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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1998:T100795.19981117
Datum der Entscheidung: 17 November 1998
Aktenzeichen: T 1007/95
Anmeldenummer: 89102757.5
IPC-Klasse: B32B 29/00
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Herstellung eines dekorativen härtbaren Schichtstoffes
Name des Anmelders: Perstorp AB
Name des Einsprechenden: Pfleiderer Industrie GmbH & Co. KG
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: Wenn eine Beschwerde keinen Zusammenhang mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung (mangelnde erfinderische Tätigkeit) aufweist und sich, gestützt auf eine neue Entgegenhaltung, nur auf einen neuen Einspruchsgrund (mangelnde Neuheit) bezieht, widerspricht dies den in G 9/91 und G 10/91 aufgestellten Grundsätzen, wonach der rechtliche und faktische Rahmen bei einer Beschwerde derselbe sein muß wie bei dem Einspruchsverfahren. Sie kommt einem neuen Einspruch gleich und ist somit unzulässig.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 108
European Patent Convention 1973 R 65(1)
Schlagwörter: Fehlender Zusammenhang zwischen Beschwerdegründen und Begründung der angefochtenen Entscheidung – neues Dokument stützt neuen Einspruchsgrund – Unzulässigkeit der Beschwerde
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/91
G 0010/91
G 0001/95
G 0007/95
T 0220/83
T 0213/85
T 0145/88
T 0611/90
T 0514/92
T 1002/92
T 0389/95
T 0708/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0644/97
T 0012/00
T 1045/02
T 0643/03
T 1146/06
T 1579/08
T 0349/09
T 0027/13
T 0393/15

Sachverhalt und Anträge

I. Der Hinweis auf die Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 329 154 auf der Grundlage der am 17. Februar 1989 eingereichten europäischen Patentanmeldung Nr. 89 102 757.5, die die Priorität einer älteren Anmeldung in Schweden (8800550 vom 18. Februar 1988) in Anspruch genommen hatte, wurde am 10. November 1993 veröffentlicht (Patentblatt 93/45).

II. Am 29. April 1994 wurde Einspruch gegen das Patent in der erteilten Fassung eingelegt und sein Widerruf in vollem Umfang beantragt, weil die Erfordernisse des Artikels 100 a) EPÜ allgemein nicht erfüllt seien, wobei nicht ausdrücklich auf die Neuheitsfrage Bezug genommen wurde. Aus den Einspruchsgründen und den später sowohl schriftlich vorgebrachten als auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Argumenten wurde gefolgert, daß die Bezugnahme auf Artikel 100 a) EPÜ nur als Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit gedeutet werden konnte.

Zur Stützung dieses Einwands zog die Einsprechende acht zusammen mit der Einspruchsschrift eingereichte Entgegenhaltungen (D1 bis D8) sowie eine weitere, weniger als drei Wochen vor der mündlichen Verhandlung eingereichte Entgegenhaltung (D9) an.

III. Mit einer am 17. Oktober 1995 mündlich verkündeten und am 26. Oktober 1995 schriftlich ergangenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Einspruch mit der Begründung zurück, daß der beanspruchte Gegenstand gegenüber den Entgegenhaltungen D1 bis D8 erfinderisch sei. Die verspätet eingereichte Entgegenhaltung D9 war gebührend geprüft worden, nach Artikel 114 (2) EPÜ aber unberücksichtigt geblieben.

IV. Am 22. Dezember 1995 legte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) Beschwerde gegen diese Entscheidung ein und entrichtete die vorgeschriebene Gebühr. Die Beschwerdeführerin reichte am 29. Februar 1996 eine mit “Beschwerdebegründung” überschriebene Erklärung und später fünf weitere Schriftsätze ein, in denen sie

i) sich ausschließlich auf sechs neue Entgegenhaltungen (D10 bis D15) stützte, dabei aber nur D10, eine angeblich neuheitsschädliche Offenbarung, eingehender würdigte und nicht auf die in der angefochtenen Entscheidung angeführten Gründe einging;

ii) aus Abschnitt (Randnummer) 48 zu Artikel 108 EPÜ in “Patentgesetz” von R. Schulte, Carl Heymanns Verlag KG, München, 1994, Seite 685 zitierte, wonach es keiner Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung bedürfe, wenn mit der Beschwerde neue Umstände geltend gemacht würden, die – wenn sie zuträfen – zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führten;

