmtraktes” nicht automatisch, daß “das Darmepithel selektiv infiziert” werde.

– Weder die angeblich vor dem Prioritätstag des Streitpatents öffentlich zugänglichen Impfstoffe Duramune C® und Coronavac® noch die Druckschrift 62 bzw. 10 oder eine Kombination daraus gäben Auskunft darüber, wie zum beanspruchten Impfstoff zu gelangen sei.

– Das abgeschwächte Virus der transmissiblen Gastroenteritis (TGEV) aus der Druckschrift 3 sei mit den caninen Coronaviridae nicht verwandt, sondern nur serologisch kreuzreaktiv und schütze Hunde nicht vor CCV (Druckschrift 10, S. 28, rechte Spalte). Die Lehre der Druckschriften 3, 7 und 8 umfasse nicht die in Anspruch 1 genannten Merkmale.

– Die Fachwelt habe nicht erwartet, daß ein inaktivierter CCV-Impfstoff – überdies bei parenteraler Verabreichung – Schutz verleihe, weil die Überzeugung geherrscht habe, daß nur ein oral verabreichter abgeschwächter CCV-Lebendimpfstoff eine ausreichende Immunreaktion auslösen könne.

– Die Auswirkungen des Inaktivierungsvorgangs auf die für die Schutzwirkung erforderlichen Epitope seien nicht vorhersehbar.

XII. Die Beschwerdegegnerinnen brachten in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen folgende Argumente vor:

Neuheit

– Zwei Impfstoffe (Duramune C® und Coronavac®), die unter den Anspruch 1 des Streitpatents fielen, seien der Öffentlichkeit vor dem frühesten Prioritätstag des Patents durch ein Verkaufsangebot bzw. einen tatsächlich vollzogenen Verkauf zugänglich gemacht worden. Coronavac® werde aus dem in felinen Zellen abgeschwächten CCV-Stamm CCV(K-378)-51 (s. Dokumente 25, 26, 27 und 49), Duramune C® aus dem durch 12 Passagen in felinen Zellen abgeschwächten CCV-Stamm TN-449 hergestellt (s. Druckschrift 21).

– Durch die Vorbenutzung dieser Impfstoffe seien die in der Stellungnahme G 1/92 (s. o.) aufgestellten Erfordernisse der Analysierbarkeit und der Reproduzierbarkeit erfüllt. Die Vorbenutzung eines Erzeugnisses umfasse dabei alle schriftlichen und mündlichen Informationen, die eindeutig mit ihr einhergingen. Der Fachmann habe gewußt, daß diese Impfstoffe aus abgeschwächten CCV hergestellt worden seien und parenteral injiziert werden müßten. Demjenigen, der sich an diese Angaben halte, stünden zwangsläufig alle extrinsischen und intrinsischen Merkmale zu Gebote (“Inhärenzdoktrin”). Da Coronavac® und Duramune C® eine Schutzwirkung hätten und ein solcher Schutz mit der Infektion des Darmepithels verbunden sei, müßten Coronavac® und Duramune C® implizit die Merkmale 2 und 3 aufweisen, die auch allen CCV-Stämmen eigen seien (s. Dokument 47, Nrn. 6 und 9).

– Das Merkmal 2 sei auch von Dr. Acree auf dem Seminar “Canine Virus Disease” am 7. April 1983, d. h. vor dem frühesten Prioritätstag des Streitpatents, offenbart worden (s. Druckschrift 62).

– Das neuheitsschädliche Ereignis sei die Vorbenutzung selbst gewesen und nicht die Analyse des Erzeugnisses.

– Was die Reproduzierbarkeit angehe, so sei es bei kleinen Unternehmen in den USA gang und gäbe, Impfstoffe aus im Handel erhältlichen Impfampullen herzustellen. Somit sei es möglich gewesen, den beanspruchten Impfstoff anhand einer einzigen Ampulle, beispielsweise von Coronavac®, zu reproduzieren, deren Inhalt als Mutterkultur verwendet und einer begrenzten Zahl von Passagen in caninen Zellen unterzogen worden wäre.

