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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2000:G000498.20001127
Datum der Entscheidung: 27 November 2000
Aktenzeichen: G 0004/98
Anmeldenummer:
IPC-Klasse:
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders:
Name des Einsprechenden:
Kammer: EBA
Leitsatz: I. Unbeschadet des Artikels 67 (4) EPÜ wird die Benennung eines Vertragsstaats des EPÜ in einer europäischen Patentanmeldung nicht rückwirkend wirkungslos und gilt nicht als nie erfolgt, wenn die entsprechende Benennungsgebühr nicht fristgerecht entrichtet worden ist.
II. Die Benennung eines Vertragsstaats gilt gemäß Artikel 91 (4) EPÜ mit Ablauf der in Artikel 79 (2) bzw. in Regel 15 (2), 25 (2) oder 107 (1) EPÜ genannten Frist als zurückgenommen und nicht mit Ablauf der Nachfrist gemäß Regel 85a EPÜ.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 66
European Patent Convention 1973 Art 67
European Patent Convention 1973 Art 76
European Patent Convention 1973 Art 79
European Patent Convention 1973 Art 80
European Patent Convention 1973 Art 90
European Patent Convention 1973 Art 91
European Patent Convention 1973 Art 108
European Patent Convention 1973 Art 112
European Patent Convention 1973 R 15
European Patent Convention 1973 R 25
European Patent Convention 1973 R 85a
European Patent Convention 1973 R 107
European Patent Convention 1973 R 108
Paris Convention Art 4
Schlagwörter: Nichtzahlung von Benennungsgebühren
Keine Rückwirkung der Rücknahmefiktion abgesehen von Artikel 67 EPÜ
Rücknahmefiktion wird mit Ablauf der Frist für die Zahlung der Benennungsgebühren wirksam
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/90
J 0004/86
J 0025/88
J 0022/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
G 0001/05
G 0001/06
G 0003/08
G 0002/12
G 0002/13
J 0019/96
J 0008/00
J 0009/02
J 0015/02
J 0040/03
J 0001/05
J 0001/09
J 0004/11
J 0007/13
J 0010/16
T 1160/00
T 1409/05
T 1402/13

Sachverhalt und Anträge

I. Der Präsident des Europäischen Patentamts (EPA) hat der Großen Beschwerdekammer am 5. Oktober 1998 gemäß Artikel 112 (1) b) des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) die folgenden Rechtsfragen vorgelegt:

“1. a) Ist die Benennung eines Vertragsstaats des EPÜ in einer europäischen Patentanmeldung wirkungslos und gilt sie als nie erfolgt, wenn die entsprechende Benennungsgebühr nicht fristgerecht entrichtet worden ist?

b) Wenn die Frage a zu bejahen ist, bedeutet dann die Tatsache, daß überhaupt keine Benennungsgebühren entrichtet worden sind, für die Anmeldung den Verlust des Anmeldetags?

c) Wenn die Frage a zu bejahen ist, bedeutet dann die Tatsache, daß die Benennungsgebühr für einen bestimmten Vertragsstaat nicht entrichtet worden ist, daß die Anmeldung in diesem Staat nie die Wirkung nach Artikel 66 EPÜ gehabt hat?

d) Wenn die Frage a zu bejahen ist, welche Staaten können dann in einer Teilanmeldung benannt werden, die vor Ablauf der Frist für die Entrichtung der Benennungsgebühren zur Stammanmeldung eingereicht worden ist, und wie wirkt es sich auf die Teilanmeldung aus, wenn später überhaupt keine Benennungsgebühren zur Stammanmeldung entrichtet werden?

2. Wenn die Frage 1.a zu verneinen ist, von welchem Zeitpunkt an gilt dann die Benennung eines Vertragsstaats gemäß Artikel 91 (4) EPÜ als zurückgenommen?”

II. Der Präsident des EPA führt in seiner Vorlage aus, daß die Juristische Beschwerdekammer in ihren Entscheidungen J 25/88 (ABl. EPA 1989, 486) und J 22/95 (ABl. EPA 1998, 569) unterschiedliche Auffassungen in bezug auf die Wirkung der Nichtzahlung einer Benennungsgebühr vertreten habe. Er bringt dazu folgendes vor:

a) In der Sache J 25/88 habe die Juristische Beschwerdekammer festgestellt, daß “die Benennung eines Staates als zurückgenommen gilt, wenn die Benennungsgebühr für diesen Staat nicht entrichtet wird (Art. 91 (1) e) und (4) EPÜ), und daß nur die Benennungen derjenigen Staaten bestehen bleiben, für die die Gebühren ordnungsgemäß entrichtet worden sind” (Nr. 5 der Entscheidungsgründe). Die Betonung liege auf “bestehen bleiben”, was die Bedeutung von “erhalten bleiben, weiterbestehen, übrigbleiben” habe.