iii) vorbrachte, daß sie die in den Entscheidungen G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) dargelegten Verfahrensgrundsätze kenne, daß aber im Lichte der Entscheidung T 1002/92 (ABl. EPA 1995, 605) verspätet eingereichte Unterlagen, die der Aufrechterhaltung eines europäischen Patents entgegenstehen könnten, in Ausnahmefällen zum Verfahren zugelassen werden sollten,

iv) festhielt, daß die Entscheidungen in den miteinander verbundenen Verfahren G 1/95 (ABl. EPA 1996, 615) und G 7/95 (ABl. EPA 1996, 626) zwar zwischen den Einspruchsgründen der mangelnden Neuheit und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit unterschieden, dabei aber nicht ausschlössen, daß neuheitsschädliche Unterlagen bei der Entscheidung über die Frage der erfinderischen Tätigkeit geprüft werden könnten, und

v) argumentierte, daß der vorliegende Sachverhalt somit in jeder Hinsicht mit dem der Entscheidung T 611/90 (ABl. EPA 1993, 50) zugrunde liegenden vergleichbar sei und laut dieser Entscheidung die Beschwerdegründe keinen Zusammenhang mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung aufweisen müßten, solange die Beschwerde auf denselben Gründen basiere wie der Einspruch.

V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) reichte mehrere Erwiderungen ein, in denen sie

i) an der Vorlage immer neuer Entgegenhaltungen Anstoß nahm, Einwände gegen deren Zulassung zum Verfahren erhob und sich nicht mit der Behandlung der Neuheitsfrage durch die Kammer einverstanden zeigte;

ii) zunächst die Zurückweisung der Beschwerde beantragte, dann – immer noch mit Bezug auf ihren ursprünglichen Antrag – einen geänderten Anspruch 1 einreichte, der später zur Grundlage eines Hilfsantrags gemacht wurde;

iii) die Entscheidungen T 220/83 (ABl. EPA 1986, 249) und T 145/88 (ABl. EPA 1991, 251) anzog, wonach eine Beschwerdebegründung die Unrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung aufzeigen und darlegen müsse, aus welchen rechtlichen und tatsächlichen Gründen die angefochtene Entscheidung aufgehoben und der Beschwerde stattgegeben werden solle;

iv) unterstrich, daß laut T 611/90 eine Beschwerde nur dann zulässig sei, wenn sie sich noch auf denselben Einspruchsgrund stütze; dies sei in der vorliegenden Sache nicht der Fall, da mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit laut G 7/95 jeweils einen gesonderten Einspruchsgrund darstellten.

VI. In der mündlichen Verhandlung am 17. November 1998 bestätigte die Kammer den Inhalt ihrer beiden Zwischenbescheide in bezug auf die zu erörternden Themen, insbesondere die vorrangige Frage, ob die Beschwerde zulässig sei.

i) Die Beschwerdeführerin hielt sich an ihr schriftliches Vorbringen und zog zur Untermauerung ihrer Argumente zusätzlich die beiden unveröffentlichten Entscheidungen T 708/95 vom 16. Dezember 1996 und T 389/95 vom 15. Oktober 1997 an. Zu der mit “Beschwerdebegründung” überschriebenen Erklärung räumte die Beschwerdeführerin ein, daß sie sich nicht auf die ursprünglichen Entgegenhaltungen D1 bis D8 stütze und nicht mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung auseinandersetze. Die Beschwerdeführerin legte auch eine Rechtsfrage vor, mit der die Große Beschwerdekammer befaßt werden sollte.

ii) Die Beschwerdegegnerin erhob als erstes Einwände dagegen, daß die Beschwerdeführerin die neuen Entscheidungen T 708/95 und T 389/95 anzog, da deren Einführung in das Verfahren nicht nur unbillig sei, sondern auch außerhalb der von der Kammer nach Regel 71a (1) EPÜ bestimmten Frist für die Einreichung neuer Schriftsätze erfolge. Im wesentlichen wiederholte sie ihre schriftlich vorgebrachten Argumente und machte geltend, daß eine Beschwerde keinesfalls dadurch zulässig gemacht werden könne, daß eine neue Entgegenhaltung eingereicht werde.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents, hilfsweise die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der Rechtsfrage.