Erfinderische Tätigkeit

– Den nächstliegenden Stand der Technik bildeten die Druckschrift 62 und die auf dem Markt erhältlichen Impfstoffe Coronavac® und Duramune C®. Zum einen habe die Öffentlichkeit den Seiten 9 und 10 der Druckschrift 62 entnehmen können, daß abgeschwächte Lebend-CCV bei parenteraler Injektion den Darmtrakt schützten. Zum anderen seien bereits zwei Impfstoffe auf der Grundlage abgeschwächter CCV zur parenteralen Verabreichung auf dem Markt gewesen. Daher habe es nahegelegen, CCV abzuschwächen und zu testen, ob sie den Darmtrakt – wie in Druckschrift 62 dargestellt – infizierten, um mit guten Erfolgsaussichten zum beanspruchten Impfstoff zu gelangen.

– Die Druckschrift 3 offenbare die Herstellung eines abgeschwächten TGEV-Lebendimpfstoffs, der bei parenteraler Verabreichung eine Schutzwirkung entfalte. TGEV und CCV seien sich in immunologischer Hinsicht sehr ähnlich (s. Druckschriften 7 und 8). Daher hätten sehr gute Erfolgsaussichten bestanden, durch Abschwächung von CCV zum beanspruchten Impfstoff zu gelangen.

– Bezüglich des Impfstoffs mit inaktivierten CCV belege die Druckschrift 3, daß auch ein inaktivierter TGEV-Impfstoff bei parenteraler Verabreichung Schutz verleihe. Dies zeige, daß die Epitope beim Inaktivierungsvorgang erhalten blieben und nicht zerstört würden.

XIII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hauptantrags.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende II) beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Artikel 123 (2) und (3) EPÜ

2. Der in Anspruch 1 eingefügte Passus “mindestens acht Passagen bei einem niedrigen Viren-Zellen-Verhältnis von etwa 1:1000 bis 1:10000, gemessen nach dem TCID50-Verfahren” wird durch die Zeilen 10 bis 15 auf Seite 7 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ebenso gestützt wie der Ausdruck “bei parenteraler Verabreichung” in Anspruch 1 durch Zeile 19 auf Seite 5 der ursprünglichen Anmeldung. Diese hinzugefügten Merkmale stellen eine Einschränkung dar. Die Änderungen der Ansprüche 11 und 17 (s. Nr. IX) machen lediglich deutlich, daß der CCV-Impfstoff inaktiviert werden muß (s. Anspruch 1 b)) bzw. das beanspruchte Verfahren auf einen Impfstoff gemäß Anspruch 1 a) gerichtet ist. Somit sind die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) erfüllt.

Vorbenutzung

3. Nach der Stellungnahme G 1/92, Nummer 1.4 (s. o.) besteht ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre darin, daß der Fachmann in die Lage versetzt werden soll, ein bestimmtes Erzeugnis durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu benutzen. Ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muß der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluß über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen. Wenn der Fachmann die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und dieses reproduzieren kann, gehören sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik. Nach dem Grundgedanken dieser Stellungnahme gelten die Eigenschaften eines Erzeugnisses somit nicht als im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es dem Fachmann nicht möglich war, die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses zu erschließen und es zu reproduzieren, obwohl es der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Patents zur Verfügung stand.

4. Die Beschwerdegegnerinnen haben eine Vielzahl von Entgegenhaltungen vorgelegt, die die Vorbenutzung der Erfindung durch die öffentliche Zugänglichkeit von Duramune C® und Coronavac® belegen sollen. Die Kammer wird zunächst klären, ob die von den Beschwerdegegnerinnen geltend gemachte Vorbenutzung den in der Stellungnahme G 1/92 (s. o.) aufgestellten Erfordernissen der Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit genügt. Sollte dies nicht der Fall sein, so würde sich die Prüfung der Frage erübrigen, ob Duramune C® und Coronavac® tatsächlich vor dem Prioritätstag des Streitpatents einem Mitglied der Öffentlichkeit zur Verfügung standen und unter den strittigen Anspruch 1 fallen.

