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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1999:T075596.19990806
Datum der Entscheidung: 06 August 1999
Aktenzeichen: T 0755/96
Anmeldenummer: 90310085.7
IPC-Klasse: C07D 491/22
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: 10,11-Methylendioxy-20(RS)-Camptothecin und 10,11-Methylendioxy-20(S)-Camptothecin-Analog
Name des Anmelders: RESEARCH TRIANGLE INSTITUTE
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: Im einseitigen Verfahren räumt die Regel 71a EPÜ der Prüfungsabteilung das Ermessen ein, bis zum Ergehen eines Beschlusses nach Artikel 97 EPÜ geänderte Ansprüche zuzulassen oder zurückzuweisen. Bei der Ausübung dieses Ermessens muß sie allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen und abwägen zwischen dem Interesse des Anmelders an der Erlangung eines angemessenen Patentschutzes für seine beanspruchte Erfindung und dem Interesse des EPA, das Prüfungsverfahren durch Erlaß eines Beschlusses zu einem zügigen Abschluß zu bringen. Macht sie von ihrem Ermessen Gebrauch und läßt die geänderten Ansprüche nicht zu, so muß sie dies begründen. Die Feststellung, daß die Ansprüche nach Regel 71a EPÜ verspätet eingereicht wurden, stellt keine ausreichende Begründung im Sinne der Regel 68 (2) EPÜ dar.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 123
European Patent Convention 1973 R 71a
European Patent Convention 1973 R 86(3)
Schlagwörter: Ermessen zur Zulassung oder Zurückweisung geänderter Ansprüche nach Regel 71a EPÜ (bejaht)
Ausreichende Begründung der Nichtzulassung der geänderten Ansprüche (verneint)
Wesentlicher Verfahrensmangel (bejaht)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (bejaht)
Zurückverweisung an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
T 0182/88
T 0183/89
T 0872/90
T 0951/97
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0382/97
T 0367/01
T 0064/02
T 0425/02
T 0918/02
T 0960/04
T 0937/07
T 0334/08
T 0343/08
T 0545/08
T 1253/09
T 1354/09
T 1750/14
T 1751/14
T 1753/14
T 1754/14

Sachverhalt und Anträge

I. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, die Anmeldung Nr. 90 310 085.7 (Veröffentlichungsnummer 0 418 099) zurückzuweisen.

II. Der Entscheidung lagen die ursprünglich eingereichten Ansprüche 1 bis 39 zugrunde.

Der unabhängige Anspruch 1 betraf 10,11-Methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin-Verbindungen, die in der 9- und/oder der 7-Stellung substituiert sind.

Der unabhängige Anspruch 19 betraf 10,11-Methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin-Verbindungen mit offener Lactonform.

Der unabhängige Anspruch 26 richtete sich auf ein Verfahren zur Herstellung von 9-Nitro-10,11-methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin durch Reaktion von 10,11-Methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin mit einem Gemisch aus konzentrierter Schwefelsäure und konzentrierter Salpetersäure.

Der unabhängige Anspruch 27 richtete sich auf ein Verfahren zur Herstellung von 9-Amino-10,11-methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin durch Reduktion der 9-Nitro-Gruppe der entsprechenden gemäß Anspruch 26 erhaltenen 9-Nitro-Verbindung.

Der abhängige Anspruch 28 richtete sich auf das Verfahren nach Anspruch 27, wobei die Reduktion mittels katalytischer Hydrierung durchgeführt wurde.

Der unabhängige Anspruch 29 richtete sich auf ein Verfahren zur Herstellung einer unter Anspruch 1 fallenden Gruppe von Verbindungen durch Reaktion von 9-Amino- oder 9-Amino-7-C1-8-alkylsubstituiertem 10,11-Methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin mit einer aminogruppengeschützten Aminosäure oder einem Peptid, enthaltend 1-4-Aminosäuregruppen, mit einem C4-1 0-gesättigten oder -ungesättigten Carbonsäureanhydrid oder mit Phosgen und anschließender Reaktion mit einem primären oder sekundären geradkettigen, verzweigten oder zyklischen Diamin oder einem tertiären Aminoalkohol.