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde wegen Unzulässigkeit und hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung bzw. auf der Grundlage des am 19. August 1996 eingereichten Hilfsantrags.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 und 107, Artikel 108 Sätze 1 und 2 sowie der Regel 64 EPÜ. Ob sie zulässig ist, hängt allein davon ab, ob der am 19. Februar 1996 eingegangene Schriftsatz mit der Überschrift “Beschwerdebegründung” die Beschwerde im Sinne des Artikels 108 Satz 3 EPÜ begründet.

Aus dem unmittelbaren Wortsinn des in Artikel 108 Satz 3 EPÜ verwendeten Ausdrucks “begründen” ergibt sich, daß eine Beschwerdebegründung, um dem Zulässigkeitskriterium der angezogenen Gesetzesbestimmung zu genügen, angeben muß, warum die angefochtene Entscheidung nach Auffassung des Beschwerdeführenden keinen Bestand haben kann, d. h. aus welchen rechtlichen und tatsächlichen Gründen die Entscheidung aufgehoben werden soll (vgl. T 213/85, Nr. 2 der Entscheidungsgründe, T 220/83, Nr. 1 der Entscheidungsgründe und T 145/88, Nr. 1 der Entscheidungsgründe). Ob eine Beschwerdebegründung als eine solche zu werten ist, hängt also von ihrem Inhalt ab, insbesondere von ihrem Zusammenhang mit den in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Gründen und Argumenten, und nicht von der Überschrift oder Form.

2. Bei näherer Betrachtung des mit “Beschwerdebegründung” überschriebenen Dokuments zeigt sich, daß ein solcher Zusammenhang nicht besteht, weder was die angezogenen Beweismittel noch was den erhobenen Einwand betrifft.

2.1 Der erste Teil der Erklärung (Nrn. I bis VI) umfaßt folgende Punkte:

I: die Anträge,

II: eine Liste der in der Akte enthaltenen Unterlagen, die sowohl die bereits von der Einspruchsabteilung geprüften Entgegenhaltungen (D1 bis D8) als auch die neu eingereichten Entgegenhaltungen (D10 bis D14) umfaßt,

III: allgemeine Überlegungen über i) den Vorrang des Artikels 114 (1) EPÜ vor Artikel 114 (2) EPÜ, ii) die verbundenen Entscheidungen G 9/91 und G 10/91 sowie iii) deren Auswirkungen auf die Zulässigkeit verspätet eingereichter Beweismittel in der Entscheidung T 1002/92,

IV: eine ausführliche Würdigung von D1, wie sie die Einspruchsabteilung bereits vorgenommen hatte und aus der dieselben Schlußfolgerungen gezogen wurden wie von der Einspruchsabteilung, indem dieses Dokument als Ausgangspunkt der Erfindung betrachtet wird, d. h. als nächstliegender Stand der Technik, von dem aus die dem Streitpatent zugrunde liegende technische Aufgabe zu definieren ist,

V: die reine Aufzählung der Gründe, Argumente und Schlußfolgerungen von Seite 9 und 10 der angefochtenen Entscheidung

sowie ohne weiteren Kommentar

VI: nachstehende Feststellung: “Die oben dargelegte Auffassung, zu der die Einspruchsabteilung in der Entscheidung gelangt ist, hätte sich in ihr absolutes Gegenteil verkehrt, wenn die Entgegenhaltung D10 bei Erlaß der Entscheidung bekannt gewesen wäre.”

2.2 Es folgen technische Betrachtungen, die zeigen sollen, warum das Patent angesichts der neuheitsschädlichen Offenbarung von D10 (Nrn. VI bis VIII) und der allgemeinen Hintergrundinformationen, die die anderen verspätet eingereichten Unterlagen offenbaren, nicht aufrechterhalten werden kann (Nr. IX).

In Nr. X kommt die Beschwerdeführerin zu folgendem Schluß: “Das Streitpatent ist auf der Grundlage der oben erörterten Entgegenhaltungen in vollem Umfang zu widerrufen. Die verspätet eingereichten Unterlagen stehen der Aufrechterhaltung des strittigen europäischen Patents entgegen und sind somit alle zulässig.”