5. Es muß festgestellt werden, ob der Fachmann, dem Duramune C® oder Coronavac® zur Verfügung stand, daraus die folgenden drei im strittigen Anspruch 1 angegebenen Merkmale 1 bis 3 ableiten konnte:

(1) Der Impfstoff enthält CCV, die durch mindestens acht Passagen in felinen Zellen bei einem niedrigen Viren-Zellen-Verhältnis von etwa 1:1000 bis 1:10000 – gemessen nach dem TCID50-Verfahren – abgeschwächt worden sind (Anspruch 1 a)).

(2) Bei Verabreichung an einen Hund durch Injektion infizieren die abgeschwächten Viren selektiv das Darmepithel (Anspruch 1 a)).

(3) Bei parenteraler Verabreichung schützt das avirulente antigene Erzeugnis Hunde vor einer Infektion durch virulente CCV (Ansprüche 1 a) und 1 b)).

6. Zu Merkmal 1 ist anzumerken, daß es zum allgemeinen Fachwissen gehört, daß die Abschwächung eines Virus an lebendem Material (z. B. an tierischen Zellen) vorgenommen wird, um bestimmte genetische Veränderungen (Mutationen, Deletionen usw.) hervorzurufen, die die Virulenz des Virus unter Wahrung seiner Immunogenität verringern. Mit jeder zusätzlichen Passage in der Wirtszelle treten weitere genetische Veränderungen auf, die die Immunogenität und/oder Infektiosität des Virus beeinflussen. Diese Veränderungen sind von der Wirtszelle, in der die Abschwächung vorgenommen wird, und von den jeweiligen Bedingungen (u. a. der Zahl der Passagen und dem Viren-Zellen-Verhältnis) abhängig. Was die Frage angeht, ob ein Fachmann, der vor dem Prioritätstag des Streitpatents im Besitz von Coronavac® oder Duramune C® war, diese Bedingungen und die Wirtszelle ermitteln kann, in der die Viren abgeschwächt wurden, so ist die Kammer davon überzeugt, daß dies, wie unter Nummer 6 des Dokuments 64 festgestellt, unmöglich ist. Ein wesentliches Hindernis dafür besteht ganz offensichtlich darin, daß sich keine Korrelation zwischen den genetischen Veränderungen einerseits und der Zahl der Passagen, der Beschaffenheit der Wirtszelle oder dem Viren-Zellen-Verhältnis andererseits herstellen läßt.

7. Bezüglich des Merkmals 2, d. h. der selektiven Infektion des Darmepithels eines Hundes bei parenteraler Verabreichung des beanspruchten abgeschwächten Impfstoffs, pflichtet die Kammer den Beschwerdegegnerinnen darin bei, daß dieses Merkmal in der Interaktion des abgeschwächten CCV-Lebendimpfstoffs mit dem Hund inhärent enthalten ist (vgl. “Inhärenzdoktrin”). Dies entbindet die Kammer aber nicht von der Klärung der Frage, ob dieses Merkmal “verborgen” oder dem Fachmann vor dem Prioritätstag des Streitpatents zugänglich war. Dies ergibt sich aus der Begründung der Entscheidung G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93, Nr. 10.1), wonach “es im Zusammenhang mit Artikel 54 (2) EPÜ darum geht zu entscheiden, was der Öffentlichkeit ‘zugänglich gemacht’ worden ist, und nicht darum, was in dem (z. B. durch eine frühere schriftliche Beschreibung oder eine frühere Benutzung (Vorbenutzung)) zugänglich Gemachten ‘inhärent’ enthalten gewesen sein mag”.