Der unabhängige Anspruch 30 richtete sich auf ein Verfahren zur Herstellung von Camptothecin-Verbindungen mit offener Lactonform durch Hydrolyse des Lactonrings eines Camptothecins gemäß Anspruch 1 mit einer wäßrigen Lösung eines monovalenten Metallhydroxids.

III. Die Prüfungsabteilung hielt den Gegenstand des Anspruchs 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung angesichts der Entgegenhaltungen

(B) EP-A-0 325 247 und

(C) J. Med. Chem., 29 (11), 1986, 2358 – 63

nicht für erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

Darüber hinaus ließ die Prüfungsabteilung einen ersten und einen zweiten Hilfsantrag, die beide am 26. März 1996, d. h. einen Tag vor der mündlichen Verhandlung, eingereicht worden waren, mit der Begründung unberücksichtigt, die Anträge seien im Hinblick auf Regel 71a EPÜ zu spät eingereicht worden.

Die Ansprüche 1 bis 6 des ersten Hilfsantrags richteten sich auf die Herstellung der Verbindungen gemäß den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1 und 19 einschließlich der Nitrierung von 10,11-Methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin und der Reduktion der dabei gebildeten 9-Nitro-Derivate nach den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 26 bzw. 27. Anspruch 7 bezog sich auf eine begrenzte Gruppe von Verbindungen, die unter den ursprünglich eingereichten Anspruch 1 fallen. Die Ansprüche 8 und 9 richteten sich auf bevorzugte Verbindungen nach den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 16 (R ist NH2) bzw. 15.

Der zweite Hilfsantrag stimmte bis auf die weggelassenen Verbindungsansprüche 7 bis 9 mit dem Hauptantrag überein.

Die Prüfungsabteilung ließ ferner einen in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag unberücksichtigt, ein Patent auf der Grundlage der ursprünglich eingereichten Ansprüche 26 bis 30 zu erteilen, die auf ein Verfahren zur Herstellung der in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1 und 19 definierten Verbindungen gerichtet waren. In der Niederschrift der mündlichen Verhandlung heißt es hierzu lediglich, daß dieser Hilfsantrag nicht aus dem Stegreif beurteilt werden könne.

IV. Zusammen mit der Beschwerdebegründung reichte der Beschwerdeführer am 8. August 1996 als Hauptantrag die Ansprüche 1 bis 9 und als Hilfsantrag 1 die Ansprüche 1 bis 6 ein. Diese Anträge entsprachen dem ersten und dem zweiten Hilfsantrag, die am 26. März 1996 eingereicht und von der Prüfungsabteilung nicht berücksichtigt worden waren.

V. Der Beschwerdeführer sah es als wesentlichen Verfahrensmangel an, daß die Prüfungsabteilung weder die beiden am 26. März 1996 eingereichten Anträge zugelassen noch über die Patentierbarkeit der ursprünglich eingereichten Verfahrensansprüche 26 bis 30 entschieden habe. Dabei verwies er auf die Beschreibung der vorliegenden Patentanmeldung, in der das überraschende Ergebnis der im ursprünglichen Anspruch 26 beanspruchten Nitrierungsreaktion klar und deutlich erwähnt sei.

Im übrigen unterstrich er seine Behauptung, der beanspruchte Gegenstand sei erfinderisch, mit dem Argument, daß die Entgegenhaltungen nicht die direkte Nitrierung von 10,11-Methylendioxy-20(S)- oder -20(RS)-Camptothecin offenbarten und dem Fachmann somit keinen Hinweis darauf geben könnten, daß gemäß dieser Reaktion selektiv die entsprechende 9-Nitro-Verbindung hergestellt werden könne. Zu den Ansprüchen 7 bis 9 machte er geltend, daß die darin beanspruchten Verbindungen überraschenderweise eine erhöhte biologische Wirksamkeit aufwiesen.