2.3 In ihrer Erklärung vom 19. Oktober 1998 (Seite 2 letzter Absatz) gab die Beschwerdeführerin zu, daß sie es offengelassen habe, ob die erstinstanzliche Entscheidung auf der Grundlage der damals aktenkundigen Entgegenhaltungen richtig oder falsch gewesen sei.

In der mündlichen Verhandlung räumte die Beschwerdeführerin erneut ein, daß die mit “Beschwerdebegründung” überschriebene Erklärung weder aufzeige, daß die angefochtene Entscheidung falsch war, noch die rechtlichen und tatsächlichen Gründe dafür angebe, warum die angefochtene Entscheidung schon im Lichte der ursprünglichen Entgegenhaltungen D1 bis D8 aufgehoben werden sollte.

3. Die Beschwerdeführerin stellte sich jedoch ungeachtet der Tatsache, daß die mit “Beschwerdebegründung” überschriebene Erklärung keinen unmittelbaren Zusammenhang mit den in der angefochtenen Entscheidung genannten Gründen aufwies, auf den Standpunkt, daß die Beschwerde dennoch zulässig sein könnte, wenn sich aufgrund der erhobenen Einwände ein völlig neuer, bisher nicht geprüfter Sachverhalt ergebe. Dabei berief sie sich auf die nachstehende Rechtsprechung.

3.1 In der Entscheidung T 611/90 hatte der Einspruch, mit dem der Widerruf des Streitpatents wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit beantragt worden war, zu einer Beschwerde geführt, in der eine völlig neue, nämlich auf eine öffentliche Vorbenutzung abstellende Argumentation in der Frage der mangelnden Neuheit entwickelt wurde (vgl. Sachverhalt und Anträge, Nrn. I und IV). In Nr. 2 der Entscheidungsgründe vertrat die Kammer die Auffassung, daß die neuen Gründe unter denselben Einspruchsgrund fielen, und hielt die Beschwerde daher für zulässig.

3.2 Auch in der Sache T 708/95 hatte im Anschluß an zwei Einsprüche gegen das erteilte Patent wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit einer der Beschwerdeführer Beschwerde eingelegt und eine Begründung eingereicht, in der er nicht die von der Einspruchsabteilung erlassene Entscheidung anfocht, sondern neue Dokumente zur Stützung der früheren Einwände anzog (vgl. Sachverhalt und Anträge, Nrn. II und IV). Obwohl damit ein sogenannter neuer Sachverhalt eingeführt wurde, wurde die Beschwerde als zulässig erachtet, weil sie auf einem der ursprünglich geltend gemachten Einspruchsgründe basierte (vgl. Entscheidungsgründe, Nr. 1.2).

3.3 In der Entscheidung T 1002/92 zog der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren neben einem Dokument, das die Einspruchsabteilung nach Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt gelassen hatte, mehrere neue Dokumente an, um seine früheren Einwände zu stützen (vgl. Sachverhalt und Anträge, Nrn. II, III c), IV und VII a)). Zwar heißt es in den Entscheidungsgründen, daß die Relevanz der verspätet vorgebrachten Beweismittel für deren Zulassung zum Verfahren ausschlaggebend sei; es handelte sich jedoch um eine Beschwerde, die auf mindestens einem bereits in der Einspruchsschrift angegebenen Einspruchsgrund basierte und deshalb als zulässig erachtet wurde (vgl. Entscheidungsgründe, Nrn. 3.3 bis 3.5 und 4.2).

3.4 In der Sache T 389/95 waren dem Einspruch wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit bestimmte Dokumente zugrunde gelegt worden, auf die jedoch in der Beschwerdebegründung ebensowenig Bezug genommen wurde wie auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung; vielmehr wurden mit der Erklärung ein neuer Stand der Technik und neue Beweismittel eingeführt, die einen Einwand der öffentlichen Vorbenutzung stützen sollten (vgl. Sachverhalt und Anträge, Nrn. II und III). Auch in diesem Fall hielt die Kammer die Beschwerde für zulässig (vgl. Entscheidungsgründe, Nr. 1), wenngleich im Lichte der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung G 10/91 zusätzliche Überlegungen angestellt wurden.