Diese Feststellung stehe im Einklang mit der gegenwärtigen Praxis des EPA. Gemäß dieser Praxis bestätige die Zahlung der Benennungsgebühr den Wunsch nach Patentschutz in dem ursprünglich benannten Staat. Werde die Benennungsgebühr nicht rechtzeitig entrichtet, so trete der Rechtsverlust demnach mit Ablauf der Frist gemäß Artikel 79 (2) EPÜ oder gegebenenfalls mit Ablauf der Frist gemäß Regel 15 (2), 25 (2) oder 104b (1) (jetzt Regel 107 (1)) EPÜ ein. Werde eine einzelne Benennungsgebühr für einen Vertragsstaat bis dahin nicht gezahlt, so gelte die Benennung dieses Staats ex nunc als zurückgenommen. In der Vorlage wird auf die Richtlinien für die Prüfung im EPA, A-III, 12.2, sechster Absatz (jetzt 12.5, zweiter Absatz) verwiesen, denen zufolge in Fällen, in denen überhaupt keine Benennungsgebühr gezahlt werde und die Anmeldung deshalb als zurückgenommen gelte, der Rechtsverlust mit dem Ablauf der Grundfrist eintrete. In diesem Zusammenhang werde in den Richtlinien die Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer J 4/86 (ABl. EPA 1988, 119) angeführt, die analog Anwendung finde. Darin habe die Kammer die Auffassung vertreten, daß bei einer Anmeldung, die als zurückgenommen gelte, weil kein Prüfungsantrag gestellt worden sei, der Rechtsverlust mit Ablauf der Grundfrist für die Stellung des Prüfungsantrags eintrete (Nr. 4 der Entscheidungsgründe). In der Stellungnahme G 1/90 (ABl. EPA 1991, 275) habe die Große Beschwerdekammer in einem allgemeineren Kontext befunden, daß der Rechtsverlust dann, wenn das EPÜ die Fiktion der Zurücknahme der Anmeldung vorsehe, mit Ablauf der Frist eintrete, die nicht eingehalten worden sei (Nr. 6 der Entscheidungsgründe, erster Absatz).

b) Die Entscheidung J 22/95 stehe im Widerspruch zu J 25/88. Sie betreffe einen Fall, in dem der Anmelder eine Teilanmeldung eingereicht und darin Vertragsstaaten benannt habe, deren Benennung in der Stammanmeldung gemäß Artikel 91 (4) EPÜ schon als zurückgenommen gegolten habe, bevor die Teilanmeldung eingereicht worden sei. Die Juristische Beschwerdekammer bestätige die Praxis des EPA insofern, als sie feststelle, daß in der Teilanmeldung nur Staaten benannt werden dürften, die in der Stammanmeldung noch wirksam benannt seien. Allerdings lege sie den Begriff der wirksamen Benennung völlig anders aus als üblich und durch J 25/88 bestätigt; sie sage nämlich, daß eine Benennung nur dann wirksam sei, wenn die Benennungsgebühr entrichtet worden sei, und die Nichtentrichtung der Gebühr deshalb bedeute, daß die ursprüngliche Benennung eines Vertragsstaats in einer Anmeldung rechtlich unwirksam sei und als nicht erfolgt gelte (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe). Demnach sei die Rücknahmefiktion nach Artikel 91 (4) EPÜ so zu verstehen, daß ein Staat bei nicht rechtzeitiger Entrichtung der entsprechenden Benennungsgebühr als nie benannt (d. h. die Benennung ex tunc als zurückgenommen) gelte.

c) Die aufgeworfenen Rechtsfragen seien von grundsätzlicher Bedeutung, da sich in der Praxis erhebliche Probleme ergäben, wenn davon auszugehen wäre, daß Benennungen, für die keine Benennungsgebühren gezahlt worden seien, ex tunc als zurückgenommen gälten. Würden überhaupt keine Benennungsgebühren gezahlt, so hätte dies zur Folge, daß nach sehr langer Zeit der Anmeldetag und folglich auch der Prioritätstag verlorengingen. Werde die Benennungsgebühr für einen bestimmten Staat nicht entrichtet, so wäre die Wirkung des Artikels 66 EPÜ (Wirkung der europäischen Patentanmeldung als nationale Hinterlegung) rückwirkend hinfällig. Außerdem entstünden sehr unübersichtliche Verhältnisse, wenn vor Ablauf der Frist für die Zahlung der Benennungsgebühren zur Stammanmeldung eine Teilanmeldung eingereicht würde.

d) Der Präsident des EPA hält die Ex-nunc-Wirkung der Nichtzahlung von Benennungsgebühren für den richtigen Ansatz. Er verweist auf einen Satz in den vorbereitenden Arbeiten, in dem der Gebrauch des Worts “aufrechterhalten” eindeutig auf eine Ex-nunc-Wirkung hindeute (Bericht über die 11. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 28. Februar bis 3. März 1972 in Luxemburg, BR/177/72, Nr. 31). Hätte der Gesetzgeber gewollt, daß die Benennung von Vertragsstaaten ex tunc als zurückgenommen gelte, so hätte es im übrigen keinen Grund gegeben, Artikel 67 (4) Satz 2 EPÜ in das Übereinkommen aufzunehmen, der die Rechtslage in bezug auf den einstweiligen Schutz regle. Wenn die Teilanmeldung davon abhängig bliebe, daß später die Benennungsgebühren für die Stammanmeldung entrichtet würden, liefe dies schließlich auch dem Grundsatz zuwider, daß eine wirksam eingereichte Teilanmeldung zu einer eigenständigen, von der Stammanmeldung unabhängigen Anmeldung werde.

e) Was die Zulässigkeit der Vorlage betreffe, so sei das Erfordernis des Artikels 112 (1) b) EPÜ insofern erfüllt, als die Entscheidung J 22/95 im Widerspruch zu der Entscheidung J 25/88 und zur allgemein anerkannten Auslegung von J 4/86 stehe, wobei die Entscheidungen nicht Ausdruck einer beabsichtigten Weiterentwicklung des Rechts seien. Bezüglich der Tatsache, daß die einander widersprechenden Entscheidungen von ein und derselben Kammer – nämlich der Juristischen Beschwerdekammer – stammen, in Artikel 112 (1) b) EPÜ aber von den Entscheidungen zweier Beschwerdekammern die Rede ist, vertritt der Präsident des EPA den Standpunkt, daß dieser Wortlaut bei sachgerechter Auslegung auch den hier vorliegenden Fall abdecke, in dem dieselbe Kammer in unterschiedlicher Besetzung voneinander abweichende Entscheidungen erlassen habe.