VI. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung, auf der Grundlage des am 8. August 1996 eingereichten Haupt- bzw. Hilfsantrags ein Patent zu erteilen.

Ferner beantragte er die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hintergrund der Regel 71a EPÜ

2.1 Die neue Regel 71a EPÜ ist gemäß dem Beschluß des Verwaltungsrats vom 13. Dezember 1994 (ABl. EPA 1995, 9) am 1. Juni 1995 in Kraft getreten. Sie lautet wie folgt:

“Vorbereitung der mündlichen Verhandlung

(1) Mit der Ladung weist das Europäische Patentamt auf Fragen hin, die es für die zu treffende Entscheidung als erörterungsbedürftig ansieht. Gleichzeitig wird ein Zeitpunkt bestimmt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können. Regel 84 ist nicht anzuwenden. Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind.

(2) Sind dem Anmelder oder Patentinhaber die Gründe mitgeteilt worden, die der Erteilung oder Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen, so kann er aufgefordert werden, bis zu dem in Absatz 1 Satz 2 genannten Zeitpunkt Unterlagen einzureichen, die den Erfordernissen des Übereinkommens genügen. Absatz 1 Sätze 3 und 4 sind entsprechend anzuwenden.”

2.2 Die Gründe, die den Verwaltungsrat zur Einführung dieser Regel bewogen haben, legt der Präsident des Europäischen Patentamts in der Begründung des Dokuments CA/12/94 rev. 1 vom 17. Oktober 1994 (veröffentlicht in ABl. EPA 1995, Seiten 418 und 419; In ihrer Entscheidung hat die Kammer das Dokument in der Originalfassung zitiert. Es wurde im Amtsblatt mit geringfügigen redaktionellen Änderungen veröffentlicht) wie folgt dar:

“7.1 Ziel einer mündlichen Verhandlung ist in der Regel der Erlaß einer verfahrensabschließenden Entscheidung. Dies setzt voraus, daß bereits im schriftlichen Verfahren eine ausreichende Vorbereitung (Sachaufklärung, Abgrenzung der zu erörternden Fragen) erfolgt ist. Von Seiten des EPA geschieht dies, jedenfalls im Erteilungs- und Einspruchsverfahren, in der Regel durch einen Ladungsbescheid, in dem auf die Fragen hingewiesen wird, die das Amt für relevant erachtet.

7.2 Seitens der Beteiligten wird die mündliche Verhandlung regelmäßig durch Schriftsätze vorbereitet. Um sinnvoll zur Förderung des Verfahrens beitragen zu können, müssen diese dem Amt und ggf. den weiteren Beteiligten so rechtzeitig vorliegen, daß sie sich in der Verhandlung dazu sachlich äußern können. Schriftsätze, die erst in der mündlichen Verhandlung überreicht oder kurz zuvor eingereicht werden, erfüllen diesen Zweck nicht. Sie führen insbesondere häufig zu der Rüge des Gegners, er könne sich auf den neuen, ihn überraschenden Sachvortrag nicht einlassen.

7.3 Die vorgeschlagene Regel 71a (1) sieht deshalb die Festschreibung der Praxis des Ladungsbescheids vor, wobei in diesem eine Frist zu bestimmen ist, innerhalb der Schriftsätze eingereicht werden können. Die neue Vorschrift stellt klar, daß nach dem in der Ladung genannten Zeitpunkt neue Tatsachen und Beweismittel nur berücksichtigt zu werden brauchen, soweit sie auf einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts beruhen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Gegner in vorbereitenden Schriftsätzen neues Material vorgebracht hat.