3.5 Wie aus dem schriftlichen und mündlichen Vorbringen der Beteiligten hervorgeht, weisen diese Entscheidungen folgende Gemeinsamkeiten auf: i) die Beschwerdebegründung ging nicht auf die in der angefochtenen Entscheidung angeführten Gründe ein, ii) es wurde mindestens ein neues Dokument angezogen, und iii) der erhobene Einwand deckt sich mit mindestens einem der in der jeweiligen Einspruchsschrift genannten Einspruchsgründe. Letzteres trifft in der vorliegenden Beschwerdesache allerdings nicht zu, da mangelnde Neuheit kein Einspruchsgrund war.

3.6 Aufgrund dieses Unterschieds ist die Bezugnahme auf den Kommentar von R. Schulte klar verfehlt, denn besagtem Abschnitt (Rdn.) 48 zufolge (vgl. Nr. IV ii)) hängt die Zulässigkeit der Beschwerde von der Relevanz des neuen Dokuments ab, wobei der konkrete Einspruchsgrund außer acht bleibt. Dieser ist aber im Lichte der neueren Rechtsprechung ausschlaggebend, wie nachstehend gezeigt wird.

4. Die Beschwerdeführerin berief sich in ihrem mündlichen Vorbringen insbesondere auf die Schlußfolgerungen der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 7/95.

4.1 Die Sachlage bei der Vorlageentscheidung, nämlich der Entscheidung T 514/92 (ABl. EPA 1996, 270), mit der sich die Große Beschwerdekammer in der Sache G 7/95 befaßt hat, läßt sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Sachverhalt und Anträge, Nrn. I, IV, V und VI):

4.1.1 Der Einspruch wurde damit begründet, daß i) der Gegenstand des europäischen Patents angesichts der Entgegenhaltungen D1 bis D4 nicht patentfähig sei (Artikel 52 (1) und 56 EPÜ) und ii) die Erfindung in dem europäischen Patent nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, daß ein Fachmann sie ausführen könne (Artikel 100 b) und 83 EPÜ).

4.1.2 Im Beschwerdeverfahren erhob der Beschwerdeführer erstmals einen Einwand wegen mangelnder Neuheit auf der Basis eines Dokuments, das von Anfang an im Verfahren vorgelegen hatte, und legte außerdem vier neue Dokumente vor.

4.1.3 Der Patentinhaber argumentierte, daß dies ein neuer, unzulässiger Einspruchsgrund sei, der drei Jahre nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgebracht werde.

4.1.4 Der Beschwerdeführer machte geltend, daß der Ausgangspunkt für den Einwand mangelnder Patentfähigkeit – ob wegen mangelnder Neuheit oder wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit – immer noch derselbe sei, nämlich die Entgegenhaltung D4, und der neue Einwand folglich keinen neuen Einspruchsgrund darstelle. Die anderen verspätet eingereichten Dokumente dienten lediglich dazu, eine bestimmte Passage in D4 zu erläutern.

4.2 Zieht man zur Verdeutlichung des in Nummer 4.1.2 beschriebenen Sachverhalts die Akte T 514/92 heran, so zeigt sich, daß die am 5. August 1992 eingereichte Beschwerdebegründung eine ausführliche Erörterung sowohl der Entgegenhaltung D4 als auch der in der angefochtenen Entscheidung dargelegten Gründe enthält (vgl. Nrn. 1 bis 10). Daran schließt sich die Stellungnahme eines Sachverständigen an, wonach der Parameter, der angeblich Neuheit gegenüber der Entgegenhaltung D4 verleiht, im Lichte der neu angezogenen Dokumente naheliegend gewesen wäre bzw. sogar als in D4 implizit offenbart betrachtet werden müßte (vgl. Nrn. 11 bis 16).

Die Vorlageentscheidung, mit der die Große Beschwerdekammer befaßt wurde, betraf also eine Beschwerde, bei der i) eine den Erfordernissen des Artikels 108 Satz 3 EPÜ entsprechende schriftliche Beschwerdebegründung eingereicht und ii) während des gesamten Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens der auf dasselbe Dokument, nämlich D4 oder den nächsten Stand der Technik gestützte Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit aufrechterhalten worden war. Die Zulässigkeit der Beschwerde stand somit außer Frage.