8. Nach Auffassung der Kammer konnte das Merkmal 2 dem Fachmann nur dann zugänglich sein, wenn ihm der genaue Schutzmechanismus von Coronavac® oder Duramune C® bei Hunden bekannt war. Vor dem Prioritätstag des Streitpatents war aber noch nicht einmal etwas über den Immunitätsmechanismus gegenüber CCV bekannt, was durch die spätere Druckschrift 15, die im August 1983 veröffentlicht und jetzt als Gutachten angezogen wurde, auch belegt wird (s. S. 558, letzter vollständiger Absatz: “Noch weniger weiß man über die Immunität gegenüber dem caninen Coronavirus.”). Vor dem Prioritätstag war lediglich bekannt, daß virulente CCV bei oraler Aufnahme den Darmtrakt eines Hundes infizierten (s. Druckschrift 10, S. 26, “Infektionsweg”), die parenterale Verabreichung der Viren aber nicht zu einer Darminfektion führte (a. a. O., S. 28, linke Spalte). Dies bedeutete für den Fachmann aber nicht, daß es sich bei abgeschwächten CCV genauso verhalten mußte. Gerade bei parenteraler Verabreichung des abgeschwächten Virus bestand keine Gewähr für die Erhaltung der charakteristischen Virusaktivität. Somit gab es nach Ansicht der Kammer keine Möglichkeit, dieses Merkmal zu ermitteln.

9. Die Beschwerdegegnerinnen bringen vor, daß das Merkmal 2 und ein entsprechendes Testverfahren auf dem Seminar von Dr. Acree offenbart worden seien (s. Druckschrift 62, S. 24/51, Nr. IV.5.a und S. 25/51, Nr. E.1). In der Druckschrift 62 wird aber lediglich berichtet, daß ein nicht näher bestimmter parenteral verabreichter CCV-Impfstoff zu 95 % einen Schutz des Darmtraktes bewirkt, wobei nicht angegeben ist, ob dieser Impfstoff Coronavac® oder Duramune C® ist bzw. ob es sich um einen abgeschwächten Lebendimpfstoff, einen inaktivierten Impfstoff oder etwas anderes handelt. Darüber hinaus steht dieser “Schutz des Darmtraktes” nicht unbedingt in Verbindung mit dem Merkmal 2 (“infiziert selektiv das Darmepithel”), weil er auch auf lokale Antikörper zurückgehen kann und nicht auf eine Infektion durch das Virus. Ferner wird in der Druckschrift 62 (s. S. 9/51, Nr. 3) zwar ein Verfahren offenbart, das auf der “Markierung von Darmpräparaten mit fluoreszierenden Antikörpern” basiert. Dieses Verfahren wird aber in Zusammenhang mit der Diagnose von caninem Coronavirus genannt (s. Überschrift auf S. 9/51) und nicht in Zusammenhang mit der Beurteilung des “Schutzes des Darmtraktes” durch den angeführten nicht näher bestimmten CCV-Impfstoff. Selbst wenn also davon ausgegangen würde, daß die Kombination der Druckschrift 62 mit der Vorbenutzung von Coronavac® oder Duramune C® bei der Entscheidung der Neuheitsfrage zulässig wäre, wäre das Merkmal 2 dem Fachmann vor dem Prioritätstag des Streitpatents verborgen geblieben.

10. Bezüglich des Merkmals 3, wonach das avirulente antigene Erzeugnis, das entweder aus den gemäß Anspruch 1 a) abgeschwächten lebenden caninen Coronaviren oder aus den inaktivierten, in felinen oder caninen Zellen vermehrten caninen Coronaviren (Anspruch 1 b)) gewonnen wird, Hunde bei parenteraler Verabreichung vor der Infektion durch CCV schützt, merkt die Kammer an, daß es vor dem Prioritätstag des Streitpatents nicht möglich war, eine CCV-Infektion ausschließlich anhand der klinischen Symptome zu diagnostizieren. Dies wird in der späteren Druckschrift 15 (veröffentlicht im August 1983), die als Gutachten angezogen wurde, auf Seite 551 unter der Überschrift “Klinische Diagnose” bestätigt. Auch in der Druckschrift 62 heißt es auf Seite 9/51 (Nr. 2), daß “die Diagnose einer CCV-Gastroenteritis anhand der Symptome irreführend sein kann”.