7.4 Regel 71a (1) konkretisiert das in Artikel 114 (2) verankerte Zulassungsermessen des Amts, indem ein Verspätungstatbestand eingeführt wird. Die Vorschrift macht dem Anmelder die verfahrensrechtlichen Konsequenzen der Verspätung deutlich und reduziert die Begründungserfordernisse im Falle der Nichtberücksichtigung des verspäteten Vorbringens durch das Amt. Regel 71a schränkt das Ermessen nach Artikel 114 nicht ein, erlaubt aber eine flexiblere Handhabung in Verspätungsfällen. Insoweit ergänzt die Regelung die von den Beschwerdekammern in Mißbrauchfällen entwickelte Linie, ohne vertretbaren Grund verspätet vorgebrachte Tatsachen oder Beweismittel zurückzuweisen.

7.5 Die mit Regel 71a (2) vorgeschlagene Änderung dient ebenfalls der Beschleunigung des Verfahrens und soll sicherstellen, daß der Gegner in der mündlichen Verhandlung nicht in unfairer Weise mit neuen Unterlagen und/oder Tatsachen konfrontiert wird. Ist dem Anmelder/Patentinhaber vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden, daß und aus welchen Gründen er mit der Zurückweisung oder dem Widerruf zu rechnen hat, so ist ihm eine Reaktion zuzumuten, wenn ihm hierfür angemessene Fristen gesetzt werden.”

3. Zweck der Regel 71a EPÜ

3.1 Wie sich aus dem Wortlaut der Regel 71a EPÜ und der Begründung (siehe oben Nummer 2.2) ergibt, soll diese Regel insbesondere verhindern, daß die mit der Sachprüfung betrauten Organe des EPA und die anderen Beteiligten am Einspruchsverfahren mit neuen Tatsachen oder Beweismitteln (Regel 71a (1) EPÜ) oder neuen Anträgen in Form von Änderungen (Regel 71a (2) EPÜ) überrascht werden, damit am Ende der mündlichen Verhandlung eine verfahrensabschließende Entscheidung erlassen werden kann.

3.2 Außerdem räumt diese Regel dem EPA das Ermessen ein, verspätet vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel und/oder geänderte Ansprüche zuzulassen oder zurückzuweisen. Die Ermessensbefugnis ergibt sich insbesondere aus Absatz 1 Satz 4 dieser Regel, dem zufolge neue Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt zu werden brauchen, was nach Regel 71a (2) entsprechend auch für neue Anträge in Form von geänderten Unterlagen gilt (siehe auch T 951/97, ABl. EPA 1998, 440, Nummer 5.1).

3.3 Die Kammer stellt in diesem Zusammenhang fest, daß die Befugnis des EPA, verspätet vorgebrachte neue Tatsachen oder Beweismittel zuzulassen oder zurückzuweisen, eigentlich in Artikel 114 (2) EPÜ und das Ermessen, neue Änderungsanträge zurückzuweisen, eigentlich in Artikel 123 EPÜ und den entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung geregelt sind, nämlich in Regel 86 (3) EPÜ für das Verfahren vor der Prüfungsabteilung und in Regel 57a EPÜ, die sich allerdings auf das Verfahren vor der Einspruchsabteilung beschränkt.

Nach Regel 86 (3) kann der Anmelder, der die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen nach Erhalt des ersten Bescheids der Prüfungsabteilung mit der Erwiderung auf diesen Bescheid von sich aus schon einmal geändert hat, weitere Änderungen nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vornehmen.

4. Ausübung des Ermessens nach Regel 71a im Hinblick auf Änderungen

4.1 Das Europäische Patentamt hat die Aufgabe, Patente zu erteilen, die den Erfordernissen des Europäischen Patentübereinkommens genügen. Andererseits soll das Verfahren vor dem EPA aber auch möglichst effizient durchgeführt werden. Es wäre diesem Zweck nicht dienlich, wenn das in Regel 71a EPÜ eingeräumte Ermessen rein formalistisch ausgeübt würde und das Europäische Patentamt neue Ansprüche allein deshalb unberücksichtigt ließe, weil sie nicht bis zu einem in der Ladung zur mündlichen Verhandlung festgesetzten Stichtag eingereicht wurden, obwohl der Antrag ansonsten alle Erfordernisse des EPÜ erfüllt und keine neuen Fragen aufwirft. Dies würde zwangsläufig zu einer Beschwerde führen, in deren Rahmen der Antrag dann zum Verfahren zugelassen und die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen würde, was sowohl kosten- als auch zeitaufwendig wäre.