III. Von Dritten wurden gemäß Artikel 11b der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer mehrere Stellungnahmen eingereicht. Darin wird die in J 22/95 getroffene Feststellung, daß die Benennung eines Vertragsstaats in einer Anmeldung rechtlich unwirksam sei und als nicht erfolgt gelte, wenn die Benennungsgebühr nicht entrichtet werde, insbesondere wegen der Konsequenzen für den Anmeldetag als unzutreffend angesehen, da der Anmeldetag rückwirkend verlorenginge, wenn überhaupt keine Benennungsgebühren gezahlt würden.

Gründe für die Stellungnahme

1. Im Zusammenhang mit der Zulässigkeit dieser Vorlage stellt sich die Frage nach den beiden in Artikel 112 (1) b) EPÜ vorgeschriebenen Erfordernissen, daß über eine Frage voneinander abweichende Entscheidungen ergangen sind und daß diese von zwei Beschwerdekammern getroffen wurden.

1.1 Ob das Erfordernis voneinander abweichender Beschwerdekammerentscheidungen erfüllt ist, ist auf Anhieb nicht ersichtlich. Ersichtlich ist ein Widerspruch zwischen der allgemeinen Praxis des EPA einerseits, wonach die Benennung eines Vertragsstaats, für den die Benennungsgebühr nicht entrichtet wurde, ex nunc, d. h. mit Wirkung ab dem Fälligkeitstag als zurückgenommen gilt, und der Entscheidung J 22/95 andererseits, wonach die Benennung in einem solchen Fall ex tunc wirkungslos ist, d. h. als nicht erfolgt gilt. Eine Diskrepanz zwischen der Amtspraxis des EPA und der Rechtsprechung der Beschwerdekammern reicht allein nicht aus, um eine Vorlage des Präsidenten des EPA an die Große Beschwerdekammer zu rechtfertigen, es sei denn, die Praxis des EPA wird durch die Rechtsprechung untermauert. Dies ist hier aber der Fall, da das EPA seine Praxis insbesondere auf die Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer J 25/88 stützt. Dort ging es um die Frage, ob es der ausdrücklichen Benennung eines bestimmten Vertragsstaats bedarf. Unter Nummer 5 der Entscheidungsgründe stellt die Kammer fest, daß “die Benennung eines Staates als zurückgenommen gilt, wenn die Benennungsgebühr für diesen Staat nicht entrichtet wird …, und daß nur die Benennungen derjenigen Staaten bestehen bleiben, für die die Gebühren ordnungsgemäß entrichtet worden sind”. Vor allem die Wortwahl “bestehen bleiben” macht deutlich, daß nach dem Verständnis der Kammer die Wirkungen einer Benennung nicht rückwirkend hinfällig sind, wenn die Gebühr nicht rechtzeitig entrichtet wird. Noch eine weitere Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer kann als Stütze für die Praxis des Amts angesehen werden: In der Sache J 4/86 entschied die Kammer, daß eine Anmeldung, für die kein Prüfungsantrag gestellt wird, als zurückgenommen gilt und der Rechtsverlust mit Ablauf der in Artikel 94 (2) EPÜ genannten Frist eintritt. Da das EPÜ in beiden Fällen, d. h. sowohl wenn die Benennungsgebühr nicht entrichtet, als auch wenn der Prüfungsantrag nicht gestellt wird, die Formulierung “gilt als zurückgenommen” verwendet, um die Folgen dieser Versäumnisse zu bezeichnen (Art. 91 (4) und 94 (3) EPÜ), war es für das Amt nicht abwegig, seine Praxis auf dem Gebiet der Benennungsgebühren analog ebenfalls auf J 4/86 zu stützen.

Angesichts der Tragweite der zwei oben genannten Entscheidungen der Juristischen Beschwerdekammer kann daher das in Artikel 112 (1) b) EPÜ aufgestellte Erfordernis “voneinander abweichender Entscheidungen” als erfüllt betrachtet werden.

1.2 In der vorliegenden Sache wurden die divergierenden Entscheidungen jeweils von der Juristischen Beschwerdekammer getroffen, so daß sich die Frage stellt, ob auch das zweite in Artikel 112 (1) b) EPÜ genannte Erfordernis erfüllt ist, nämlich daß die voneinander abweichenden Entscheidungen von zwei Beschwerdekammern stammen. Der Präsident des EPA macht in seiner Vorlage geltend, daß dies der Fall sei, weil es die Juristische Beschwerdekammer in unterschiedlicher Besetzung gebe und die divergierenden Entscheidungen nicht von denselben Personen erlassen worden seien. Sonst könnten divergierende Entscheidungen der Juristischen Beschwerdekammer nie vorgelegt werden. Diese Auffassung vertritt auch Lunzer (Singer: European Patent Convention, revidierte englische Ausgabe von Raph Lunzer, London 1995, Nr. 112.05). Laut Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 2. Auflage 2000, Artikel 112, Nr. 30 ist entscheidend, daß zwei widersprüchliche Entscheidungen vorliegen und nicht, ob diese Entscheidungen von zwei Kammern mit unterschiedlicher organisatorischer Bezeichnung erlassen wurden.