Somit standen Feldversuche nicht in Korrelation zum Immunschutz und konnten daher nichts über ihn aussagen. Eine entsprechende Korrelation fehlte auch bei serologischen Untersuchungen, weil humorale Antikörper noch keinen Schutz bedeuteten (s. Druckschrift 10, S. 28, linke Spalte, “Immunität”). Um dieses Hindernis auszuräumen, mußte der Fachmann also anhand eines zuverlässigen Versuchsmodells prüfen, ob ein bestimmter Impfstoff tatsächlich Schutz verlieh. Dieses Versuchsmodell stand dem Fachmann vor dem Prioritätstag des Streitpatents aber nicht zur Verfügung und wurde auch im Seminar von Dr. Acree nicht offengelegt (s. Druckschrift 62, S. 25/51, Nr. E.1: “Auf das genaue Verfahren zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Impfstoffs kann nicht eingegangen werden.”). Das Versuchsmodell basierte auf den Erkenntnissen in Anspruch 25 des Streitpatents, wonach Proben aus dem Darmtrakt des geimpften Hundes und des Kontrollhundes nach CCV-Exposition der Hunde untersucht wurden, um den Replikationsgrad des Virus zu bestimmen. Da der Fachmann vor dem Prioritätstag des Streitpatents also nicht zuverlässig beurteilen konnte, ob ein bestimmter CCV-Impfstoff das Merkmal 3 aufwies oder nicht, blieb ihm auch das Merkmal 3 verborgen.

Reproduzierbarkeit

11.1 Die Beschwerdegegnerinnen argumentieren, einer der vorbenutzten Impfstoffe wäre zugänglich gewesen, wenn der Impfstoff auf der Grundlage einer einzigen Ampulle, beispielsweise von Coronavac®, reproduziert worden wäre, die als Mutterkultur verwendet und einer begrenzten Zahl von Passagen in caninen Zellen unterzogen worden wäre. Dagegen sprechen nach Auffassung der Kammer aber zwei wichtige Gründe.

11.2 Zum einen heißt es unter Nummer 1.4 der Stellungnahme G 1/92 (s. Nr. 3), daß ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre darin besteht, daß der Fachmann in die Lage versetzt werden soll, ein bestimmtes Erzeugnis durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu benutzen. Die Herstellung oder Benutzung eines bestimmten Erzeugnisses setzt demnach in logischer Konsequenz auch voraus, daß sich ihm dessen Zusammensetzung oder innere Struktur erschließt. Somit hängt die Reproduzierbarkeit eines Erzeugnisses davon ab, daß der Fachmann vor und nach der Reproduktion weiß, was er in Händen hat, während eine “blinde” Reproduktion zu einem unkontrollierbaren Ergebnis führen würde. Im vorliegenden Fall konnte der Fachmann aber nicht wissen, ob die Merkmale 1 bis 3 im handelsüblichen Impfstoff oder in einem reproduzierten Impfstoff vorhanden waren (s. Nrn. 6 bis 10). Daher konnte er auch nicht feststellen, ob der reproduzierte Impfstoff mit dem Ausgangsimpfstoff identisch war.

11.3 Zum anderen war die Wahrscheinlichkeit einer genetischen Veränderung des Genoms der Viren im Zuge der Vermehrung in einer lebenden Wirtszelle sehr hoch. An jedem Virus können bei seiner Vermehrung genetische Änderungen auftreten, die beispielsweise den Gewebetropismus, die Virulenz, das Attenuierungsverhalten oder die Wärmebeständigkeit verändern könnten. Dies steht in Einklang mit der Druckschrift 46, wonach bei der Vermehrung eines Lebendvirusimpfstoffs nur eine begrenzte Zahl von Passagen vorgenommen werden dürfen, um unerwünschte Mutationen zu vermeiden (s. S. 618, linke Spalte, zweiter Absatz). Spätere Druckschriften belegen sogar, daß Viren mit einzelsträngiger RNA wie CCV für solche Mutationen besonders anfällig sind (s. Druckschrift 66, Absatz auf S. 257 unten und S. 258 oben, sowie Druckschrift 63, S. 65 unten). Wie bereits unter Nummer 6 angeführt, sind diese genetischen Veränderungen von der Wirtszelle, in der die Vermehrung vorgenommen wird, und von den jeweiligen Bedingungen (u. a. der Zahl der Passagen und dem Viren-Zellen-Verhältnis) abhängig.

