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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1994:G000392.19940613
Datum der Entscheidung: 13 Juni 1994
Aktenzeichen: G 0003/92
Vorlageentscheidung: J 0001/91
Anmeldenummer: 90304744.7
IPC-Klasse: A62B 35/04
Verfahrenssprache: EN
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE | EN | FR
Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: Latchways
Name des Einsprechenden:
Kammer: EBA
Leitsatz: Wenn durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist und diese andere Person unter Einhaltung der ausdrücklichen Erfordernisse des Artikels 61 (1) EPÜ gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreicht, ist die Zulassung dieser neuen Anmeldung nicht daran gebunden, daß zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die ältere, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 60
European Patent Convention 1973 Art 61
European Patent Convention 1973 Art 167
European Patent Convention 1973 R 13
European Patent Convention 1973 R 14
European Patent Convention 1973 R 15
European Patent Convention 1973 R 16
Protocol on Recognition Art 001
Protocol on Recognition Art 009
Rules of procedure of the Boards of Appeal 12a
Schlagwörter: Abweichende Meinung
Rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts
Einer anderen Partei als dem Anmelder zugesprochener Anspruch auf das Patent
Interessen Dritter
Zurücknahme der ursprünglichen Anmeldung durch den unberechtigten Anmelder
Einreichung einer neuen Anmeldung durch den berechtigten Anmelder
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0001/91
J 0007/96
J 0008/96
J 0002/01
J 0006/03
J 0008/04
J 0020/05
J 0009/06
J 0013/12
J 0015/13
J 0016/14
J 0017/14
J 0018/14
J 0019/14
J 0020/14
J 0021/14
J 0022/14
T 2473/12
T 0205/14
T 0517/14

Zusammenfassung des Verfahrens

I. In der Beschwerdesache J 1/91 (ABl. EPA 1993, 281) hat die Juristische Beschwerdekammer mit ihrer Entscheidung vom 31. März 1992 der Großen Beschwerdekammer auf Antrag des Beschwerdeführers gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorgelegt. Durch die Frage soll geklärt werden, in welchem Umfang einem rechtmäßigen Erfinder (oder seinem Rechtsnachfolger) die Rechtsbehelfe nach Artikel 61 EPÜ zur Verfügung stehen, wenn ein anderer als der rechtmäßige Erfinder ein europäisches Patent angemeldet hat.

II. Der Sachverhalt des bei der Juristischen Beschwerdekammer anhängigen Falls ist in der eingangs angesprochenen Vorlageentscheidung ausführlich geschildert. Die darin dargelegten Fakten lassen sich, soweit sie für die Beantwortung der vorgelegten Rechtsfrage maßgeblich sind, verkürzt wie folgt zusammenfassen:

1982 hatte das beschwerdeführende Unternehmen zum Zweck der Verwertung einer von ihm entwickelten Vorrichtung einem Dritten auf vertraulicher Basis Einzelheiten dieser Vorrichtung offenbart. Der betreffende Dritte ( der “unberechtigte Anmelder”) reichte 1985 ohne Wissen des Beschwerdeführers eine europäische Patentanmeldung für diese Vorrichtung (die “Anmeldung von 1985”) ein, die im weiteren Verlauf des Jahres 1985 veröffentlicht wurde, 1986 aber als zurückgenommen galt, weil innerhalb der Frist kein Prüfungsantrag gestellt worden war.

Der Beschwerdeführer wußte zu diesem Zeitpunkt nichts von der Anmeldung von 1985 und reichte 1987 eine europäische Patentanmeldung für dieselbe Vorrichtung ein. 1988 erhielt er den europäischen Recherchenbericht, in dem die Anmeldung von 1985 angeführt war, und erlangte auf diese Weise erstmals Kenntnis von dieser früheren Anmeldung.

Der Beschwerdeführer machte daraufhin beim Comptroller des Patentamts des Vereinigten Königreichs nach § 12 PatG 1977 geltend, daß er Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents für die in der Anmeldung von 1985 offenbarte Erfindung habe. Ein Superintending Examiner erließ in Vertretung des Comptroller mit Datum vom 6. März 1990 form- und fristgerecht eine Entscheidung zugunsten des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer reichte daraufhin innerhalb von drei Monaten gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung (die “Anmeldung von 1990”) für den bereits in der Anmeldung von 1985 offenbarten Gegenstand ein. Die Eingangsstelle des Europäischen Patentamts gelangte jedoch in ihrer Entscheidung vom 27. Dezember 1990 zu dem Schluß, daß die Anmeldung von 1990 nicht nach Artikel 61 (1) b) EPÜ bearbeitet werden könne, da zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die Anmeldung von 1985 nicht mehr anhängig gewesen sei; dies sei aber Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 61 EPÜ.

Die Entscheidung stützt sich in erster Linie auf den Wortlaut des Artikels 61 EPÜ und der dazugehörigen Regeln 13 bis 15 EPÜ; verwiesen wird ferner auf das “vorrangige Anrecht der Öffentlichkeit auf Rechtssicherheit in Patentbelangen” sowie darauf, daß die vorstehenden Bestimmungen dem berechtigten Anmelder die Möglichkeit eröffnen, seine Rechte geltend zu machen, solange eine von einem Nichtberechtigten eingereichte Anmeldung noch anhängig ist.

Diese Entscheidung der Eingangsstelle ficht der Beschwerdeführer nun im vorstehend angesprochenen Verfahren vor der Juristischen Beschwerdekammer an. Diese hat der Großen Beschwerdekammer wiederum folgende Rechtsfrage vorgelegt:

“Wenn durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist und diese andere Person unter Einhaltung der ausdrücklichen Erfordernisse des Artikels 61 (1) EPÜ gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreicht, ist diese neue Anmeldung dann nur unter der Bedingung zulässig, daß zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die ursprüngliche, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist?”

III. Nach Befassung der Großen Beschwerdekammer hat der Präsident des Europäischen Patentamts gemäß Artikel 11a der Verfahrensordnung bei der Großen Beschwerdekammer den Antrag gestellt, die Kammer möge ihm Gelegenheit geben, sich schriftlich zu der ihr vorliegenden Rechtsfrage zu äußern. Zur Begründung seines Antrags führte er an, daß dieser Fall insofern von Interesse und Bedeutung sei, als es um den als Grundprinzip im europäischen Patentsystem verankerten Schutz der Rechte des rechtmäßigen Erfinders gehe. Die Große Beschwerdekammer forderte den Präsidenten daraufhin auf, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob Artikel 61 EPÜ die Rechte des rechtmäßigen Erfinders schützt, wenn ein anderer zuvor widerrechtlich eine europäische Anmeldung eingereicht und diese nach der Veröffentlichung zurückgenommen hat.

IV. Am 5. November 1992 leitete der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer seine Stellungnahme zu, in der er sich der von der Eingangsstelle vertretenen Auslegung des Artikels 61 EPÜ anschloß und auf die “Vorarbeiten” zu Artikel 61 EPÜ verwies.