So heißt es auch in der abschließenden Entscheidung T 514/92 vom 16. April 1997 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) im Anschluß an die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer lediglich: “Die Beschwerde ist zulässig” (vgl. Entscheidungsgründe, Nr. 1).

4.3 Vor diesem Hintergrund wurde die Große Beschwerdekammer mit folgender Rechtsfrage befaßt (Artikel 112 (1) a) EPÜ):

“Ist gegen ein Patent gemäß Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, daß die Patentansprüche gegenüber den in der Einspruchsschrift angeführten Entgegenhaltungen keine erfinderische Tätigkeit aufweisen, und behauptet der Einsprechende erst im Beschwerdeverfahren, daß sie gegenüber einer der früher angeführten Entgegenhaltungen oder einem im Beschwerdeverfahren eingereichten Schriftstück nicht neu sind, muß dann die Beschwerdekammer die neue Behauptung ausschließen, weil damit ein neuer Einspruchsgrund eingeführt wird?”

4.4 Dies beantwortet die Große Beschwerdekammer mit Entscheidung G 7/95 wie folgt:

“7. Diese Frage bezieht sich auf einen Fall, in dem ein Einspruch mit mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber bestimmten in der Einspruchsschrift angegebenen Entgegenhaltungen substantiiert und insbesondere auf eine Entgegenhaltung gestützt wurde, die den nächstliegenden Stand der Technik bildete. Im Beschwerdeverfahren erhob der Einsprechende erstmals den Einwand, daß die beanspruchte Erfindung gegenüber diesem nächstliegenden Stand der Technik nicht neu sei.

7.1 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß mangelnde Neuheit ein anderer rechtlicher Einwand mit einer anderen Rechtsgrundlage ist als mangelnde erfinderische Tätigkeit. Daher kann er – als “neuer Einspruchsgrund” im Sinne der Aussage unter Nummer 18 von G 10/91 – nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden.

7.2 Ist aber – wie in dem der Vorlageentscheidung zur Sache G 7/95 zugrunde liegenden Fall – der nächstliegende Stand der Technik für den beanspruchten Gegenstand neuheitsschädlich, so kann dieser Gegenstand offensichtlich auch nicht erfinderisch sein. Mangelnde Neuheit hat also in diesem Fall unweigerlich zur Folge, daß der betreffende Gegenstand mangels erfinderischer Tätigkeit nicht schutzwürdig ist.

7.3 Angesichts der Sachlage in dem der Vorlageentscheidung zu G 7/95 zugrunde liegenden Fall braucht die Große Beschwerdekammer die Vorlagefrage insoweit nicht zu beantworten, als sie sich auf die neue Behauptung bezieht, die Ansprüche seien gegenüber einem anderen Schriftstück als der schon früher angeführten nächstliegenden Entgegenhaltung nicht neu.”

4.5 Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin stellt G 7/95 nicht das Bindeglied zwischen der vorliegenden Beschwerdesache und T 611/90 dar, wo der Zusammenhang der Beschwerde mit dem Einspruchsverfahren durch neue Beweismittel gegeben war, die unter denselben Einspruchsgrund fielen.

4.5.1 Was die Aussage in Nummer 7.2 der Entscheidung G 7/95 betrifft, so ist sie auf die vorliegende Beschwerde nicht anwendbar, weil es sich um einen anderen rechtlichen und faktischen Rahmen handelt.

Die Prüfung der zwei in der Sache T 514/92 ergangenen Entscheidungen zeigt, daß der ursprüngliche Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ordnungsgemäß substantiiert und im Beschwerdeverfahren ungeachtet des neuen Einwands mangelnder Neuheit aufrechterhalten wurde, so daß sich die Frage der Zulässigkeit nicht stellte. Außerdem stützte sich der neue Einwand der mangelnden Neuheit auf dieselbe Entgegenhaltung wie der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit, nämlich auf das Dokument D4, d. h. auf technische Bestandteile, die von Anfang an im Einspruchsverfahren vorgelegen und zunächst den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gestützt hatten, dann aber im Beschwerdeverfahren zusätzlich als angeblich neuheitsschädliche Offenbarung hingestellt wurden.