Wie es in Artikel 112 EPÜ eingangs heißt, dient die Befassung der Großen Beschwerdekammer unter anderem zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung. Dies gilt besonders für Vorlagen durch den Präsidenten des EPA nach Artikel 112 (1) b) EPÜ, die ja voraussetzen, daß voneinander abweichende Entscheidungen ergangen sind. Wäre die Vorlagebefugnis des Präsidenten durch eine restriktive, auf der Organisationsstruktur basierende Auslegung des Begriffs “zwei Beschwerdekammern” zu definieren, so wären Vorlagen betreffend die Juristische Beschwerdekammer, die eine einzige Organisationseinheit darstellt, unmöglich. Die Wirkung des Artikels 112 EPÜ würde dadurch ungebührlich eingeschränkt, denn es steht außer Frage, daß divergierende Entscheidungen auch im Zuständigkeitsbereich dieser Kammer vorkommen können, die als Organisationseinheit alle rechtskundigen Mitglieder der Beschwerdekammern (mit Ausnahme der rechtskundigen Vorsitzenden der Technischen Beschwerdekammern) umfaßt und deshalb in ganz unterschiedlicher Besetzung zusammentritt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß das EPÜ die Juristische Beschwerdekammer nicht als Organisationseinheit, sondern nur über ihre Zusammensetzung definiert, was verstärkt dafür spricht, daß der Präsident des EPA divergierende Entscheidungen dieser Kammer jedenfalls dann zum Anlaß für eine Vorlage nehmen kann, wenn die Kammer sie in unterschiedlicher Besetzung erlassen hat. Da dies hier der Fall ist, braucht nicht darauf eingegangen zu werden, ob eine Vorlage durch den Präsidenten des EPA auch zulässig wäre, wenn die Juristische Beschwerdekammer divergierende Entscheidungen in derselben Besetzung erlassen hätte. Ebensowenig muß dazu Stellung genommen werden, ob eine Vorlage zulässig wäre, wenn diese Situation nicht innerhalb der Juristischen, sondern in einer Technischen Beschwerdekammer entstanden wäre. Dahingestellt bleiben kann schließlich auch, inwiefern die Vorlagebefugnis des Präsidenten des EPA dadurch eingeschränkt wird, daß die Juristische Beschwerdekammer ihrerseits befugt ist, ihre Rechtsprechung abweichend von früheren Entscheidungen weiterzuentwickeln (vgl. Singer/Stauder, a. a. O.). In der vorliegenden Sache gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß dies mit J 22/95 beabsichtigt war. Vielmehr heißt es unter Nummer 7.2 der Entscheidungsgründe, daß es “keine für diesen Fall relevanten divergierenden Entscheidungen … [gibt]”.

1.3 Die Vorlage ist somit zulässig.

2. In Artikel 91 (4) EPÜ heißt es: “Wird … die Benennungsgebühr für einen Vertragsstaat nicht rechtzeitig entrichtet, so gilt die Benennung dieses Staats als zurückgenommen.” Frage 1.a der Vorlage enthält die Hauptfrage, die die Große Beschwerdekammer beantworten soll, nämlich ob eine Benennung, für die keine Benennungsgebühr entrichtet wurde, in der Zukunft, d. h. nach dem Fälligkeitstag der Zahlung keine Wirkung entfaltet (ex nunc) oder ob sie als nie erfolgt gilt und ihre Wirkung rückwirkend hinfällig ist (ex tunc).

3. Gemäß der Entscheidung J 25/88 und der Praxis des EPA ist eine Benennung nicht rückwirkend nichtig, wenn die Benennungsgebühr nicht gezahlt wurde. Eine Benennung entfaltet bis zum Ablauf der Frist für die Entrichtung der Benennungsgebühr ihre volle Wirkung. Erst danach erlischt diese Wirkung, und zwar in dem Sinne, daß Handlungen, die eine Benennung voraussetzen, wie etwa die Einreichung einer Teilanmeldung, nicht mehr wirksam vorgenommen werden können, wenn überhaupt keine Benennungsgebühren gezahlt wurden. Dagegen kommt die Juristische Beschwerdekammer in der Sache J 22/95 zu dem Ergebnis, daß die Nichtzahlung einer Benennungsgebühr uneingeschränkte Rückwirkung entfalte. Die Kammer stellt fest: “Die Nichtentrichtung der Gebühr bedeutet …, daß die ursprüngliche Benennung eines Vertragsstaats in einer Anmeldung rechtlich unwirksam ist und als nicht erfolgt gilt” (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe).

3.1 Artikel 91 (4) EPÜ besagt, daß die Benennung eines Staats, für den die Benennungsgebühr nicht entrichtet wird, als zurückgenommen gilt. Die Formulierung “gilt als zurückgenommen” wird im EPÜ auch an anderer Stelle verwendet, insbesondere wo es darum geht, was aus einer europäischen Anmeldung wird, wenn bestimmte Handlungen nicht vorgenommen werden. So gilt eine europäische Patentanmeldung beispielsweise als zurückgenommen, wenn die Jahresgebühr, die Anmeldegebühr, die Recherchengebühr oder die Erteilungs- und die Druckkostengebühr nicht entrichtet werden (Art. 86 (3), 90 (3) und 97 (3) EPÜ), wenn der Anmelder den Erfinder nicht nennt (Art. 91 (5) EPÜ), wenn er keinen Prüfungsantrag stellt (Art. 94 (3) EPÜ) oder – selbst noch im Beschwerdestadium – wenn er es unterläßt, auf eine Aufforderung zur Stellungnahme zu antworten (Art. 96 (3) und 110 (3) EPÜ). Würden die Argumente der Entscheidung J 22/95 auf diese Fälle übertragen, so hätte die Anmeldung keinerlei Rechtswirkung und wäre, ebenso wie der Anmeldetag, nie existent gewesen. Dies widerspräche aber dem EPÜ-System, das klar unterscheidet zwischen den Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Anmeldetags und den Fällen, in denen eine Anmeldung als zurückgenommen gilt. Dies geht schon aus den vorbereitenden Arbeiten hervor (vgl. Berichte zum zweiten Vorentwurf eines Übereinkommens über ein europäisches Patenterteilungsverfahren, Band II, 1971, S. 27, Nr. 38: “In den Artikeln 77 und 78 werden jetzt die Wirkungen deutlicher unterschieden, die einerseits die Anmeldungen haben, welche die für die Festlegung eines Anmeldetags erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllen, und andererseits die Anmeldungen, die als zurückgenommen gelten”). Die geltende Fassung des EPÜ belegt eindeutig, daß beispielsweise die Nichtentrichtung der Anmelde- oder Recherchengebühr keine Auswirkung auf den Anmeldetag hat, da in Artikel 90 (1) a) und b) EPÜ zwischen der Zuerkennung eines Anmeldetags und der Zahlung der Anmelde- und der Recherchengebühr unterschieden wird. So gesehen ist die Aussage in J 22/95, daß sich bei Nichtentrichtung einer Anmeldegebühr “aus der in Frage stehenden europäischen Patentanmeldung … in dem betreffenden Vertragsstaat von Anfang an keinerlei Rechte, auch nicht in bezug auf den Anmeldetag, herleiten [lassen]” (Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe), nicht richtig: Die Anmeldung behält ihren Anmeldetag und qualifiziert sich damit als nationale Hinterlegung nach Artikel 66 EPÜ.