4.2 In diesem Zusammenhang hat die Große Beschwerdekammer in einem anderen Fall, in dem sich der Anmelder bereits mit der zur Erteilung vorgesehenen Fassung einverstanden erklärt hatte und die Aufforderung nach Regel 51 (6) EPÜ schon ergangen war, also in einem sehr späten Stadium des Prüfungsverfahrens, die Auffassung vertreten, daß eine Prüfungsabteilung bei der Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 123 und Regel 86 (3) EPÜ in der Frage, ob einem weiteren Änderungsantrag stattgegeben werden solle, das Interesse des Anmelders an einem Patent und das seitens des EPA bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren durch Erlaß eines Beschlusses zum Abschluß zu bringen, berücksichtigen und gegeneinander abwägen und dabei allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen müsse (siehe G 7/93, ABl. EPA 1994, 775, insbesondere Nummer 2.2 Absatz 1 und Nummer 2.5).

4.3 An dieser Stelle muß zwischen Erteilungsstadium und Einspruchsstadium unterschieden werden. Wie aus der Begründung für die Einführung der Regel 71a EPÜ (siehe Nummer 2.2) ersichtlich, ging es insbesondere darum, daß die übrigen Beteiligten im Einspruchsverfahren nicht mit Überraschungen konfrontiert werden sollten. Da die Beteiligten möglicherweise nur durch zugelassene Vertreter vertreten sind, die von ihren Mandanten und deren Fachleuten Instruktionen einholen müßten, wie sie mit den neuen Anträgen oder Beweismitteln verfahren sollen, könnte man Material, das erst nach dem in der Ladung zur mündlichen Verhandlung genannten Stichtag eingereicht wird, mit gutem Grund zurückweisen oder die mündliche Verhandlung vertagen und die hierdurch entstehenden Kosten der dafür verantwortlichen Partei auferlegen.

4.4 Diese Überlegungen gelten aber nicht für ein mit der Sachprüfung betrautes Organ des EPA, weil dieses selbst über technisches Fachwissen verfügt und keine Instruktionen von Dritten einholen muß. Wenn es sich auf eine mündliche Verhandlung vorbereitet hat, müßte es normalerweise auch bei Anträgen, die erst in der mündlichen Verhandlung gestellt werden, – gegebenenfalls nach einer angemessenen Unterbrechung der mündlichen Verhandlung – in der Lage sein zu beurteilen, ob ein neuer Antrag nach dem EPÜ, d. h. nach Artikel 123 (2) EPÜ, Artikel 84 EPÜ, Artikel 82 EPÜ oder Regel 86 (4) EPÜ, eindeutig nicht gewährbar ist, und aufgrund dieser Feststellung zu beschließen, diesen neuen Antrag nicht zum Verfahren zuzulassen.

4.5 In Anbetracht dessen sollte nach Auffassung der Kammer eine Prüfungsabteilung das ihr in Regel 71a EPÜ eingeräumte Ermessen, neue Anträge zurückzuweisen, insbesondere aus den folgenden Gründen nicht rein formalistisch ausüben:

a) Mündliche Verhandlungen vor der Prüfungsabteilung sind eine sinnvolle Einrichtung, die es der Prüfungsabteilung ermöglichen, sich ein endgültiges Bild davon zu machen, was der Anmelder gegenüber dem Stand der Technik als seine Erfindung betrachtet, und dem Anmelder Gelegenheit geben, sich angemessen mit den Einwänden des EPA auseinanderzusetzen; dies kann dazu führen, daß Anträge auch noch in einem späten Verfahrensstadium geändert und damit Ansprüche eingereicht werden müssen, mit denen der Anmelder glaubt, den Erfordernissen des Übereinkommens und seinen eigenen Bedürfnissen am besten gerecht zu werden.