In der vorliegenden Sache besteht hingegen ein solcher Zusammenhang zwischen dem Beschwerde- und dem Einspruchsverfahren nicht, weder was das angezogene Beweismaterial noch was die Gründe betrifft. Zum einen konnten die technischen Bestandteile, mit denen die Beschwerdeführerin den neuen Einwand mangelnder Neuheit stützte, im Einspruchsverfahren gar nicht gewürdigt werden, weil sie einer neuen Entgegenhaltung (D10) entnommen sind, die zusammen mit der Beschwerdebegründung erstmals vorgelegt wurde; zum anderen blieb die Beschwerdeführerin den Nachweis schuldig, wie diese neuen technischen Bestandteile noch ausgelegt werden könnten oder müßten, um auch den ursprünglichen Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit zu stützen, falls sich der neue Einwand der mangelnden Neuheit als nicht stichhaltig erweisen würde. Somit kann die vorliegende Beschwerde nicht als ein “der Vorlageentscheidung zur Sache G 7/95 zugrunde liegender Fall” betrachtet werden.

4.5.2 Die Erwägungen in Nummer 7.3 der Entscheidung G 7/95 sind in ihrer Formulierung so weit gefaßt, daß sie auch für den der vorliegenden Beschwerde zugrunde liegenden Sachverhalt gelten. Auch wenn die Große Beschwerdekammer die Vorlagefrage ausdrücklich nicht beantwortet hat, muß die offengelassene Option auf jeden Fall im Kontext des Sachverhalts betrachtet werden, der der Entscheidung T 514/92 zugrunde lag, in der die Zulässigkeit der Beschwerde außer Frage stand.

4.5.3 Voraussetzung dafür, daß ein den rechtlichen und faktischen Rahmen des Beschwerdeverfahrens betreffender Antrag eines Verfahrensbeteiligten geprüft wird, ist selbstverständlich, daß die Beschwerde zulässig ist. Weder die Einführung eines neuen Einspruchsgrundes – für die laut G 10/91 das Einverständnis des Patentinhabers erforderlich ist – noch die Zulassung eines verspätet eingereichten Dokuments zum Verfahren – die nach Artikel 114 (2) EPÜ im Ermessen der Beschwerdekammer liegt – kann für die Zulässigkeit einer Beschwerde ausschlaggebend sein. So ist im vorliegenden Fall die Tatsache, daß die Beschwerdegegnerin nicht – wie in Nummer 7.1 der Entscheidung G 7/95 verlangt – ihr Einverständnis zur Einführung des neuen Einwands mangelnder Neuheit in das Verfahren gegeben hat, für die Zulässigkeit der Beschwerde ohne Belang.

5. Die von der Beschwerdeführerin angezogene Rechtsprechung zeigt, daß i) eine Beschwerde, die keinen Zusammenhang mit den in der angefochtenen Entscheidung angegebenen Gründen aufweist, dennoch zulässig sein kann, sofern sich die neuen Tatsachen und Beweismittel auf denselben Einspruchsgrund beziehen, und daß ii) im Rahmen einer zulässigen Beschwerde mit dem Einverständnis des Patentinhabers ausnahmsweise ein neuer Einwand wegen mangelnder Neuheit erhoben werden kann, sofern er auf denselben technischen Bestandteilen beruht wie der ursprüngliche Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit. Diese Verknüpfung des Beschwerde- und des Einspruchsverfahrens – sei es in Form desselben Einspruchsgrundes oder derselben technischen Bestandteile – ist nichts anderes als das in G 9/91 und G 10/91 zum Ausdruck gebrachte Erfordernis, daß der rechtliche und faktische Rahmen des Beschwerdeverfahrens derselbe sein muß wie im Einspruchsverfahren. Fehlt diese Verknüpfung, so kommt die Beschwerde einem neuen Einspruch gleich.

Aus diesen Gründen ist die Beschwerde unzulässig.

6. Da die Beschwerde unzulässig ist, können weder der Antrag auf Vorlage einer Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer noch die Sachfragen erörtert werden.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird als unzulässig zurückgewiesen.