12. Vor dem Prioritätstag des Streitpatents führten diese beiden Sachverhalte (d. h. fehlendes Wissen des Fachmanns um die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses und hohe Wahrscheinlichkeit einer genetischen Veränderung des Genoms der Viren bei Vermehrung in einer lebenden Wirtszelle) in Verbindung miteinander zu einer unkontrollierbaren Situation, wenn versucht wurde, eine im Handel erhältliche Ampulle eines CCV-Impfstoffs zu vermehren. Da der Fachmann beispielsweise die genaue Beschaffenheit des Ampulleninhalts nicht ergründen konnte, sondern nur wußte, daß “der Impfstoff aus modifizierten CCV-Lebendviren bestand und mittels spezieller Gewebekulturverfahren entwickelt wurde” (s. Dokument 25, S. 72, d. h. Beipackzettel der Ampulle), hatte er auch keinen Anhaltspunkt für die möglichen Verfahren zur Vermehrung der CCV und hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit riskiert, daß die Viren im Falle ihrer Vermehrung wieder virulent geworden wären (s. Streitpatent, S. 5, Z. 25 bis 29). Daß man die CCV-Viren vermehren konnte, indem man eine einzige Ampulle mit beispielsweise Coronavac® als “Mutterkultur” einer begrenzten Reihe von Passagen unterzog, ist unstrittig; nach Ansicht der Kammer können diese vermehrten CCV-Viren aber nicht als der “beanspruchte Impfstoff” bezeichnet werden, solange kein entsprechender Nachweis möglich ist. Somit besteht ein enger Zusammenhang zwischen den in der Stellungnahme G 1/92 (s. o.) aufgestellten Erfordernissen, daß ein öffentlich zugängliches Erzeugnis herstellbar und benutzbar sein muß, und seiner Analysierbarkeit.

13. Selbst wenn also davon ausgegangen würde, daß Duramune C® und Coronavac® vor dem Prioritätstag des Streitpatents der Öffentlichkeit zur Verfügung standen, wären die im Anspruch angeführten Merkmale 1 bis 3 der Öffentlichkeit nicht im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zugänglich gemacht worden, weil der Fachmann diese Merkmale nicht feststellen und die Reproduktion auch nicht so überwachen konnte, daß die Erhaltung der Merkmale der “Mutterkultur” gesichert war. Der Gegenstand der strittigen Ansprüche wird daher durch die bloße öffentliche Verfügbarkeit von Duramune C® und/oder Coronavac® nicht beeinträchtigt.

Die Kammer kann auch keine weiteren Entgegenhaltungen ausmachen, die den beanspruchten Gegenstand offenbaren würden. Damit genügen die Ansprüche des einzigen Antrags den Erfordernissen des Artikels 54 EPÜ.

Erfinderische Tätigkeit

Nächstliegender Stand der Technik

14. Für die Beschwerdegegnerinnen sind die mündliche Offenbarung von Dr. Acree (Druckschrift 62) und die auf dem Markt erhältlichen Produkte Coronavac® und Duramune C® der nächstliegende Stand der Technik; für die Beschwerdeführerin ist dies die Druckschrift 10, ergänzt durch die spätere Druckschrift 15, die als Gutachten angezogen wurde. Die nachveröffentlichte Druckschrift 15 kann allerdings nicht zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden. Auch die Impfstoffe Coronavac® und/oder Duramune C® wird die Kammer für diese Zwecke nicht berücksichtigen, weil sie dem Fachmann, wie bereits ausgeführt, keinen Aufschluß über die intrinsischen oder extrinsischen Merkmale des Impfstoffs gegeben haben und damit nicht hergestellt und benutzt werden konnten.