Der Präsident hat sich der Auslegung der Eingangsstelle vor allem deswegen angeschlossen, weil er die Gefahr sieht, daß durch eine Anwendung des Artikels 61 EPÜ auf Fälle, in denen die Anmeldung eines unberechtigten Anmelders nicht mehr anhängig ist, insofern Rechtsunsicherheit entstünde, als sich Dritte durch die Zurücknahme der Anmeldung möglicherweise zu einer kommerziellen Tätigkeit verleiten ließen, aus der ihnen dann Nachteile erwüchsen, wenn später dem berechtigten Anmelder die Einreichung einer neuen europäischen Anmeldung für denselben Gegenstand mit dem Datum der vom unberechtigten Anmelder eingereichten früheren Anmeldung gestattet würde. Im Rahmen der vom Präsidenten befürworteten Regelung wäre der berechtigte Anmelder daher verpflichtet, seine Interessen zu schützen, indem er sich einen Überblick über alle einschlägigen anhängigen Anmeldungen verschafft, sobald diese nach Artikel 93 EPÜ veröffentlicht werden, um eine anhängige Anmeldung eines Nichtberechtigten für einen ihm zustehenden Gegenstand aufzuspüren; stößt er auf eine solche Anmeldung, müßte er unverzüglich Schritte im Sinne der Regeln 13 und 14 EPÜ unternehmen, um zu verhindern, daß sie zurückgenommen wird oder auf andere Weise untergeht. Der Präsident hat allerdings eingeräumt, daß eine solche Regelung zwangsläufig Ungerechtigkeiten mit sich bringen könnte, etwa wenn dem berechtigten Anmelder eine Erfindung unbemerkt gestohlen und eine vom unberechtigten Anmelder eingereichte europäische Anmeldung dann unmittelbar nach der Veröffentlichung zurückgenommen werde.

Entscheidungsgründe

1. Die vorgelegte Rechtsfrage betrifft die Auslegung des Artikels 61 (1) EPÜ, der die Verfahrensrechte einer Person, der der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen worden ist, gegenüber dem tatsächlichen Anmelder einer europäischen Patentanmeldung regelt. Artikel 61 EPÜ ist jedoch Teil eines im EPÜ vorgesehenen Rechtszugsystems zur Klärung eines strittigen Anspruchs auf eine europäische Patentanmeldung und zur Umsetzung der getroffenen Entscheidung. Die Bestimmungen des Artikels 61 EPÜ müssen in diesem Kontext und unter Berücksichtigung des Ziels und Zwecks dieses Systems ausgelegt werden. Daher gilt es zunächst einmal, die Konzeption des Systems und die Stellung, die Artikel 61 EPÜ darin einnimmt, zu prüfen, bevor der genaue Wortlaut dieses Artikels und der zu seiner Durchführung aufgestellten Regeln analysiert wird.

2. Nach Artikel 60 (1) EPÜ steht das Recht auf das europäische Patent dem Erfinder oder seinem Rechtsnachfolger zu. De jure ist somit nur der Erfinder (oder sein Rechtsnachfolger) berechtigt, beim EPA die Erteilung eines europäischen Patents zu beantragen, das vorbehaltlich der Prüfung der Anmeldung auf die Erfüllung der Patentierungs- und sonstigen Erfordernisse des EPÜ auch nur ihm erteilt werden darf. Artikel 58 EPÜ bestimmt jedoch, daß eine europäische Patentanmeldung von jeder natürlichen oder juristischen Person eingereicht werden kann, und in Artikel 60 (3) EPÜ heißt es: “Im Verfahren vor dem EPA gilt der Anmelder als berechtigt, das Recht auf das europäische Patent geltend zu machen.” De facto kann daher auch eine andere Person als der Erfinder oder sein Rechtsnachfolger trotz des Rechtsanspruchs des letzteren eine europäische Patentanmeldung für den möglicherweise erfinderischen Gegenstand einreichen, solange der Erfinder oder sein Rechtsnachfolger selbst noch kein europäisches Patent für diesen Gegenstand angemeldet hat.

3. Im Rahmen des europäischen Patentsystems ist das EPA nicht befugt, über einen Rechtsstreit zu entscheiden, in dem es darum geht, ob ein bestimmter Anmelder einen Rechtsanspruch auf Anmeldung und Erteilung eines europäischen Patents für den Gegenstand einer bestimmten Anmeldung hat. Wie solche Fragen vor der Patenterteilung zu klären sind, regelt das “Protokoll über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents” (das “Anerkennungsprotokoll”), das Bestandteil des EPÜ ist. Durch dieses Protokoll wird die Zuständigkeit für Klagen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents den Gerichten der Vertragsstaaten übertragen, eine systematische Regelung für die Bestimmung des nationalen Gerichts getroffen, das im Einzelfall über solche Klagen entscheidet, und die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über solche Klagen in den Vertragsstaaten des EPÜ festgeschrieben.

3.1 Nach Artikel 1 (1) des Anerkennungsprotokolls fallen Klagen gegen den Anmelder, mit denen der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents für einen oder mehrere der in der europäischen Patentanmeldung benannten Vertragsstaaten geltend gemacht wird, in die Zuständigkeit der Gerichte der Vertragsstaaten. Der Vertragsstaat, dessen Gerichte für eine bestimmte Klage des angeblich berechtigten Anmelders gegen den tatsächlichen Anmelder einer europäischen Patentanmeldung zuständig sind, wird im Einzelfall nach der Zuständigkeitsregelung in den Artikeln 2 bis 8 des Anerkennungsprotokolls ermittelt. Sie bestimmt jeweils nur die Gerichte eines einzigen Vertragsstaats zum Entscheidungsforum für eine solche Klage.

Wenn ein Gericht in einem Vertragsstaat eine rechtskräftige Entscheidung über den “Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents für einzelne oder alle in der europäischen Patentanmeldung benannten Vertragsstaaten” erlassen hat, wird diese Entscheidung nach Artikel 9 (1) des Anerkennungsprotokolls “in den anderen Vertragsstaaten anerkannt, ohne daß es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf”. In Artikel 9 (2) des Anerkennungsprotokolls heißt es weiter: “Die Zuständigkeit des Gerichts, dessen Entscheidung anerkannt werden soll, und die Gesetzmäßigkeit dieser Entscheidung dürfen nicht nachgeprüft werden.”

3.2 Nach Artikel 167 (2) EPÜ kann sich ein Vertragsstaat des EPÜ vorbehalten zu bestimmen, daß das Anerkennungsprotokoll für ihn nicht verbindlich sein soll. Gemäß Artikel 167 (3) EPÜ kann ein solcher Vorbehalt nur für einen befristeten Zeitraum wirksam sein. Artikel 1 (3) des Anerkennungsprotokolls bestimmt, daß als “Vertragsstaaten” im Sinne des Anerkennungsprotokolls nur die Vertragsstaaten zu verstehen sind, die die Anwendung des Anerkennungsprotokolls nach Artikel 167 EPÜ nicht ausgeschlossen haben.

3.3 Somit kann über eine Klage auf Zuerkennung des Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents nach den vorstehend angesprochenen Bestimmungen des Anerkennungsprotokolls nur vor einem Gericht des jeweils zuständigen Vertragsstaats entschieden werden. Dies ist das einzige Forum, wo der berechtigte Anmelder ein Verfahren zur Feststellung seines Anspruchs einleiten kann. Sobald eine rechtskräftige Entscheidung eines solchen nationalen Gerichts zugunsten des berechtigten Anmelders (B) gegen einen unberechtigten Anmelder (A) einer europäischen Patentanmeldung ergangen ist, muß diese Entscheidung in allen anderen durch das Anerkennungsprotokoll gebundenen Vertragsstaaten anerkannt werden. Nach dem Anerkennungsprotokoll tritt die Anerkennung vorbehaltlich seiner Artikel 10 und 11 (2) automatisch und von Rechts wegen ein.