3.2 Will man ermitteln, ob die Formulierung “gilt als zurückgenommen” in diesen Fällen im Sinne einer Rückwirkung zu verstehen ist oder nicht, so ist zu beachten, daß es im EPÜ Sachverhalte gibt, bei denen die Nichtzahlung einer Gebühr rückwirkende Folgen hat. Im EPÜ heißt es dann aber nicht “zurückgewiesen”, “zurückgenommen” oder “gilt als zurückgenommen”, sondern vielmehr, daß ein Antrag “erst als gestellt gilt” bzw. ein Einspruch oder eine Beschwerde “erst als eingelegt gilt”, wenn die entsprechende Gebühr entrichtet worden ist (vgl. Art. 94 (2) EPÜ in bezug auf die Prüfung, Art. 99 (1) und 108 EPÜ in bezug auf Einspruch und Beschwerde und Art. 136 (1) EPÜ in bezug auf die Umwandlung). Dies ist ein weiterer Beleg dafür, daß das EPÜ klar unterscheidet zwischen Fällen, in denen die Rückwirkung gewollt ist (“gilt erst als eingelegt” bzw. “gilt erst als gestellt”), und solchen, in denen dies nicht der Fall ist (“zurückgewiesen oder zurückgenommen wurde oder als zurückgenommen gilt”).

3.3 Das bisher Gesagte deutet darauf hin, daß das EPÜ keine Rückwirkung vorsieht, wenn es die Formulierung “gilt als zurückgenommen” verwendet. Siehe dazu auch die Stellungnahme G 1/90, in der die Große Beschwerdekammer festgestellt hat, daß dann, wenn das EPÜ die Fiktion der Zurücknahme der Anmeldung vorsieht, “der Rechtsverlust mit Ablauf der Frist [eintritt], die nicht eingehalten worden ist” (Nr. 6 der Gründe), sowie J 4/86 (s. o. Nr. 1.1). Da diese Formulierung auch im Zusammenhang mit der Nichtzahlung von Benennungsgebühren verwendet wird, müßte hier dasselbe gelten, es sei denn, man will den Worten “gilt als zurückgenommen” in unterschiedlichen Fällen unterschiedliche Bedeutung beilegen.

Es besteht jedoch allgemeines Einvernehmen darüber, daß es nicht wünschenswert ist, ein und denselben Ausdruck unterschiedlich auszulegen, und daß dies nicht leichthin getan werden sollte. Dies gilt im vorliegenden Fall in besonderem Maße, da es im EPÜ – wie unter Nummer 3.2 dargelegt – Fälle gibt, in denen die Nichtzahlung einer Gebühr Rückwirkung haben soll und in denen eine andere Formulierung als “gilt als zurückgenommen” verwendet wird.

Zudem enthält das EPÜ – was noch wichtiger ist – einen eindeutigen Hinweis darauf, daß in bezug auf die Verneinung der Rückwirkung bei Benennungsgebühren nicht anders verfahren werden sollte als in den anderen Fällen. Artikel 91 (1) EPÜ lautet:

“(1) Steht der Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung fest …, so prüft die Eingangsstelle, ob

e) die Benennungsgebühren entrichtet worden sind;”

Die Zuerkennung eines Anmeldetags war demnach als Voraussetzung für die Prüfung auf Zahlung der Benennungsgebühren gedacht. Der Nichtzahlung von Benennungsgebühren nun ihrerseits einen Einfluß auf den Anmeldetag zuzubilligen hieße, die logische Reihenfolge der Eingangsprüfung nach Artikel 90 EPÜ, in deren Rahmen ein Anmeldetag zuerkannt wird, und der Formalprüfung nach Artikel 91 EPÜ, bei der unter anderem geprüft wird, ob die Benennungsgebühren gezahlt wurden, umzukehren. Der Anmeldetag stünde aber zur Disposition, wenn man der Nichtzahlung – wie in J 22/95 geschehen – Rückwirkung zusprechen würde, da es dann unweigerlich zum Verlust des Anmeldetags käme, wenn keine der Benennungsgebühren entrichtet würde.