Nach Auffassung der Kammer ist die Druckschrift 10 der nächstliegende Stand der Technik, weil darin die CCV-Enteritis bei Hunden und die Immunität gegenüber CCV behandelt wird. Dort heißt es, daß bei früheren Versuchen mit der parenteralen Verabreichung von CCV-Präparaten in abgeschwächter oder unveränderter Form kein umfassender Schutz habe erzielt werden können und ein Impfstoff gegen CCV nicht erhältlich sei. In der Druckschrift wird ferner festgestellt, daß lokale Immunität im Darmtrakt von wesentlicher Bedeutung für den Schutz vor einer CCV-Infektion sei.

In der Druckschrift 62 wird berichtet, daß ein nicht näher bestimmter parenteral verabreichter CCV-Impfstoff zu 95 % einen Schutz des Darmtraktes bewirkte, wobei nicht genau angegeben wird, ob es sich um einen abgeschwächten Lebendimpfstoff, einen inaktivierten Impfstoff oder etwas anderes handelt und wie dieser Impfstoff gewonnen wird. Somit enthält diese Druckschrift keine über die Lehre der Druckschrift 10 hinausgehende technische Lehre, sondern bestätigt lediglich, was bereits aus der Druckschrift 10 bekannt ist, nämlich daß lokale Immunität im Darmtrakt von wesentlicher Bedeutung für den Schutz vor einer CCV-Infektion ist.

Aufgabe und Lösung

15. Ausgehend von der Druckschrift 10 ist die technische Aufgabe, die das Streitpatent lösen soll, der wirksame Schutz von Hunden vor einer CCV-Infektion und die Bereitstellung von Möglichkeiten zur Gewinnung eines wirksamen Impfstoffs. Die Kammer ist davon überzeugt, daß die Impfstoffe gemäß den Ansprüchen 1 bis 10, die Herstellungsverfahren gemäß den Ansprüchen 11 bis 16 und die Verfahren gemäß den Ansprüchen 17 bis 28 diese Aufgabe angesichts der unter anderem in den Beispielen 5 und 15 angeführten Immunisierungsergebnisse lösen.

16. Somit muß festgestellt werden, ob sich die Lösung dieser Aufgabe in naheliegender Weise aus der Druckschrift 10 ergeben hat. Nach Auffassung der Kammer enthielt die Druckschrift 10 abgesehen von der Lehre, daß ein wirksamer Impfstoff lokale Immunität im Darmtrakt herstellen muß, keinen Anhaltspunkt für die Gewinnung der beanspruchten Impfstoffe. Außerdem hätte die Aussage der Druckschrift 10 (s. S. 28, rechte Spalte), wonach bei parenteraler Verabreichung abgeschwächter oder nicht abgeschwächter CCV-Präparate kein umfassender Schutz erzielt werde, den Fachmann davon abgehalten, sich auf die Entwicklung eines parenteral verabreichten Impfstoffs zu verlegen. Er hätte vielmehr an die Entwicklung eines oral verabreichten Impfstoffs gedacht, weil es in der Druckschrift 10 auf Seite 28, linke Spalte heißt, daß “auf oralem Wege infizierte Hunde immun werden”.

17. Bezüglich des inaktivierten CCV-Impfstoffs (Anspruch 1 b)) ist anzumerken, daß die Herstellung eines solchen Impfstoffs im Stand der Technik nirgends vorgeschlagen wurde und sich auch die Fachwelt nach Auffassung der Kammer von einem inaktivierten CCV-Impfstoff – überdies bei parenteraler Verabreichung – keinen Schutz des Darmtraktes versprach, weil die Überzeugung herrschte, daß nur ein oral verabreichter abgeschwächter CCV-Lebendimpfstoff eine ausreichende Immunreaktion hervorrufen könnte (s. Nr. 16). Außerdem waren die Auswirkungen des Inaktivierungsverfahrens auf die für die Schutzwirkung erforderlichen Epitope nicht vorhersehbar.