3.4 Wenn ein nationales Gericht des zuständigen Vertragsstaats einen Einzelfall, in dem wegen des Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents Klage eingelegt wurde, nach dem Anerkennungsprotokoll entscheidet, wendet es im Rahmen seines eigenen Rechtssystems die für die Entscheidung des Falls maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften an, bei denen es sich nicht unbedingt um die nationalen Rechtsvorschriften seines eigenen Staates handeln muß. Ohne die Zuständigkeits- und Anerkennungsregelung des Anerkennungsprotokolls könnte ein einzelner Rechtsstreit darüber, wer Anspruch auf Anmeldung eines europäischen Patents hat, Gegenstand von Verfahren bei mehreren nationalen Gerichten sein und von diesen unterschiedlich entschieden werden. Dann hätte es das EPA im Zusammenhang mit der europäischen Anmeldung, um die es in diesen Verfahren ging, nicht mehr nur mit einem einzigen Anmelder (nämlich dem Berechtigten) zu tun.

Durch die vorstehend umrissenen Bestimmungen des Anerkennungsprotokolls werden solche Schwierigkeiten vermieden. Über eine Klage auf Zuerkennung des Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents entscheidet ein Gericht eines einzigen Vertragsstaats, dessen Entscheidung, wie immer sie ausfällt, in allen anderen durch das Anerkennungsprotokoll gebundenen Vertragsstaaten anerkannt wird. Diese im Anerkennungsprotokoll getroffene Zuständigkeitsregelung findet ihre Entsprechung in Artikel 61 EPÜ, der dafür sorgt, daß die Entscheidung, zu der das zuständige nationale Gericht in einem Rechtsstreit über den in Artikel 60 (1) EPÜ verankerten Rechtsanspruch gelangt ist, für die Zwecke des Erteilungsverfahrens vor dem EPA um- und durchgesetzt werden kann. Sobald der berechtigte Anmelder (B) vor dem EPA nach Artikel 61 EPÜ ein neues Verfahren eingeleitet hat, ist für das EPA in diesem neuen Verfahren der berechtigte und nicht mehr der unberechtigte Anmelder (A) der Ansprechpartner.

4. Damit kommt die Kammer zu dem konkreten Auslegungsproblem, das der zu klärenden Rechtsfrage zugrunde liegt; es geht dabei um den Fall, daß die von einem Nichtberechtigten eingereichte frühere europäische Anmeldung zu dem Zeitpunkt, zu dem der berechtigte Anmelder gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung einreicht, nicht mehr beim EPA anhängig ist (weil sie zurückgenommen oder zurückgewiesen wurde oder als zurückgenommen gilt). Die frühere Anmeldung kann erloschen sein, bevor oder nachdem der rechtmäßige Anmelder ein Verfahren vor einem nationalen Gericht eingeleitet hat, um seinen Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents geltend zu machen.

Die vorgelegte Rechtsfrage geht davon aus, daß “durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist” und betrifft einen Fall, in dem die frühere Anmeldung als zurückgenommen galt und daher beim EPA nicht mehr anhängig war, als der berechtigte Anmelder das Verfahren vor einem nationalen Gericht einleitete, das dann mit einer rechtskräftigen Entscheidung zu seinen Gunsten endete.

In einem solchen Fall stellt sich, wenn Artikel 61 EPÜ zur Anwendung kommen soll, die Frage, ob eine solche rechtskräftige Entscheidung eine Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ und insbesondere eine Entscheidung ist, die “aufgrund des Anerkennungsprotokolls anzuerkennen ist”, auch wenn das Verfahren, das zu ihr führte, zu einem Zeitpunkt eingeleitet wurde, da beim EPA keine Anmeldung mehr anhängig war.

4.1 Nach Artikel 1 (1) des Anerkennungsprotokolls sind für Klagen “gegen den Anmelder” einer europäischen Patentanmeldung, mit denen der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents geltend gemacht wird, die nationalen Gerichte zuständig. In seiner Stellungnahme zugunsten der Entscheidung der Eingangsstelle vertrat der Präsident die Ansicht, daß die Worte “gegen den Anmelder” in Artikel 1 (1) des Anerkennungsprotokolls im Sinne eines noch existenten Anmelders zu verstehen seien, den es nur im Falle einer anhängigen Anmeldung geben könne, so daß das Anerkennungsprotokoll nicht zur Anwendung komme, wenn die frühere Anmeldung des Nichtberechtigten nicht mehr anhängig sei.

4.2 Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer schließt der Wortlaut des Artikels 1 (1) des Anerkennungsprotokolls als Ganzes gelesen die Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Fällen, in denen die frühere Anmeldung des unberechtigten Anmelders nicht mehr anhängig ist, keineswegs aus, sondern ist durchaus geeignet, alle Fälle abzudecken, in denen eine frühere europäische Anmeldung von einem Nichtberechtigten eingereicht worden ist, wobei es keine Rolle spielt, ob sie noch anhängig ist.

4.3 Wenn das Anerkennungsprotokoll den nationalen Gerichten in Fällen, in denen die frühere Anmeldung eines unberechtigten Anmelders nicht mehr anhängig ist, die Zuständigkeit abspräche, hätte es ein solcher unberechtigter Anmelder de facto selbst in der Hand, die gegen ihn gerichtete Klage des berechtigten Anmelders der Zuständigkeit der nationalen Gerichte zu entziehen. Durch Zurücknahme seiner eigenen Anmeldung nach der Veröffentlichung könnte er den berechtigten Anmelder daran hindern, europäischen Patentschutz für seine Erfindung zu erlangen, und sich selbst auf diese Weise Handlungsfreiheit für die Nutzung der Erfindung verschaffen, die er sich widerrechtlich angeeignet hat. Bei einer solchen Auslegung des Anerkennungsprotokolls würde das im Anerkennungsprotokoll verankerte Rechtssystem eine derartige Manipulation des unrechtmäßigen Anmelders geradezu herausfordern. Die Große Beschwerdekammer ist der Meinung, daß diese Rechtslage vernunftwidrig und untragbar wäre und die Duldung einer solchen Manipulation bei der Abfassung des Anerkennungsprotokolls nicht gewollt gewesen sein kann.

4.4 Ist die veröffentlichte frühere Anmeldung des unberechtigten Anmelders nicht mehr anhängig, wenn vor einem nationalen Gericht Klage auf Zuerkennung des Anspruchs auf Erteilung eines europäischen Patents eingelegt wird, so besteht die Möglichkeit, daß die gerichtliche Feststellung des Anspruchs des berechtigten Anmelders auf die Erteilung Dritte ins Unrecht setzt, die den Gegenstand der früheren Anmeldung in der Annahme, er sei gemeinfrei und könne somit nicht Gegenstand eines europäischen Patents sein, kommerziell zu nutzen begonnen haben. Diese Möglichkeit einer Beeinträchtigung Dritter wird im allgemeinen um so größer, je mehr Zeit zwischen dem Untergang der früheren Anmeldung und der Entscheidung liegt, mit der ein nationales Gericht dem berechtigten Anmelder das Recht auf Erteilung zuspricht.

Inwieweit nationale Gerichte bei der Entscheidung über eine Klage gemäß Artikel 1 (1) des Anerkennungsprotokolls in Fällen, in denen die frühere Anmeldung bereits erloschen ist, einen etwaigen Verzug des berechtigten Anmelders bei der Einleitung und Abwicklung des Verfahrens zur Feststellung seines Anspruchs und die Möglichkeit einer Beeinträchtigung Dritter berücksichtigen, bleibt den Gerichten selbst überlassen.