b) Das Gleichgewicht zwischen dem Interesse des Anmelders an der Erlangung eines Patents und dem Interesse des EPA an einem effizienten Verfahrensablauf darf nicht zum Nachteil des Anmelders gestört werden.

c) Es wäre der Verfahrenseffizienz abträglich, wenn bei neuen Anträgen, die nach dem gemäß Regel 71a EPÜ festgesetzten Stichtag eingereicht werden, ein hohes Zurückweisungsrisiko bestünde, weil dies die Anmelder dazu veranlassen würde, viele Hilfsanträge rein vorsorglich verfrüht zu stellen, was sowohl dem EPA als auch dem Anmelder selbst unnötige Arbeit bereiten würde.

d) Ebenso abträglich wäre es der Verfahrenseffizienz, wenn die Prüfungsabteilung verspätet eingereichte Anträge nach Regel 71a EPÜ ohne Prüfung aus rein formalistischen Gründen zurückweisen würde und diese Anträge dann im Beschwerdeverfahren gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern zugelassen und zur Prüfung noch offener Fragen an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen werden müßten; ein solches Vorgehen wäre sowohl unter dem Gesichtspunkt der Zügigkeit als auch der Effizienz des Erteilungsverfahrens insgesamt kontraproduktiv.

4.6 Die Kammer legt hier Wert auf die Feststellung, daß sie damit keineswegs sagen will, daß die Anmelder nicht ihr Möglichstes tun müssen, um den in der Ladung zur mündlichen Verhandlung bestimmten Zeitpunkt einzuhalten; rechtzeitig eingereichte Anträge können nämlich zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen und manchmal sogar eine mündliche Verhandlung überflüssig machen. Anmelder, die die Frist nicht einhalten, würden sich außerdem selbst benachteiligen, weil sich die Prüfungsabteilung dann nicht so gut vorbereiten und hilfreiche Anregungen zur Ausräumung verbleibender Einwände geben kann und alle Beteiligten unter erhöhtem Zeitdruck stehen.

4.7 Im übrigen ist es ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, daß ein mit der Sachprüfung betrautes Organ des EPA in seiner Entscheidung begründen muß, warum es geänderte Ansprüche in Ausübung seines Ermessens nach Regel 86 (3) EPÜ nicht zuläßt (siehe z. B. T 182/88, ABl. EPA 1990, 287; T 183/89 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), Nrn. 2.5 und 2.7 und T 872/90 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), Nr. 2.1 Abs. 3 und 4). Da bei der Anwendung der Regel 71a EPÜ ähnliche Überlegungen anzustellen sind wie bei der Berücksichtigung von Anträgen nach Regel 86 (3) EPÜ, gilt nach Ansicht der Kammer auch für die neue Regel 71a EPÜ, daß die Ermessensausübung begründet werden muß. Es genügt also nicht, eine Zurückweisung lediglich mit dem Hinweis auf das in Regel 71a EPÜ eingeräumte Ermessen zu rechtfertigen.

5. Von der Prüfungsabteilung als verspätet zurückgewiesene Anträge

5.1 In der vorliegenden Sache beschloß die Prüfungsabteilung, die beiden am Vortag der mündlichen Verhandlung als Haupt- bzw. erster Hilfsantrag eingereichten Anspruchssätze ebenso unberücksichtigt zu lassen wie den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, der Prüfung und dem Beschluß die ursprünglich eingereichten Verfahrensansprüche, d. h. die Ansprüche 26 bis 30, zugrunde zu legen.