18. Zudem stellt die Kammer fest, daß man nicht ohne weiteres zu den beanspruchten Impfstoffen gelangte, weil es das unter Nummer 9 angesprochene schwerwiegende Hindernis zu überwinden galt, daß dem Fachmann vor dem Prioritätstag des Streitpatents kein Versuchsmodell zur Verfügung stand. Der Stand der Technik enthielt keinen Anhaltspunkt für das Verfahren zur Beurteilung der Wirksamkeit eines CCV-Impfstoffs gemäß Anspruch 25 des Streitpatents, wonach Proben aus dem Darmtrakt des geimpften Hundes und eines Kontrollhundes nach der CCV-Exposition der Hunde untersucht wurden, um den Replikationsgrad des Virus zu ermitteln. Ebensowenig fanden sich im Stand der Technik die weiteren technischen Angaben zur Gewinnung der beanspruchten Impfstoffe, nämlich daß die Abschwächung der CCV entsprechend dem strittigen unabhängigen Verfahrensanspruch 23, d. h. durch 8 bis 60 Passagen von CCV in felinen Zellen bei einem sehr niedrigen Viren-Zellen-Verhältnis (zwischen 1:1000 und 1:10000), erfolgen muß.

19. Auch das Argument der Beschwerdegegnerinnen, das sich auf die Druckschrift 62 und darauf stützt, daß die Impfstoffe Coronavac® und/oder Duramune C® auf dem Markt erhältlich gewesen seien, überzeugt nicht. Zum einen ist nämlich in der Druckschrift 62 nicht angegeben, ob es sich um einen abgeschwächten Lebendimpfstoff, einen inaktivierten Impfstoff oder etwas anderes handelt, und vor allem nicht dargelegt, wie dieser Impfstoff gewonnen wird, und zum anderen hätten Coronavac® und/oder Duramune C® nicht weitergeholfen, selbst wenn sie öffentlich zugänglich gewesen wären (s. Nrn. 9 und 10).

20. Die Beschwerdegegnerinnen haben auch noch vorgebracht, daß angesichts der Druckschrift 3, in der die Herstellung eines abgeschwächten TGEV-Lebendimpfstoffs und eines inaktivierten Impfstoffs offenbart war, die beide bei parenteraler Verabreichung Schutz verliehen, sehr hohe Erfolgsaussichten bestanden hätten, durch Abschwächung von CCV zu einem wirksamen Impfstoff zu gelangen. Die Kammer stellt jedoch fest, daß TGEV mit den caninen Coronaviridae nicht verwandt, sondern nur serologisch kreuzreaktiv ist und Hunde nicht vor einer CCV-Infektion schützt (Druckschrift 10, S. 28, rechte Spalte). Da der letztlich näherliegende Stand der Technik zu CCV (Druckschriften 10 und 62) keinerlei Hinweis darauf enthielt, daß bei parenteraler Verabreichung eines abgeschwächten CCV-Impfstoffs mit einer Schutzwirkung zu rechnen wäre, ist die Kammer der Auffassung, daß die mit TGEV erzielten Ergebnisse nicht auf CCV übertragbar sind. In jedem Falle werden die in Anspruch 1 angegebenen Merkmale in der Entgegenhaltung 3 nicht als Lehre offenbart oder nahegelegt.

21. Vor diesem Hintergrund gelangt die Kammer zu dem Schluß, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 und der abhängigen Ansprüche 2 bis 22 den Erfordernissen des Artikels 56 EPÜ genügt. Dieser Schluß erstreckt sich auch auf den Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 23 und 25, weil diese Ansprüche, wie bereits unter Nummer 18 angesprochen, auf ein Verfahren zur Abschwächung von CCV bzw. auf ein Verfahren zur Beurteilung der Wirksamkeit eines CCV-Impfstoffs gerichtet sind, die keine der vorliegenden Entgegenhaltungen nahelegt. Damit eröffnen sie und auch die von ihnen abhängigen Ansprüche 24 sowie 26 bis 28 einen nicht naheliegenden Weg zur Gewinnung der beanspruchten Impfstoffe.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hauptantrags aufrechtzuerhalten.