5. Wie unter Nummer 3.4 erwähnt, kann der berechtigte Anmelder, dem ein nationales Gericht in einer rechtskräftigen Entscheidung den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zuerkannt hat, nach Artikel 61 EPÜ beim EPA im eigenen Namen ein Verfahren einleiten.

Die Bestimmungen des Artikels 61 EPÜ müssen eindeutig so ausgelegt werden, daß sie im Einklang mit der unter den Nummern 3 bis 3.4 erörterten Zuständigkeitsregelung stehen und ihrer Zielsetzung gerecht werden. Diese Regelung, der zufolge die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten obliegt, gewährleistet in Verbindung mit den Bestimmungen des Artikels 61 EPÜ und den zu ihrer Ausführung aufgestellten Regeln einen koordinierten Rechtszug, wenn es gilt, in Fällen, in denen ein unberechtigter Anmelder unter Mißachtung der in Artikel 60 (1) EPÜ verankerten Rechtsansprüche des Erfinders oder seines Rechtsnachfolgers ein europäisches Patent angemeldet hat, für Abhilfe zu sorgen. Es liefe diesem Rechtszug zuwider, wenn der berechtigte Anmelder, dem das nach dem Anerkennungsprotokoll zuständige nationale Gericht in einer rechtskräftigen Entscheidung den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen hat, danach das zentralisierte Verfahren gemäß Artikel 61 (1) EPÜ nicht in Anspruch nehmen könnte.

5.1 Nach Artikel 61 (1) EPÜ kann der rechtmäßige Anmelder (“eine in Artikel 60 Absatz 1 genannte Person, die nicht der Anmelder ist”) innerhalb von drei Monaten nach einer solchen rechtskräftigen Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichts, “sofern das europäische Patent noch nicht erteilt worden ist”, im Hinblick auf die frühere Anmeldung des Nichtberechtigten

“a) die europäische Patentanmeldung an Stelle des Anmelders als eigene Anmeldung weiterverfolgen,

b) eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreichen oder

c) beantragen, daß die Anmeldung zurückgewiesen wird.”

5.2 Im folgenden wird dargelegt, weshalb die Anwendung des Artikels 61 EPÜ bei richtiger Auslegung seines Wortlauts in Fällen nicht ausgeschlossen ist, in denen die frühere Anmeldung des unberechtigten Anmelders bereits untergegangen ist, wenn der berechtigte Anmelder nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue Anmeldung einreicht.

5.3 Die Argumentation, die unter Nummer 4.2 im Zusammenhang mit dem Anerkennungsprotokoll entwickelt wurde, gilt gleichermaßen für den in Artikel 61 (1) EPÜ enthaltenen Verweis auf den “Anmelder”, der nicht zwangsläufig so zu verstehen ist, daß ein noch existenter Anmelder und damit eine anhängige Anmeldung Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 61 EPÜ wären.

Auch der Konditionalsatz “sofern das europäische Patent noch nicht erteilt worden ist” in Artikel 61 (1) EPÜ, der eine Vorbedingung für die Anwendung des Artikels 61 EPÜ darstellt, bedeutet nicht unbedingt, daß die Anmeldung noch anhängig sein muß. Dieser Satz ist wohl vielmehr so auszulegen, daß Artikel 61 EPÜ nur dann anwendbar ist, wenn mit einer rechtskräftigen Entscheidung ein Rechtsstreit über den Anspruch auf eine europäische Anmeldung – im Gegensatz zu einem erteilten europäischen Patent – beendet wird. Diese Auslegung wird durch die Aussage der Buchstaben a bis c des Artikels 61 (1) EPÜ bestätigt, die sicherstellen, daß das EPA nach den entsprechenden Schritten des berechtigten Anmelders den Verfahrensabschnitt vor Erlaß einer Entscheidung auf Erteilung eines Patents oder auf Zurückweisung der Anmeldung bis hin zur Entscheidung selbst kontrolliert.

Der Wortlaut des Artikels 61 (1) EPÜ als Ganzes enthält somit nichts, was besagen würde, daß noch eine Anmeldung anhängig sein muß, wenn der berechtigte Anmelder nach Artikel 61 (1) b) EPÜ tätig wird.

5.4 In Artikel 61 (2) EPÜ heißt es dann, daß Artikel 76 (1) EPÜ (der europäische Teilanmeldungen betrifft) auf eine vom berechtigten Anmelder nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eingereichte neue europäische Anmeldung entsprechend anzuwenden ist. Demgemäß gilt die neue Anmeldung, die auf die frühere Anmeldung des Nichtberechtigten folgt, “als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt deren Prioritätsrecht”, sofern sie nur für einen Gegenstand eingereicht wird, “der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht”. Aus dieser Bestimmung folgt, daß der Inhalt der früheren Anmeldung nicht zu dem für die neue Anmeldung maßgeblichen Stand der Technik gemäß Artikel 54 (1) EPÜ zählt, solange die neue Anmeldung keinen über die frühere Anmeldung hinausgehenden Gegenstand aufweist.

Somit schreibt auch Artikel 76 (1) EPÜ nicht vor, daß zum Zeitpunkt der Einreichung einer neuen Anmeldung durch den Berechtigten gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ noch eine Anmeldung anhängig sein muß.

5.5 An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich der Verweis in Artikel 61 (2) EPÜ nur auf Absatz 1 des Artikels 76 EPÜ bezieht und somit eng begrenzt ist.

Artikel 61 (2) EPÜ verweist insbesondere nicht auf Artikel 76 (2) EPÜ, wonach in einer europäischen Teilanmeldung “nur Vertragsstaaten benannt werden (dürfen), die in der früheren Anmeldung benannt worden sind”.

Das Fehlen eines Verweises auf Artikel 76 (2) EPÜ dürfte seinen Grund darin haben, daß der berechtigte Anmelder, der nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue Anmeldung einreicht, darin nur diejenigen in der (früheren) europäischen Anmeldung benannten Vertragsstaaten benennen kann, “in denen die Entscheidung ergangen oder anerkannt worden ist oder aufgrund des diesem Übereinkommen beigefügten Anerkennungsprotokolls anzuerkennen ist” (s. Art. 61 (1) EPÜ). Das ist aber eine ganz andere Überlegung.

Ebensowenig wird in Artikel 61 (2) EPÜ auf Artikel 76 (3) EPÜ Bezug genommen, der das Verfahren bei der Einreichung einer Teilanmeldung nach Artikel 76 (1) EPÜ, die für eine solche Anmeldung geltenden besonderen Erfordernisse und die Frist zur Zahlung der Anmeldegebühr, der Recherchengebühr und der Benennungsgebühren betrifft und diesbezüglich auf die Ausführungsordnung verweist.

Auch hier scheint es einen triftigen Grund zu geben, weshalb in Artikel 61 (2) EPÜ eine Bezugnahme auf Artikel 76 (3) EPÜ fehlt: Artikel 61 (3) EPÜ enthält nämlich selbst entsprechende Bestimmungen darüber, wie vorzugehen ist, wenn der berechtigte Anmelder nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue Anmeldung einreicht, und stellt auf diese Weise klar, daß die Vorschriften des Artikels 76 (3) EPÜ auf eine solche neue Anmeldung nach Artikel 61 (1) b) EPÜ nicht anwendbar sind.

5.6 Auch Artikel 61 (3) EPÜ verweist bezüglich des Verfahrens, der besonderen Erfordernisse und der Frist zur Zahlung der vorgeschriebenen Gebühren für eine nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eingereichte neue Anmeldung auf die Ausführungsordnung.