5.2 Die Entscheidung, die zwei am Vortag der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträge unberücksichtigt zu lassen, begründete die Prüfungsabteilung allein damit, daß sie nach Regel 71a EPÜ verspätet eingereicht worden seien. Nach Auffassung der Kammer kann diese Begründung der Prüfungsabteilung für die Nichtberücksichtigung der beiden Anträge aber nicht als ausreichender Grund für die Ermessensausübung betrachtet werden; sie stellt vielmehr lediglich einen Hinweis auf das der Prüfungsabteilung in Regel 71a EPÜ eingeräumte Ermessen dar.

5.3 Zur Nichtberücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags stellte die Prüfungsabteilung in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung lediglich fest, daß dieser Antrag nicht aus dem Stegreif beurteilt werden könne (siehe letzter Absatz). Diese Feststellung ist jedoch eine bloße Behauptung, die weder durch rechtliche noch durch faktische Gründe gestützt wird.

5.4 Deshalb können die Argumente, die die Prüfungsabteilung als Begründung für die Nichtzulassung der Anträge des Beschwerdeführers zum Verfahren anführt, ohne dabei zwischen dem Interesse des EPA an einem zügigen Verfahrensabschluß und dem Interesse des Anmelders an einem angemessenen Patentschutz für seine Erfindung abzuwägen, nach Auffassung der Kammer keine ausreichende Grundlage für einen Beschluß zur Ausübung des Ermessens nach Regel 71a EPÜ bieten.

5.5 In Anbetracht dessen ist die Kammer daher zu dem Schluß gelangt, daß die angefochtene Entscheidung nicht gemäß Regel 68 (2) EPÜ begründet wurde, was einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt.

6. Anträge im Beschwerdeverfahren

6.1 Der Hauptantrag und der erste Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren sind identisch mit dem ersten und dem zweiten Hilfsantrag, die in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung gestellt und von der Prüfungsabteilung ausschließlich unter Hinweis auf Regel 71a EPÜ nicht zum Verfahren zugelassen wurden. An dem der Prüfungsabteilung vorliegenden Hauptantrag, der in der angefochtenen Entscheidung aus sachlichen Gründen zurückgewiesen wurde, hält der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren nicht fest.

6.2 Bei Beschwerden im Erteilungsverfahren gilt grundsätzlich, daß Anträge mit neuen Ansprüchen, die zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht werden, zum Verfahren zugelassen werden, es sei denn, sie sind nach dem EPÜ eindeutig nicht gewährbar. Da der vorliegende Haupt- und der Hilfsantrag offenbar nicht auf den ersten Blick zu beanstanden sind, macht die Kammer von dem ihr in Artikel 111 (1) und Regel 86 (3) EPÜ eingeräumten Ermessen Gebrauch und läßt sie zum Verfahren zu.

6.3 Ein Anmelder hat generell Anspruch darauf, daß seine Anträge von zwei Instanzen geprüft werden. Die Anträge, die der Kammer jetzt vorliegen, sind von der Prüfungsabteilung noch nicht geprüft worden, und es kann weder vom Beschwerdeführer noch von der Kammer erwartet werden, daß sie aus dem, was die Prüfungsabteilung in der mündlichen Verhandlung am 27. März 1996 über den damals vorliegenden anderen Hauptantrag geäußert hat, darauf schließen, was sie von den nunmehr vorliegenden Anträgen halten würde. Die Kammer macht daher von ihrem Ermessen nach Artikel 111 (2) EPÜ Gebrauch und verweist die Anmeldung zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurück.

7. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

Der Beschwerdeführer war mit der Beschwerde im beantragten Umfang erfolgreich. Angesichts der festgestellten wesentlichen Verfahrensmängel und der Tatsache, daß sich die Beschwerde wahrscheinlich erübrigt hätte, wenn es diese Mängel nicht gegeben hätte, erscheint es der Kammer billig, daß die Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ zurückgezahlt wird.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.

3. Dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird stattgegeben.