3.4 Vor diesem Hintergrund sind die von der Juristischen Beschwerdekammer in J 22/95 vorgebrachten Argumente, die eine Rückwirkung der Nichtzahlung von Benennungsgebühren begründen sollen, nicht überzeugend. Das Hauptargument stützt sich auf Artikel 67 (4) EPÜ, der wie folgt lautet: “Die in den Absätzen 1 und 2 vorgesehenen Wirkungen der europäischen Patentanmeldung gelten als von Anfang an nicht eingetreten, wenn die europäische Patentanmeldung zurückgenommen worden ist, als zurückgenommen gilt oder rechtskräftig zurückgewiesen worden ist. Das gleiche gilt für die Wirkungen der europäischen Patentanmeldung in einem Vertragsstaat, dessen Benennung zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt.” Die Absätze 1 und 2 des Artikels 67 EPÜ (sowie Art. 64 EPÜ, auf den dort verwiesen wird) betreffen den einstweiligen Schutz, den eine europäische Patentanmeldung gewährt. In J 22/95 heißt es unter Nummer 2.3 der Entscheidungsgründe: “Mit der Benennung von Vertragsstaaten wird ausschließlich bezweckt, den in den Artikeln 64 und 67 EPÜ vorgesehenen Schutz in diesen Staaten zu erlangen. Wird eine Benennung zurückgenommen, so gelten die in diesen beiden Artikeln des EPÜ vorgesehenen Wirkungen als von Anfang an nicht eingetreten. Die Benennung gilt daher als nicht erfolgt.”

De facto dient die Benennung eines Vertragsstaats unter anderem dem Zweck, in diesem Staat einstweiligen Schutz zu erlangen. Dies ist aber weder ihr einziger Zweck, wie in J 22/95 behauptet wird, noch ihre einzige Wirkung: Genauso wichtig ist die Benennung mindestens eines Vertragsstaats, damit der europäischen Patentanmeldung ein Anmeldetag zuerkannt wird (Art. 80 b) EPÜ). In Artikel 67 (4) EPÜ geht es weder um diese noch um eine andere Wirkung der Benennung, sondern ausschließlich um den ganz spezifischen Aspekt des einstweiligen Schutzes. Deshalb kann diese Bestimmung, die gleichermaßen auf alle Fälle anwendbar ist, in denen eine Anmeldung zurückgenommen wird, als zurückgenommen gilt oder zurückgewiesen wird oder eine Benennung zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt, nicht als Grundlage für die Rechtfertigung einer generellen Rückwirkung angesehen werden, sondern ist vielmehr als konkrete Ausnahmeregelung (in bezug auf den einstweiligen Schutz) zu betrachten, was erst recht dafür spricht, daß in den anderen Fällen keine Rückwirkung eintritt.

Große Bedeutung mißt die Entscheidung J 22/95 auch dem ersten Satz des Artikels 79 (2) EPÜ bei “The designation of a Contracting State shall be subject to the payment of the designation fee” (“Für die Benennung eines Vertragsstaats ist die Benennungsgebühr zu entrichten”), und zwar insbesondere den vier Worten “shall be subject to” (“ist zu entrichten”). Diese werden offensichtlich so aufgefaßt, als sei die Benennungsgebühr eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß eine Benennung überhaupt von Anfang an existiert. Welche Folgen die Nichtzahlung einer Benennungsgebühr hat, läßt sich aus dieser Formulierung allerdings nicht direkt herleiten. Dieselbe Formulierung findet sich interessanterweise aber auch im vorangehenden Artikel, der die Anmelde- und die Recherchengebühr betrifft (Art. 78 (2) EPÜ). Der Argumentation in J 22/95 zufolge würde die Nichtzahlung der Anmelde- oder Recherchengebühr bewirken, daß die Anmeldung samt Anmeldetag untergeht. Dies ist indes, wie unter Nummer 3.1 dargelegt, nicht der Fall. Natürlich könnte man – wie auch bei der Formulierung “gilt als zurückgenommen” – argumentieren, daß die Worte “shall be subject to” (“ist zu entrichten”) in bezug auf die Anmelde- und die Recherchengebühr nicht dasselbe bedeuten wie für die Benennungsgebühr. Eine solche Schlußfolgerung ist jedoch in keiner Weise gerechtfertigt.

4. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, daß es im europäischen Patentsystem keine Stütze für die Auffassung gibt, daß bei nicht rechtzeitiger Entrichtung der Benennungsgebühren die Benennungen rückwirkend untergehen, als hätten sie nie existiert. Vielmehr geht aus dem Wortlaut und der Systematik eindeutig hervor, daß die Benennungen bis zur Fälligkeit der Benennungsgebühren ihre volle Wirkung entfalten. Nur wenn die Benennungsgebühren nicht rechtzeitig gezahlt werden, werden die Benennungen für Handlungen nach dem Fälligkeitstag, wie etwa die Einreichung einer Teilanmeldung, wirkungslos. Die Nichtzahlung von Benennungsgebühren hat nur dort rückwirkende Folgen, wo das EPÜ dies ausdrücklich vorsieht, d. h. im Falle des einstweiligen Schutzes (Art. 67 (4) EPÜ).

Bestätigt wird dieses Ergebnis, das mit J 25/88 (s. o. Nr. 1.1) und mit der Praxis des EPA in Einklang steht, durch die Erklärung, die die deutsche Delegation im Zuge der vorbereitenden Arbeiten abgegeben hat und der die übrigen Delegationen in diesem Punkt nicht widersprochen haben: “Um jedoch beurteilen zu können, ob er [der Anmelder] seine Benennung für ein bestimmtes Land aufrechterhalten soll oder nicht, brauche er die Benennungsgebühr erst bis zum Ablauf von 12 Monaten zu entrichten” (Bericht über die 11. Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 28. Februar bis 3. März 1972 in Luxemburg, BR/177/72, Nr. 31). Wie der Präsident in seiner Vorlage ausführt, läßt der Begriff “aufrechterhalten”, dem im Englischen “to maintain” oder “to uphold” entspricht (Romain, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, München, 1994), in der Tat darauf schließen, daß eine Benennung, für die keine Gebühr entrichtet wird, nicht einfach untergehen soll, als hätte es sie nie gegeben, sondern lediglich ihre Wirkung in der Zukunft einbüßt. Diese Ansicht wird auch im Schrifttum vertreten (Strebel, Münchner Gemeinschaftskommentar, Artikel 91, Nr. 141; Bossung, Münchner Gemeinschaftskommentar, Artikel 79, Nr. 178).

5. Nur durch die Verneinung einer allgemeinen Rückwirkung der Nichtzahlung von Benennungsgebühren können auch die vom Präsidenten in seiner Vorlage angesprochenen Probleme vermieden werden (s. o. Nr. II.c):

Was den Anmeldetag und seine Bedeutung für die Inanspruchnahme einer Priorität betrifft, so würde der in J 22/95 eingeschlagene Weg unweigerlich zum Verlust des Anmeldetags und damit der Priorität führen, wenn überhaupt keine Benennungsgebühren entrichtet würden. Dies widerspräche nicht nur Artikel 91 (1) EPÜ, dem zufolge die Entrichtung von Benennungsgebühren kein Erfordernis für den Anmeldetag ist (s. o. Nr. 3.3), sondern würde auch eine Verletzung der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (PVÜ) bedeuten, weil die Entrichtung dieser Gebühren nicht Voraussetzung für eine gemäß Artikel 4 A (3) PVÜ prioritätsbegründende “vorschriftsmäßige nationale Hinterlegung” ist (worunter auch europäische Patentanmeldungen fallen, vgl. Art. 66 EPÜ). Eine Verletzung der PVÜ läge selbst dann vor, wenn die Entrichtung von Benennungsgebühren als Voraussetzung für eine “vorschriftsmäßige nationale Hinterlegung” im Sinne der PVÜ angesehen würde; gegenwärtig sind die Benennungsgebühren innerhalb von sechs Monaten nach dem Tag zu entrichten, an dem im Europäischen Patentblatt auf die Veröffentlichung des europäischen Recherchenberichts hingewiesen worden ist (Art. 79 (2) EPÜ). Somit könnte der Status einer “vorschriftsmäßigen nationalen Hinterlegung” noch mehr als ein Jahr nach Ablauf der zwölfmonatigen Prioritätsfrist für eine Nachanmeldung (Art. 4 C PVÜ) verlorengehen. Die Vorschriftsmäßigkeit der nationalen Hinterlegung – und damit der Anmeldetag – muß aber spätestens am Ende der Prioritätsfrist festgestellt werden, weil sie der Überprüfung durch die Behörden des Nachanmeldelandes zugänglich sein muß (Beier/Straus, Probleme der Unionspriorität, GRUR Int. 1991, S. 256).

Aufgrund der fehlenden Auswirkung der Nichtzahlung von Benennungsgebühren auf den Anmeldetag werden auch die Probleme, die sonst in bezug auf die in Artikel 135 EPÜ vorgesehene Möglichkeit der Umwandlung einer europäischen Patentanmeldung in eine nationale Anmeldung entstehen würden, vermieden. Eine solche Umwandlung ist in bestimmten Fällen möglich, in denen die europäische Patentanmeldung zurückgewiesen oder zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt. Diese Fälle treten in der Regel zu Beginn des Erteilungsverfahrens auf, d. h. zu einem Zeitpunkt, da die Benennungsgebühren noch nicht fällig sind. Voraussetzung für eine Umwandlung ist, daß der europäischen Anmeldung ein Anmeldetag zuerkannt worden ist, weil sie sonst nicht die Wirkung einer nationalen Hinterlegung hätte (Art. 66 EPÜ). Wird die Benennungsgebühr nicht gezahlt, bevor die europäische Anmeldung aus einem der in Artikel 135 EPÜ genannten Gründe zurückgewiesen oder zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt, so ist die Zahlung nicht mehr möglich; eine Rückwirkung der Nichtzahlung würde bedeuten, daß die europäische Patentanmeldung ihren Anmeldetag verliert und damit nicht mehr als nationale Hinterlegung gemäß Artikel 66 EPÜ gilt. Eine Umwandlung erschiene dann unmöglich, was eindeutig im Widerspruch zu der gesetzgeberischen Absicht stünde, die Artikel 135 EPÜ zugrunde liegt.

Wenn die bei Nichtzahlung der entsprechenden Gebühren eintretende Fiktion der Rücknahme von Benennungen keine Rückwirkung hat, wird schließlich auch die Situation in bezug auf Teilanmeldungen sinnvoll erfaßt: Nach dem in J 22/95 gewählten Ansatz würden sämtliche Teilanmeldungen, die vor der Fälligkeit der Benennungsgebühren für die Stammanmeldung eingereicht wurden, bei nicht rechtzeitiger Entrichtung dieser Benennungsgebühren untergehen, weil die Benennungen als nie erfolgt gelten würden und somit das Erfordernis des Artikels 76 (2) EPÜ nicht erfüllt werden könnte, dem zufolge in der Teilanmeldung nur Vertragsstaaten benannt werden dürfen, die in der früheren Anmeldung benannt worden sind. Um dieser Konsequenz vorzubeugen, wäre der Anmelder gezwungen, die Benennungsgebühren für die Stammanmeldung selbst dann zu zahlen, wenn er – etwa wegen eines ungünstigen Recherchenberichts – keinerlei Interesse mehr an ihr hätte. Hat die Rücknahmefiktion in bezug auf Benennungen, für die die entsprechenden Gebühren nicht gezahlt werden, dagegen Ex-nunc-Wirkung, so bleibt die Nichtzahlung dieser Gebühren ohne Einfluß auf die Gültigkeit oder die geographische Reichweite der Teilanmeldung. Der Anmelder kann in der Teilanmeldung alle Vertragsstaaten benennen, die in der Stammanmeldung benannt worden sind, und alle diese Benennungen weiterverfolgen, auch wenn er die Benennungsgebühren für die Stammanmeldung später nur zum Teil oder überhaupt nicht zahlt. Dies steht im Einklang damit, daß das durch die Teilanmeldung eingeleitete Verfahren grundsätzlich unabhängig vom Verfahren zur Stammanmeldung abläuft und daß die Teilanmeldung wie eine neue Anmeldung behandelt wird (Bernhardt/Kraßer, Lehrbuch des Patentrechts, 4. Auflage, München 1986, S. 466; van Empel, The Granting of European Patents, Leyden 1975, Nrn. 560, 561). Auch wenn es gemeinsame Anknüpfungspunkte zwischen den zwei Verfahren gibt (etwa in bezug auf Fristen), haben Handlungen, die nach Einreichung einer Teilanmeldung im Verfahren zur Stammanmeldung vorgenommen (oder unterlassen) werden, keinen Einfluß auf das die Teilanmeldung betreffende Verfahren. Der Anmelder ist dann auch nicht genötigt, unsinnigerweise Benennungsgebühren für eine Stammanmeldung zu zahlen, an der er kein Interesse mehr hat. Außerdem werden schwierige Fragen vermieden, die sich stellen würden, wenn im Wege der beschleunigten Bearbeitung ein Patent auf eine Teilanmeldung vor Ablauf der Frist für die Zahlung der Benennungsgebühren zur Stammanmeldung erteilt worden ist.

6. Aus diesen Gründen wird die der Großen Beschwerdekammer vom Präsidenten des EPA vorgelegte Frage 1.a verneint, wobei der in Artikel 67 (4) EPÜ ausdrücklich genannte Fall eine Ausnahme bildet. Da die drei folgenden Fragen b bis d eine Bejahung der Frage a voraussetzen, erübrigt sich ihre Beantwortung.

7. Die zweite vom Präsidenten des EPA vorgelegte Frage betrifft den Zeitpunkt, von dem an die Benennung eines Vertragsstaats als zurückgenommen gilt.

7.1 In Artikel 91 (4) EPÜ heißt es: “Wird … die Benennungsgebühr für einen Vertragsstaat nicht rechtzeitig entrichtet, so gilt die Benennung dieses Staats als zurückgenommen.” Da in der vorliegenden Stellungnahme dem Umstand, daß eine Benennung als zurückgenommen gilt, keine generelle Rückwirkung zugebilligt wird, entfaltet die Rücknahmefiktion ihre Wirkung zwangsläufig erst mit Ablauf der Frist, die Artikel 91 (4) EPÜ (bzw. bei einer internationalen Anmeldung Regel 108 (2) EPÜ) durch den Begriff “rechtzeitig” bestimmt. Es gilt daher zu ermitteln, was hierunter zu verstehen ist.

7.2 Die Fristen für die Zahlung der Benennungsgebühren sind in Artikel 79 (2) EPÜ und, für Sonderfälle, in den Regeln 15 (2), 25 (2) und 107 (1) EPÜ festgelegt. Für alle diese Fälle sieht Regel 85a EPÜ eine Nachfrist von ein bzw. zwei Monaten vor. Die Frage ist nun, ob die Rücknahmefiktion ihre Wirkung mit Ablauf der Grundfrist oder mit Ablauf der Nachfrist gemäß Regel 85a EPÜ entfaltet. In Strebel, Münchner Gemeinschaftskommentar, Artikel 91, Nummer 141 wird der Ablauf der Nachfrist als maßgebender Zeitpunkt angesehen, weil sich die Zahlungsfrist bis dahin erstrecke. Die Regel 85a EPÜ verlängert aber nicht die Grundfrist, sondern bietet – wie ihre Überschrift besagt – durch eine Nachfrist die Möglichkeit zur Heilung eines Fristversäumnisses, das sonst möglicherweise fatale Folgen hätte. Daß nicht der Ablauf der Nachfrist, sondern der Ablauf der Grundfrist der maßgebende Zeitpunkt ist, ist das Ergebnis der Entscheidung J 4/86, in der es um die unterlassene Einreichung eines Prüfungsantrags für eine europäische Patentanmeldung ging. Da die Entscheidung wohlbegründet und völlig überzeugend ist und keine Veranlassung besteht, den vorliegenden Fall anders zu bewerten als den ihr zugrundeliegenden Sachverhalt, ist nichts weiteres hinzuzufügen. Die Praxis des EPA (Richtlinien für die Prüfung im EPA, A-III, 12.5, zweiter Absatz) wird bestätigt.

Schlußfolgerung

Aus den oben dargelegten Gründen gibt die Große Beschwerdekammer folgende Stellungnahme zu den vom Präsidenten des EPA vorgelegten Fragen ab:

Frage 1.a:

Unbeschadet des Artikels 67 (4) EPÜ ist die Benennung eines Vertragsstaats des EPÜ in einer europäischen Patentanmeldung nicht rückwirkend wirkungslos und gilt nicht als nie erfolgt, wenn die entsprechende Benennungsgebühr nicht fristgerecht entrichtet worden ist.

Fragen 1.b bis d:

Eine Beantwortung erübrigt sich.

Frage 2:

Die Benennung eines Vertragsstaats gilt gemäß Artikel 91 (4) EPÜ mit Ablauf der in Artikel 79 (2) bzw. in Regel 15 (2), 25 (2) oder 107 (1) EPÜ genannten Frist als zurückgenommen und nicht mit Ablauf der Nachfrist gemäß Regel 85a EPÜ.