Die Ausführungsvorschriften zum zweiten Teil des EPÜ (Artikel 52 bis 74) sind in den Regeln 13 bis 23, diejenigen zum dritten Teil (Artikel 75 bis 89) in den Regeln 24 bis 38 enthalten. Mithin sind die Ausführungsvorschriften zu den Artikeln 60 und 61 EPÜ in den Regeln 13 bis 16 (diejenigen zu Artikel 61 insbesondere in den Regeln 15 und 16) zu finden, während dem Artikel 76 EPÜ nur Regel 25 zugeordnet ist. Regel 25 ist keinesfalls eine Ausführungsvorschrift zu Artikel 61 (3) EPÜ.

Regel 25 EPÜ besagt in der jetzigen Fassung, daß “der Anmelder … eine Teilanmeldung zu der anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung einreichen” kann. Dies bedeutet lediglich, daß die Existenz einer anhängigen Anmeldung ein besonderes Erfordernis für die Einreichung einer europäischen Teilanmeldung ist, nicht aber, daß die Einreichung einer neuen Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ an die Existenz einer anhängigen früheren Anmeldung (des unberechtigten Anmelders) gebunden ist.

Besonderes Augenmerk verdient die Regel 15 (1) EPÜ, die für den Fall, daß die frühere Anmeldung (des unberechtigten Anmelders) noch anhängig ist, wenn nach Artikel 61 (1) b) EPÜ (vom Berechtigten) eine neue Anmeldung eingereicht wird, bestimmt, daß die frühere Anmeldung “mit dem Tag der Einreichung der neuen europäischen Patentanmeldung als zurückgenommen” gilt. Eine solche Bestimmung wäre natürlich bei einer Stammanmeldung, der eine Teilanmeldung folgt, völlig fehl am Platze; dies erhärtet den vorstehenden Schluß, daß die Ausführungsvorschriften zu Artikel 61 EPÜ in den Regeln 15 und 16 EPÜ (und nicht in Regel 25) enthalten sind, während sich diejenigen zu Artikel 76 EPÜ in Regel 25 EPÜ finden.

5.7 Bei den Regeln 13 und 14 handelt es sich um Ausführungsvorschriften zu Artikel 60 EPÜ. Sie gehen davon aus, daß die frühere Anmeldung (des unberechtigten Anmelders) noch anhängig ist, wenn die Person, die der berechtigte Anmelder zu sein behauptet, bei einem nationalen Gericht eines Vertragsstaats ein Verfahren einleitet, in dem sie ihren Anspruch auf die Erteilung geltend macht, und sollen bei ebendiesem Sachverhalt zur Anwendung kommen.

Nach Auffassung der Beschwerdekammer besagt dies jedoch nicht, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem der berechtigte Anmelder ein Verfahren bei einem nationalen Gericht einleitet oder später nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue Anmeldung einreicht, eine anhängige frühere Anmeldung existieren muß. Die Regeln 13 und 14 EPÜ sind wie alle Ausführungsvorschriften gemäß Artikel 164 (2) EPÜ den Artikeln des EPÜ untergeordnet. Sie gelten für Fälle, in denen die frühere Anmeldung noch anhängig ist, wenn der berechtigte Anmelder ein Verfahren bei einem nationalen Gericht einleitet, sind aber nicht für Fälle gedacht oder geeignet, in denen die frühere Anmeldung bei Einleitung eines solchen Verfahrens schon untergegangen ist. Damit ist die Wirkung der Regeln 13 und 14 EPÜ bereits erschöpft.

Regel 15 (1) EPÜ setzt voraus, daß die frühere europäische Anmeldung noch anhängig ist, wenn der rechtmäßige Anmelder nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue Anmeldung einreicht, und ist daher in Fällen, in denen es zu diesem Zeitpunkt keine anhängige Anmeldung mehr gibt, ähnlich unzutreffend und unmaßgeblich. Regel 15 (2) und (3) EPÜ ist dagegen ebenso wie Regel 16 EPÜ eindeutig anwendbar, und zwar unabhängig davon, ob zu diesem Zeitpunkt noch eine Anmeldung anhängig ist.

Die Große Beschwerdekammer sieht im Wortlaut der Regeln 13 bis 16 EPÜ deshalb keinen Beleg dafür, daß Artikel 61 (1) b) EPÜ nur dann anwendbar ist, wenn die frühere Anmeldung (des Nichtberechtigten) zum Zeitpunkt der Einreichung der neuen Anmeldung noch anhängig ist.

5.8 In Anbetracht der Ausführungen unter den Nummern 5.3 bis 5.7 sowie der Aussage unter Nummer 5 muß Artikel 61 EPÜ nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer dahingehend ausgelegt werden, daß in Fällen, in denen die frühere Anmeldung (des unberechtigten Anmelders) nicht mehr anhängig ist, wenn ein nationales Gericht der Person, die der berechtigte Anmelder zu sein behauptet, in einer rechtskräftigen Entscheidung den Anspruch auf Erteilung zuerkennt, Artikel 61 (1) a) und c) zwar ganz offensichtlich nicht zur Anwendung kommt, Artikel 61 (1) b) EPÜ hingegen sehr wohl, so daß der berechtigte Anmelder beim EPA eine neue Anmeldung für die betreffende Erfindung einreichen und weiterverfolgen kann.

6. Wenn nun die frühere Anmeldung des unberechtigten Anmelders nach der Veröffentlichung untergegangen ist, kann es, wie schon unter Nummer 4.4 angesprochen, vorkommen, daß ein Dritter eine kommerzielle Tätigkeit aufgenommen hat, die sich auf den Gegenstand dieser früheren Anmeldung erstreckt, weil er davon ausging, daß dieser Gegenstand gemeinfrei geworden war und danach nicht mehr durch ein europäisches Patent geschützt werden konnte. Die Tätigkeit dieses Dritten könnte dann durch die spätere Einreichung einer neuen Anmeldung nach Artikel 61 (1) b) EPÜ (mit dem Anmeldetag der früheren Anmeldung als wirksamem Anmeldetag) möglicherweise beeinträchtigt werden. Wenn der berechtigte Anmelder nach der Erteilung eines europäischen Patents gegen einen solchen Dritten ein Verletzungsverfahren einleiten würde, könnte das mit der Verletzungsklage befaßte nationale Gericht bei seiner Entscheidung jedoch den besonderen Umständen Rechnung tragen, unter denen es zu der vermeintlich patentverletzenden Tätigkeit gekommen ist.

7. Hinzuzufügen wäre noch, daß der in Artikel 61 EPÜ verankerte Rechtsbehelf für den berechtigten Anmelder, dessen Erfindung ein Nichtberechtigter unter Mißbrauch des Vertrauens in seinem eigenem Namen zum europäischen Patent angemeldet hat, rechtlich ganz anders konzipiert ist als der Schutz, den der berechtigte Anmelder nach Artikel 55 (1) a) EPÜ genießt, wenn seine Erfindung unter Mißbrauch seines Vertrauens offengelegt worden ist. Nach Artikel 55 (1) a) EPÜ wird eine Offenbarung, die unmittelbar oder mittelbar auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers zurückgeht, nicht dem Stand der Technik am Anmeldetag einer europäischen Anmeldung des berechtigten Anmelders zugerechnet und bleibt für die Anwendung des Artikels 54 EPÜ außer Betracht, sofern sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der europäischen Anmeldung des berechtigten Anmelders erfolgte. Der Schutz, der dem berechtigten Anmelder gemäß Artikel 55 EPÜ nach einer auf einen offensichtlichen Mißbrauch zurückgehenden Offenbarung zusteht, erstreckt sich also nur auf eine Zeitspanne von sechs Monaten nach einer solchen Offenbarung, während der ihm durch Artikel 61 EPÜ gewährte Schutz (unabhängig davon, ob die frühere europäische Patentanmeldung des unberechtigten Anmelders noch anhängig ist) keiner zeitlichen Beschränkung unterliegt. Allerdings sorgt die durch Artikel 61 EPÜ und das Anerkennungsprotokoll geschaffene Regelung, wie bereits unter den Nummern 4.4 und 6 erörtert, dafür, daß der Auswirkung des Zeitablaufs auf die Rechtsansprüche des berechtigten Anmelders in Fällen, in denen die vom Nichtberechtigten eingereichte frühere europäische Anmeldung beim EPA untergeht, gebührend Rechnung getragen wird.

8.1 Eine Minderheit der Mitglieder der Großen Beschwerdekammer vertritt aus folgenden Gründen eine andere Auffassung:

Nach Artikel 1 EPÜ ist ein den Vertragsstaaten gemeinsames Recht für die Erteilung von Erfindungspatenten geschaffen worden. Zu diesem Zweck ist es Aufgabe des EPA, Patentanmeldungen darauf zu prüfen, ob ein Patent erteilt werden kann (vgl. Artikel 18 und 94 EPÜ). Eine Prüfung setzt eine rechtswirksam anhängige Anmeldung voraus. Ist eine Patentanmeldung nicht oder noch nicht eingereicht, kann ein Patent nicht erteilt werden. Ebensowenig ist eine Patenterteilung möglich, wenn zwar eine Anmeldung eingereicht war, aber inzwischen wieder untergegangen ist.

Das EPÜ sieht weder die Inanspruchnahme des Anmeldetags einer erloschenen Anmeldung noch die Inanspruchnahme des Prioritätstages nach Ablauf des Prioritätsjahres vor. Wäre von diesem Grundsatz eine Ausnahme für die neue Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ gewollt gewesen, so hätte es einer entsprechenden Regelung für die neue Anmeldung in Artikel 61 (1) b) EPÜ bedurft. Das ist aber nicht geschehen, so daß auch für die neue Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ der allgemeine Grundsatz gilt, daß für eine Anmeldung nicht der Anmeldetag und außerhalb des Prioritätsjahres nicht der Prioritätstag einer vor ihrer Einreichung bereits erloschenen Anmeldung beansprucht werden kann. Daraus folgt, daß im Fall des Artikels 61 (1) b) EPÜ die frühere Anmeldung im Zeitpunkt der Einreichung der neuen Anmeldung noch anhängig sein muß, wenn der Einreicher der neuen Anmeldung den Anmeldetag oder nach Ablauf des Prioritätsjahres den Prioritätstag der früheren Anmeldung für seine Anmeldung in Anspruch nehmen will.

8.2 Reicht die Person, der der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen worden ist, gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine europäische Patentanmeldung ein, und ist die frühere Anmeldung des unrechtmäßigen Anmelders noch anhängig, so gilt nach Artikel 61 (2) in Verbindung mit Artikel 76 (1) EPÜ die Anmeldung des Verletzten als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht, und der Verletzte genießt deren Prioritätsrecht.

Reicht dagegen der Verletzte seine Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ ein, und ist die frühere Anmeldung des unrechtmäßigen Anmelders im Zeitpunkt der Einreichung der neuen Anmeldung nicht mehr anhängig, so kann der Verletzte den Anmelde- und Prioritätstag der bereits erloschenen früheren Anmeldung nicht mehr beanspruchen. Das ergibt sich aus Artikel 61 (2) EPÜ, der bestimmt, daß auf eine neue europäische Patentanmeldung, die gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eingereicht wurde, Artikel 76 (1) EPÜ entsprechend anzuwenden ist. Das bedeutet, daß die Bestimmungen des Artikels 76 (1) EPÜ über Teilanmeldungen auch auf die neue Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ anzuwenden sind.

Teilanmeldungen können aber nur eingereicht werden, wenn die Stammanmeldung noch anhängig ist. Das sagt zwar Artikel 76 (1) EPÜ nicht ausdrücklich, es folgt aber zwingend aus dem Begriff der Teilanmeldung, denn nur etwas Vorhandenes (= Stammanmeldung) kann man teilen. Daher setzt die Einreichung einer Teilanmeldung begrifflich die Anhängigkeit der Stammanmeldung voraus. Das ist für die Teilung von Patentanmeldungen im übrigen auch allgemein anerkannter Grundsatz, wie sich z. B. aus Artikel 4 G PVÜ ergibt. Regel 25 (1) EPÜ wiederholt diesen Grundsatz, wenn dem Anmelder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das Recht eingeräumt wird, “eine Teilanmeldung zu der anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung einzureichen”. Die Voraussetzung der Anhängigkeit der früheren Anmeldung gilt somit Kraft der Verweisung in Artikel 61 (2) auf Artikel 76 (1) EPÜ auch für die neue Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ. Auch sie kann – wie die Teilanmeldung – nur wirksam eingereicht werden, wenn die frühere Anmeldung noch anhängig ist.

8.3 Das Erfordernis, daß gemäß Artikel 61 (2) in Verbindung mit Artikel 76 (1) EPÜ die frühere Anmeldung im Zeitpunkt der Einreichung der neuen Anmeldung noch anhängig sein muß, wird auch durch die Regelung in Artikel 61 (1) EPÜ bestätigt.

Nach Artikel 61 (1) b) EPÜ kann die Person, der durch rechtskräftige Entscheidung der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen worden ist, innerhalb einer 3- Monats-Frist eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreichen, “sofern das europäische Patent noch nicht erteilt worden ist”.

Durch diese Regelung ist zunächst einmal klargestellt, daß Artikel 61 (1) EPÜ keine Anwendung findet, wenn das europäische Patent bereits erteilt worden ist. Durch die Hervorhebung, daß das europäische Patent “noch nicht” erteilt sein darf, wird ferner klargestellt, daß eine verfahrensrechtliche Situation vor Patenterteilung vorliegen muß. Daraus folgt, daß eine Patenterteilung rein verfahrensrechtlich noch möglich sein muß. Ist prozessual eine Patenterteilung ausgeschlossen, weil entweder eine Anmeldung gar nicht eingereicht wurde oder weil eine eingereichte Anmeldung inzwischen erloschen ist, so ist die gesetzliche Voraussetzung des Artikels 61 (1) EPÜ nicht erfüllt, daß das europäische Patent “noch nicht” erteilt ist. Für eine – gleich aus welchem Grund – untergegangene Anmeldung kann man nicht davon sprechen, daß die Patenterteilung “noch nicht” erfolgt sei. Das Wort “noch” in Artikel 61 (1) EPÜ impliziert logischerweise, daß eine Patenterteilung noch in Betracht kommen kann. Diese Voraussetzung ist aber nur erfüllt, wenn die europäische Patentanmeldung, für die das europäische Patent noch nicht erteilt worden ist, noch anhängig ist.

Sowohl aus Artikel 61 (2) in Verbindung mit Artikel 76 (1) EPÜ wie aus Artikel 61 (1) EPÜ folgt somit, daß eine neue europäische Patentanmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ nur eingereicht werden kann, wenn die frühere Anmeldung noch anhängig ist.

8.4 Die in Artikel 61 EPÜ vom Gesetzgeber vorgesehene Regelung ist auch eine wohl abgewogene und gerechte Lösung einer Konfliktsituation. Es mußte ein billiger Ausgleich gefunden werden zwischen den Interessen des wahren Inhabers einer Erfindung, die durch einen Nichtberechtigten angemeldet wurde, auf der einen Seite und den Interessen der Öffentlichkeit, die sich darauf verlassen können muß, daß untergegangene europäische Anmeldungen nicht unbefristet vom EPA wieder zum Leben erweckt werden, auf der anderen Seite. Den Ausgleich zwischen diesen gegenläufigen Interessen hat der Gesetzgeber in Artikel 61 (1) EPÜ dadurch gefunden, daß er dem wahren Berechtigten das Recht einräumte, eine existierende fremde Anmeldung in seinem Namen weiterzuführen, sei es, daß er nach Artikel 61 (1) a) EPÜ einfach an die Stelle des früheren Anmelders tritt, sei es, daß er nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung mit seinen eigenen Worten formuliert. Durch diese gesetzliche Regelung erhält der wahre Berechtigte ein eingeschränktes Recht zur Weiterführung einer fremden Anmeldung, während die Interessen der Öffentlichkeit gewahrt werden, nicht durch die Patenterteilung auf Anmeldungen überrascht zu werden, die längst untergegangen waren.

8.5 Auch die Ausführungsvorschriften in Kapitel I des zweiten Teiles der Ausführungsordnung, die das Verfahren bei mangelnder Berechtigung des Anmelders oder Patentinhabers regeln, gehen alle davon aus, daß die frühere Anmeldung des unberechtigten Anmelders im Zeitpunkt der Einreichung der neuen Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ noch anhängig ist.

Dem kommt besondere Bedeutung zu, weil die Regelung in der Ausführungsordnung vom gleichen Gesetzgeber wie Artikel 61 EPÜ, nämlich der Münchner Diplomatischen Konferenz, stammt und somit eine hohe Autorität für die Interpretation des Artikels 61 EPÜ genießt.

So wird nach Regel 13 EPÜ das anhängige Erteilungsverfahren für den unberechtigten Anmelder vom EPA bereits ausgesetzt, wenn der Dritte dem EPA nachweist, daß er ein Verfahren gegen den unberechtigten Anmelder eingeleitet hat. Ergeht eine rechtskräftige Entscheidung, so teilt das EPA dem unberechtigten Anmelder mit, daß das Erteilungsverfahren ab einem bestimmten Tag fortgesetzt wird, es sei denn, daß eine neue europäische Patentanmeldung nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eingereicht worden ist. In diesem Fall gilt die frühere, noch anhängige Anmeldung des unberechtigten Anmelders nach Regel 15 (1) EPÜ als zurückgenommen.

Auch hat die Münchner Diplomatische Konferenz Vorsorge getroffen, daß der unberechtigte Anmelder nicht durch Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung die Rechte des wahren Berechtigten beeinträchtigen kann. Regel 14 EPÜ sieht unter den dort genannten Voraussetzungen ausdrücklich vor, daß der unberechtigte Anmelder weder die europäische Patentanmeldung noch die Benennung eines Vertragsstaates zurücknehmen kann.

Alle zur Durchführung des Artikels 61 EPÜ getroffenen Regelungen der Ausführungsordnung in den Regeln 14 bis 16 EPÜ bestätigen somit die in Artikel 61 (1) und (2) EPÜ getroffene Entscheidung, daß die Voraussetzung für die Wirksamkeit der Einreichung einer neuen Anmeldung im Sinne des Artikels 61 (1) b) EPÜ die Anhängigkeit der früheren Anmeldung des unberechtigten Anmelders ist. Kaum ein Artikel des EPÜ hat in der Ausführungsordnung durch die Münchner Diplomatische Konferenz eine so ausführliche Regelung im Detail erfahren wie der Artikel 61 EPÜ. Artikel 61 EPÜ in Verbindung mit den Regeln 13 bis 16 EPÜ stellt ein in sich geschlossenes, logisches System dar, das alle Aspekte des Verfahrens mangelnder Berechtigung des Anmelders abschließend behandelt. Auch diese Gesamtregelung bestätigt eindeutig, daß die Einreichung einer neuen Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ die Anhängigkeit der früheren Anmeldung zur Voraussetzung hat.

8.6 Auch die vorbereitenden Arbeiten zur Schaffung eines Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente zeigen mit hinreichender Deutlichkeit, daß Artikel 61 (1) b) EPÜ die Anhängigkeit der früheren Anmeldung voraussetzt.

Die Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Erteilungsverfahrens diskutierte auf der 10. Sitzung vom 22. bis 26. November 1971 in Luxemburg (Dokument BP/144/71 vom 16. Dezember 1971) vier Modelle zur Regelung des Rechts auf Erlangung des europäischen Patents. Nach eingehenden Beratungen entschied man sich für eine Lösung, die nunmehr in Artikel 61 (1) b) EPÜ enthalten ist. Diese Lösung wird in dem zitierten Dokument wie folgt definiert: Ist zugunsten des wahren Berechtigten eine rechtskräftige Entscheidung ergangen, so kann dieser eine neue Anmeldung einreichen und sich dabei auf den Anmeldetag oder den Prioritätstag der früheren Anmeldung berufen. Die frühere Anmeldung gilt für alle benannten Vertragsstaaten, in denen die Entscheidung ergangen oder anerkannt worden ist, mit dem Zeitpunkt der neuen Anmeldung als zurückgenommen. Für die übrigen Staaten kann der erste Anmelder die frühere Anmeldung aufrechterhalten und das Erteilungsverfahren fortsetzen (vgl. Nr. 41 des Dokuments BP/144/71). Es wird betont, daß der wahre Berechtigte anstelle der ursprünglichen Anmeldung eine neue Anmeldung einreichen kann. Dann erhielte die neue Anmeldung, soweit sie keine neuen Bestandteile enthält, denselben Anmelde- und Prioritätstag wie die ursprüngliche Anmeldung. Gleichzeitig würde die ursprüngliche Anmeldung für die benannten Staaten, in denen die Entscheidung ergangen ist oder anerkannt wird, als zurückgenommen gelten (vgl. Nr. 47 des Dokuments BP/144/71).

8.7 Wollte man die Inanspruchnahme des Anmelde- und Prioritätstags einer längst untergegangenen Anmeldung für die neue Anmeldung zulassen, so würde das zu unvertretbaren Beeinträchtigungen Dritter führen.

Dann könnte nämlich die neue Anmeldung noch nach Jahr und Tag nach Erlöschen der früheren Anmeldung wirksam eingereicht werden. Dritte, die in der Zeit zwischen Erlöschen der früheren Anmeldung und Einreichung der neuen Anmeldung den Gegenstand der Anmeldung in Benutzung genommen haben, würden dadurch nachträglich zu Verletzern. Dem wären die Dritten schutzlos ausgesetzt, denn anders als Artikel 122 (6) EPÜ räumt Artikel 61 EPÜ Dritten kein Weiterbenutzungsrecht ein. Das Fehlen einer dem Artikel 122 (6) EPÜ entsprechenden Regelung ist auch ganz erklärlich, weil es eines solchen Weiterbenutzungsrechts nicht bedarf, da der Gesetzgeber von einer nahtlosen Fortsetzung der früheren Anmeldung durch die neue Anmeldung ausging und die Möglichkeit der Einreichung einer neuen Anmeldung für eine nicht mehr anhängige frühere Anmeldung gar nicht ins Auge faßte.

Hätte der Gesetzgeber eine solche Möglichkeit für zulässig gehalten, so hätte er mit Sicherheit Dritte geschützt, deren Rechte durch das nachträgliche Wiederaufleben einer toten Anmeldung berührt werden; denn Dritte, die nach dem Erlöschen der früheren Anmeldung deren Erfindung in Benutzung genommen haben, durften darauf vertrauen, daß ein Schutzrecht für diese Erfindung nicht erteilt wird. Von dem Tage der Veröffentlichung gemäß Regel 92 (1) n) EPÜ, also der Eintragung des Tages, an dem die europäische Patentanmeldung zurückgewiesen oder zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt, darf jeder Dritte die Erfindung einer anhängig gewesenen Patentanmeldung benutzen, ohne befürchten zu müssen, auf Unterlassung oder Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden. Auf diese gesetzlich vorgeschriebene Eintragung im Patentregister durch das EPA darf sich die Öffentlichkeit verlassen.

Die einzige Ausnahme für ein nachträgliches Wiederaufleben einer toten Anmeldung sieht das Übereinkommen in Artikel 122 EPÜ durch die Gewährung von Wiedereinsetzung in durch Fristversäumung verlorengegangene Rechte vor. Diese Möglichkeit ist aber nicht nur an sehr strenge Voraussetzungen, insbesondere die Beobachtung aller nach den Umständen gebotenen Sorgfalt, geknüpft, sondern auch durch Antragsfrist und Ausschlußfrist eng begrenzt. Außerdem werden Dritte, die in der Zeit zwischen Erlöschen der Anmeldung und Eintragung des Tages der Wiedereinsetzung in das europäische Patentregister gemäß Regel 92 (1) u) EPÜ die Erfindung in Benutzung genommen haben, durch ein gesetzliches Weiterbenutzungsrecht geschützt, so daß sie in ihrem Vertrauen auf die Eintragung des Erlöschens der Anmeldung im Patentregister nicht enttäuscht werden.

Eine vergleichbare Regelung müßte zum Schutz Dritter in Artikel 61 EPÜ vorgesehen werden, wenn die Einreichung der neuen Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ unabhängig von der Anhängigkeit der früheren Anmeldung möglich sein sollte. Es müßte insbesondere ein Weiterbenutzungsrecht zum Schutze Dritter vorgesehen werden, und es müßte zur Unterrichtung der Öffentlichkeit die Eintragung des Tages des Wiederauflebens der toten früheren Anmeldung infolge Einreichung der neuen Anmeldung in das Patentregister geregelt werden.

Zu einer derartigen gravierenden Änderung des EPÜ und seiner Ausführungsordnung ist aber die Rechtsprechung nicht befugt, da eine solche Änderung den Rahmen einer richterlichen Entscheidung sprengt und einer Revision der Regelung der Anmeldung europäischer Patente durch Nichtberechtigte gleichkommt, die nach Artikel 172 EPÜ der Konferenz der Vertragsstaaten vorbehalten ist.

Infolgedessen führt die Annahme, daß die Einreichung einer neuen Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ auch noch zulässig sein soll, wenn die frühere Anmeldung längst nicht mehr existiert, zu einer Beeinträchtigung schutzwürdiger Interessen Dritter, die im Interesse der Rechtssicherheit nicht hingenommen werden kann.

Die nachteiligen Folgen für Dritte können auch die Vertragsstaaten in etwaigen Verletzungsprozessen zwischen dem Inhaber eines Patents, das aufgrund einer neuen Anmeldung erteilt wurde, und einem Dritten, der die Erfindung zwischen Erlöschen der früheren und Einreichung der neuen Anmeldung in Benutzung genommen hat, nicht beseitigen. Das nationale Recht vieler Vertragsstaaten kennt das Institut des Vorbenutzungsrechts, das jedoch in den einzelnen Vertragsstaaten eine derartig unterschiedliche Ausgestaltung erfahren hat, daß Bemühungen, dieses Recht im europäischen Bereich zu vereinheitlichen, bislang ohne Erfolg geblieben sind. Aus diesem Grund konnte trotz langjähriger Bemühungen bisher keine Lösung entsprechend der Entschließung über Vorbenutzung oder Vorbesitz zum Gemeinschaftspatentübereinkommen gefunden werden.

Aber auch wenn man einmal die völlig unterschiedliche Regelung des Vorbenutzungsrechts in den Vertragsstaaten außer acht läßt, wäre dieses Recht gar nicht in der Lage, das Problem des Schutzes Dritter zu lösen. Den meisten nationalstaatlichen Regelungen ist nämlich gemeinsam, daß die Benutzung des Dritten vor dem Anmelde- oder Prioritätstag begonnen haben muß. Anmelde- oder Prioritätstag der neuen Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ ist aber gemäß Artikel 61 (2) in Verbindung mit Artikel 76 (1) EPÜ der Anmelde- oder Prioritätstag der früheren Anmeldung. Ist aber die Benutzung erst nach diesem Tag, nämlich nach Veröffentlichung des Erlöschens der früheren Anmeldung im Europäischen Patentblatt begonnen worden, kann sich ein Dritter auf ein nationales Vorbenutzungsrecht gegenüber dem europäischen Patent nicht berufen, eben weil es sich um ein Vor- und nicht um ein Zwischenbenutzungsrecht handelt.

8.8 Auch dem Anerkennungsprotokoll über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents kann nicht entnommen werden, daß die neue Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ noch eingereicht werden könnte, wenn die frühere Anmeldung im Zeitpunkt ihrer Einreichung nicht mehr anhängig ist. Das Anerkennungsprotokoll regelt lediglich die Zuständigkeit der Gerichte für Klagen gegen Anmelder, mit denen ein Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents geltend gemacht wird, sowie die Anerkennung der in einem Vertragsstaat ergangenen rechtskräftigen Entscheidung in den anderen Vertragsstaaten. Mit diesen Fragen ist die Große Beschwerdekammer durch die Vorlageentscheidung nicht befaßt. Die vorlegende Kammer hat nämlich selbst entschieden, daß der Comptroller zum Erlaß einer Entscheidung über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zuständig war. Die Anerkennung dieser Entscheidung in den anderen benannten Vertragsstaaten ist nach der Entscheidung der vorlegenden Kammer nicht zweifelhaft. Daher wurden diese Fragen der Großen Beschwerdekammer auch nicht zur Entscheidung vorgelegt. Für die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage läßt sich somit aus dem Anerkennungsprotokoll nichts entnehmen, da das Anerkennungsprotokoll diese Frage nicht regelt.

8.9 Aus diesen Gründen wird die Auffassung vertreten, daß nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung unter Inanspruchnahme des Anmelde- und Prioritätstages der früheren Anmeldung des unberechtigten Anmelders nur dann eingereicht werden kann, wenn zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die frühere Anmeldung noch anhängig ist.

9. Die Mehrheit der Mitglieder der Großen Beschwerdekammer hält nach sorgfältiger Prüfung dieser Minderheitsmeinung an ihrer unter den Nummern 1 bis 7 dargelegten Rechtsauffassung fest.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Wenn durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist und diese andere Person unter Einhaltung der ausdrücklichen Erfordernisse des Artikels 61 (1) EPÜ gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreicht, ist die Zulassung dieser neuen Anmeldung nicht daran gebunden, daß zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die frühere, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist.