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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2000:T024195.20000614
Datum der Entscheidung: 14 Juni 2000
Aktenzeichen: T 0241/95
Anmeldenummer: 91302599.5
IPC-Klasse: A61K 31/135
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: ELI LILLY AND COMPANY
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: I. Die selektive Belegung eines Rezeptors als solche kann nicht als therapeutische Anwendung angesehen werden; die Entdeckung, daß ein Stoff selektiv an einen Rezeptor bindet, stellt zwar einen wichtigen Beitrag zum wissenschaftlichen Kenntnisstand dar, muß jedoch in Form einer definierten, tatsächlichen Behandlung eines pathologischen Leidens zur praktischen Anwendung kommen, um als technischer Beitrag zum Stand der Technik und damit als patentfähige Erfindung zu gelten (s. Nr. 3.1.2 der Entscheidungsgründe).
II. Ist ein Anspruch auf eine weitere therapeutische Anwendung eines Arzneimittels gerichtet und ist das zu behandelnde Leiden funktionell definiert, z. B. als Leiden, das durch die selektive Belegung eines bestimmten Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann, so kann der Anspruch nur dann als deutlich gelten, wenn aus den Patentdokumenten oder dem allgemeinen Fachwissen eine technische Lehre in Form experimenteller Untersuchungen oder sonstiger in Versuchen überprüfbarer Kriterien zu entnehmen ist, anhand deren der Fachmann beurteilen kann, welche Leiden durch die funktionelle Definition erfaßt werden und damit in den Schutzbereich des Anspruchs fallen (s. Nr. 3.1.1 der Entscheidungsgründe) (in Anlehnung an T 68/85, Synergistische Herbizide/CIBA-GEIGY, ABl. EPA 1987, 228).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 84
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
Schlagwörter: Hauptantrag: Deutlichkeit der funktionellen Definition (verneint)
Erster Hilfsantrag: Neuheit (verneint); therapeutische Wirkung bei Tieren bereits beschrieben
Zweiter Hilfsantrag: bestimmte, von der Prüfungsabteilung nicht geprüfte Krankheiten – Zurückverweisung an die erste Instanz
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
T 0068/85
T 0158/96
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1045/98
T 1048/98
T 1031/00
T 0609/02
T 0462/06
T 0385/07
T 1911/08
T 0814/12
W 0018/03
W 0023/03

Sachverhalt und Anträge

I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 91 302 599.5 (Veröffentlichungsnr. 0 449 562) wurde von der Prüfungsabteilung gemäß Artikel 97 (1) EPÜ aufgrund mangelnder Deutlichkeit und fehlender erfinderischer Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 zurückgewiesen. Der Entscheidung lag ein einziger mit Schreiben vom 4. August 1994 eingereichter Anspruch 1 zugrunde, der wie folgt lautete:

“Verwendung von (R)-Fluoxetin, das im wesentlichen frei von (S)-Fluoxetin ist, oder eines seiner pharmazeutisch brauchbaren Salze oder Solvate zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung eines Säugers, der an einem Leiden erkrankt ist oder für ein solches anfällig ist, das durch selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann.”

II. Das Prüfungsverfahren stützte sich unter anderem auf folgende Druckschriften:

(1) Journal of Medical Chemistry, Bd. 31, Nr. 7, 1998, S. 1412 – 1417 (D. W. Robertson et al.);

(3) Psychopharmacology, Bd. 99, 1989, S. 196 – 201 (J. C. Neill et al.)

Im europäischen Recherchenbericht wurde darüber hinaus eine weitere Druckschrift aufgeführt, die zwar nicht zum Stand der Technik gehört, aber zum Verständnis der Erfindung beiträgt:

(4) Neuropsychopharmacology, Bd. 5, Nr. 1, August 1991, S. 43 – 47 (D. T. Wong, P. G. Threlkeld, D. W. Robertson).

III. Die Prüfungsabteilung war der Meinung, daß der fragliche Anspruch 1 nicht deutlich sei, da der Gegenstand, für den Patentschutz beantragt wurde, durch eine funktionelle Definition beschrieben sei, die Anmeldung aber für den Fachmann nicht die erforderliche Lehre enthalte, anhand derer er einschätzen könne, welche Gegenstände eigentlich unter diese Definition fallen. Zwar werde der Schutzbereich des Anspruchs nicht auf die in der Beschreibung offenbarten konkreten Beispiele für “Leiden” beschränkt, doch lasse sich aus der strittigen Anmeldung oder dem allgemeinen Fachwissen weder ein Versuch noch eine sonstige Indikation ableiten, der bzw. die es gestatten würde, alle übrigen Leiden zu bestimmen, die durch die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert werden können oder denen dadurch vorgebeugt werden kann und die damit in den Schutzbereich des Anspruchs fallen.

Aus diesem Grund erfülle der Anspruch nicht die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ.

Ferner vertrat die Prüfungsabteilung die Auffassung, daß der beanspruchte Gegenstand nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

Ihrer Ansicht nach werde bereits in der Druckschrift (1) auf die Verwendung von Fluoxetin in racemischer Form zur Behandlung von Leiden, die auch in der strittigen Anmeldung aufgeführt sind, eingegangen. Die Verwendung des (R)-Isomers von Fluoxetin zur Behandlung ähnlicher Leiden sei daher naheliegend. Ebensowenig könne die offenbarte Spezifität des (R)-Isomers für den 5-HTIC-Rezeptor dem beanspruchten Gegenstand erfinderischen Charakter verleihen, da diese Eigenschaft nach Meinung der Prüfungsabteilung bereits aus der Lehre der Druckschrift (3) hervorgehe.

IV. Die Beschwerdeführerin legte Beschwerde gegen diese Entscheidung ein und reichte am 24. Februar 1995 einen Hauptantrag mit 4 Ansprüchen, darunter der von der Prüfungsabteilung bereits behandelte Anspruch 1, und weitere Hilfsanträge ein.

V. Mit einem am 14. Juni 1999 ergangenen Bescheid führte die Kammer das folgende neue Dokument des Stands der Technik in das Verfahren ein:

(5) Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neurosciences, Bd. 1, Nr. 3, Sommer 1989, S. 253 – 262 (S. J. Peroutka et al.)

VI. In Beantwortung des amtlichen Bescheids legte die Beschwerdeführerin zusätzliche Druckschriften und Versuchsergebnisse vor, insbesondere zu Untersuchungen, die zum einen die unterschiedliche Spezifität des Racemats, des (R)-Isomers und des (S)-Isomers von Fluoxetin für den 5-HTIC-Rezeptor und zum anderen die pharmakologische Wirkung von (R)-Fluoxetin bei Migräne, obsessiv-kompulsiven Störungen (OCD = obsessive-compulsive disorder) und Schmerz im Tiermodell belegen.

VII. In der mündlichen Verhandlung, die am 14. Juni 2000 stattfand, hielt die Beschwerdeführerin den Hauptantrag unverändert aufrecht, legte aber einen neuen ersten, zweiten, dritten und vierten Hilfsantrag vor.

Anspruch 1 des Hauptantrags stimmt mit dem Anspruch überein, um den es in der angefochtenen Entscheidung ging. Die beiden Ansprüche 1 des ersten und zweiten Hilfsantrags lauten wie folgt:

Erster Hilfsantrag:

“Verwendung von (R)-Fluoxetin, das im wesentlichen frei von (S)-Fluoxetin ist, oder eines seiner pharmazeutisch brauchbaren Salze oder Solvate zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung eines Säugers, der an Fettsucht, Bulimie, Alkoholismus, Schmerz, Schlafapnoe, obsessiv-kompulsiven Störungen, Mißbrauch oder Migräne leidet oder dafür anfällig ist.”

Zweiter Hilfsantrag:

“Verwendung von (R)-Fluoxetin, das im wesentlichen frei von (S)-Fluoxetin ist, oder eines seiner pharmazeutisch brauchbaren Salze oder Solvate zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung eines Säugers, der an Schlafapnoe, Mißbrauch oder Migräne leidet oder dafür anfällig ist.”

Die jeweiligen Ansprüche 1 des dritten und vierten Hilfsantrags bezogen sich auf Schlafapnoe bzw. Migräne.

VIII. Die Beschwerdeführerin machte in ihren Schreiben und in der mündlichen Verhandlung geltend, daß die Erfindung auf der Entdeckung beruhe, daß das (R)-Isomer von Fluoxetin eine unerwartet hohe Selektivität für den 5-HTIC-Rezeptor aufweise. Diese Eigenschaft biete den Vorteil, daß (R)-Fluoxetin bei entsprechender Dosierung aufgrund der unspezifischen Bindung an andere Rezeptoren potentiell nebenwirkungsfrei sei.

Hinsichtlich des von der Prüfungsabteilung erhobenen Einwands, daß der Fachmann nur mit unzumutbarem Aufwand alle unter Anspruch 1 (geltender Hauptantrag) fallenden Leiden bestimmen könne, brachte die Beschwerdeführerin vor, daß allein die selektive Bindung an den 5-HTIC-Rezeptor bereits darauf hindeute, daß es sich um Leiden im Zusammenhang mit Funktionsstörungen des Zentralnervensystems (ZNS) handle, und zahlreiche Tiermodelle zur Verfügung ständen, um den Verlauf solcher Störungen zu beurteilen. Zum anderen enthalte die Beschreibung eine Liste solcher Leiden; diese müsse nicht erschöpfend sein, sondern lediglich Hinweise enthalten.

Die Wirksamkeit von (R)-Fluoxetin bei der Behandlung von Migräne, Schmerz und obsessiv-kompulsiven Störungen werde ferner durch die in Anlage Z dargestellten experimentellen Untersuchungen belegt. Während der Erörterung dieser Untersuchungen räumte die Beschwerdeführerin allerdings ein, daß es keine schlüssigen Beweise oder Demonstrationsmöglichkeiten dafür gebe, daß die beobachtete therapeutische Wirkung tatsächlich auf die spezifische Belegung des 5-HTIC-Rezeptors zurückzuführen sei und nicht auf die damit einhergehende Hemmung der Serotoninaufnahme an den Synapsen, auf der die eigentliche pharmakologische Wirkung von Fluoxetin überwiegend beruhe.

IX. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Entscheidung der Prüfungsabteilung und die Erteilung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags oder hilfsweise auf der Grundlage eines der vier in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsanträge.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Artikel 123 (2) EPÜ

In allen Anträgen heißt es in Anspruch 1: “(R)-Fluoxetin, das im wesentlichen frei von (S)-Fluoxetin ist”. In der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung war diese Formulierung noch nicht enthalten. Aus der ursprünglichen Beschreibung läßt sich sofort ersehen, daß die Erfindung ausschließlich auf die Verwendung des (R)-Isomers gerichtet ist, das auf Seite 1, dritter und vierter Absatz als die erfindungsgemäße Form der ebenfalls bekannten racemischen Form gegenübergestellt wird. In der Beschreibung werden ferner mehrere bekannte Standardmethoden für die Auflösung des Racemats in (R)- und (S)-Isomere bzw. für die Aufbereitung reinen (R)-Fluoxetins genannt (Seite 3, Zeilen 12 – 24). Die Kammer gelangt daher zu dem Schluß, daß die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die Verwendung von (S)-Isomer-freiem (R)-Fluoxetin bereits implizit offenbarte.

Mit Bezug auf die Streichung der Passage: “Leiden …, das durch selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann” im Wortlaut des Anspruchs 1 aller Hilfsanträge stellt die Kammer fest, daß dieses Merkmal des ursprünglich beanspruchten Gegenstands durch die Nennung bestimmter Leiden ersetzt wurde, die in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung als Beispiele für ein solches “Leiden” aufgeführt waren. Da die Kammer keine Handhabe und keinen Grund hat, die Stichhaltigkeit der in der Beschreibung enthaltenen Aussage zu widerlegen, daß diese bestimmten Leiden durch die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert werden oder ihnen dadurch vorgebeugt wird, geht diese Änderung ihrer Auffassung nach nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.

Die Kammer ist daher der Auffassung, daß die geänderten Ansprüche aller Anträge den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ entsprechen.

3. Hauptantrag

3.1 Artikel 84 EPÜ

3.1.1 Anspruch 1 definiert die mit (R)-Fluoxetin zu behandelnde Krankheit oder gesundheitliche Störung als ein Leiden, das durch die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann. Eine funktionelle Definition der zu behandelnden Leiden ist zulässig, solange der Anspruch nach wie vor die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ erfüllt. Gemäß der von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidung T 68/85 (ABl. EPA 1987, 228) gehört es zu der erforderlichen Deutlichkeit, daß der Fachmann die Aussage des Anspruchs nicht nur verstehen, sondern auch in die Praxis umsetzen kann (s. T 68/85, Nr. 8.4.3 der Entscheidungsgründe). Mit anderen Worten,das funktionelle Merkmal muß durch technische anweisungen verdeutlicht werden, die ausreichend klar sind, um dem Fachmann die Nacharbeitung zu ermöglichen. Diese Umsetzung der Erfindung in die Praxis beinhaltet, daß die Anmeldung oder das allgemeine Fachwissen zum Zeitpunkt der Anmeldung es dem Fachmann ermöglichen müssen, die technische Wirkung der funktionellen Definition zu erkennen und zu beurteilen.

Wenn der wie üblich formulierte Anspruch auf eine weitere therapeutische Anwendung eines Arzneimittels gerichtet und das zu behandelnde Leiden (wie im vorliegenden Anspruch) funktionell definiert ist, müssen dem Fachmann Hineise in Form experimenteller Untersuchungen oder sonstiger in Versuchen überprüfbarer Kriterien gegeben werden, anhand deren er erkennen kann, welche Leiden durch die funktionelle Definiton erfaßt werden und ob die therapeutische Indikation, die den Kern der Erfindung darstellt, in den Schutzbereich des Anspruchs fällt.

3.1.2 Im vorliegenden Fall stützt sich die Erfindung auf die Entdeckung, daß das (R)-Isomer von Fluoxetin eine hohe Spezifität für den Serotonin-5-HTIC-Rezeptor aufweist. Die beanspruchte therapeutische Indikation des (R)-Fluoxetins besteht demnach in der Behandlung jedes Leidens, das durch die selektive Belegung ebendieses Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann. Die Kammer möchte hervorheben, daß die “selektive Belegung” eines Rezeptors zwar unbestreitbar eine pharmakologische Wirkung ist, für sich genommen aber nicht als therapeutische Anwendung angesehen werden kann. Die der Erfindung zugrunde liegende Entdeckung – auch wenn sie einen wichtigen Beitrag zum wissenschaftlichen Kenntnisstand darstellt – muß in Form einer definierten, tatsächlichen Behandlung eines pathologischen Leidens zur praktischen Anwendung kommen, um als technischer Beitrag zum Stand der Technik und damit als patentfähige Erfindung zu gelten.

Aus ebendiesem Grund sind in der Beschreibung Beispiele solcher Leiden aufgelistet, nämlich Fettsucht, Bulimie, Alkoholismus, Schmerz, Schlafapnoe, obsessiv-kompulsive Störungen, Mißbrauch von Substanzen und Migräne, die dank der vorliegenden Erfindung behandelt werden könnten.

Da der beanspruchte Gegenstand funktionell definiert ist, beschränkt sich der Schutzbereich von Anspruch 1 jedoch nicht auf die Behandlung der aufgezählten Leiden, sondern schließt im Gegenteil auch eine unbestimmte Zahl weiterer Leiden ein, die alle durch die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert werden könnten oder denen dadurch vorgebeugt werden könnte. Unter diesen Umständen kann der unabhängige Anspruch nur dann als deutlich angesehen werden, wenn es dem Fachmann möglich ist zu beurteilen, ob ein weiteres, in der Anmeldung nicht ausdrücklich erwähntes Leiden, das gleichfalls durch die Verabreichung von (R)-Fluoxetin beeinflußbar ist, in den Schutzbereich des Anspruchs 1 fällt.

3.1.3 Die Beschwerdeführerin behauptet, daß die Erfindung diese Bedingung sehr wohl erfülle, da dem Fachmann die zahlreichen Tiermodelle bekannt seien, die für die verschiedenen ZNS-Funktionsstörungen existierten und anhand derer sich die lindernde oder vorbeugende Wirkung von (R)-Fluoxetin a posteriori beurteilen lasse. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin sei der Fachmann also durchaus in der Lage zu entscheiden, ob ein solches Leiden in den Schutzbereich des Anspruchs falle oder nicht.

Um diese Argumente zu stützen, verwies die Beschwerdeführerin auf drei experimentelle Untersuchungen, die die Wirkung von (R)-Fluoxetin bei Migräne, obsessiv-kompulsiven Störungen und Schmerzen im Tiermodell zeigen (Anlage Z vom 14. Februar 2000).

3.1.4 Die Kammer kann sich der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht anschließen.

Die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors ist nur eine der pharmakologischen Eigenschaften des Fluoxetins, und zwar sowohl des (R)-Isomers als auch des Racemats. Wie in der Druckschrift (5), Seiten 258 und 259 sowie Tabelle 4, beschrieben, wirkt Fluoxetin darüber hinaus auch als Serotoninaufnahmehemmer an den Synapsen, worin offensichtlich seine wichtigste pharmakologische Eigenschaft zu sehen ist. Die in der vorliegenden Anmeldung genannten Erfinder, D. W. Robertson und D. T. Wong, bestätigen in der nachveröffentlichten Druckschrift (4) selbst die Lehre der Druckschrift (5); auch sie gehen davon aus, daß die verbesserte 5-HT-Transmission sowie andere pharmakologische Reaktionen, die bei den mit Fluoxetin oder seinen Analoga behandelten Tieren beobachtet wurden, überwiegend auf die Hemmung der 5-HT-Aufnahme zurückzuführen seien (s. Seite 43, Zusammenfassung und Seite 46, “Discussion”).

Die von der Beschwerdeführerin in Anlage Z vorgelegten experimentellen Untersuchungen sind daher im Licht dieser – zumindest – zweifachen Wirkungsweise von Fluoxetin zu betrachten. Sie belegen zwar, daß Migräne, obsessiv-kompulsive Störungen und Schmerzen mit (R)-Fluoxetin wirksam therapiert werden können, lassen jedoch – wie aus ihrer Beschreibung hervorgeht – nicht den zugrundeliegenden Wirkmechanismus erkennen, da sie auf die bloße Erfassung eines endgültigen, hauptsächlich an Verhaltensänderungen ablesbaren Endergebnisses ausgerichtet sind. Die therapeutische Wirksamkeit von (R)-Fluoxetin wird dadurch zwar nachgewiesen, es bleibt aber ungeklärt, ob diese Therapieeffekte durch die Belegung des 5-HTIC-Rezeptors oder die begleitende Hemmung der Serotoninaufnahme an den Synapsen oder durch einen anderen – vielleicht sogar bislang unbekannten – Wirkmechanismus von Fluoxetin hervorgerufen werden.

Die Ansicht, daß die Wirkmechanismen von (R)-Fluoxetin weder durch die beschriebenen Versuche noch durch irgendwelche anderen üblicherweise zur Untersuchung von ZNS-Funktionsstörungen angewandten Tests aufgeklärt werden können, wurde in der mündlichen Verhandlung von der Beschwerdeführerin selbst bestätigt. Sie räumte ein, daß nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden sei, daß die beschriebene therapeutische Wirkung durch die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors und nicht durch die Hemmung der 5-HT-Aufnahme verursacht werde.

Unter diesen Umständen ist die Kammer der Auffassung, daß zum Zeitpunkt der Einreichung der Anmeldung dem Fachmann keine Hilfsmittel einschließlich überprüfbarer Kriterien zur Verfügung standen, anhand derer er hätte beurteilen können, ob ein durch (R)-Fluoxetin gemildertes oder vermeidbares “Leiden” durch die funktionelle Definition des beanspruchten Gegenstands erfaßt wird.

Die Kammer ist daher zu dem Schluß gelangt, daß Anspruch 1 die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ nicht erfüllt.

4. Erster Hilfsantrag

Die Formulierung “Leiden …, das durch selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert oder dem dadurch vorgebeugt werden kann” wurde aus dem Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags gestrichen; dieser beschränkt sich nun auf die Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung bestimmter Leiden, nämlich Fettsucht, Bulimie, Alkoholismus, Schmerz, Schlafapnoe, obsessiv-kompulsive Störungen, Mißbrauch und Migräne. In dieser Fassung ist Anspruch 1 deutlich.

4.1 Artikel 54 EPÜ

4.1.1 Durch die Änderungen in der Definition des beanspruchten Gegenstands wurde das Wesen der Erfindung grundlegend verändert. Die Kammer erachtet es daher für erforderlich zu überprüfen, inwieweit der beanspruchte Gegenstand gegenüber den zitierten Dokumenten des Stands der Technik und insbesondere der Druckschrift (1) neu ist, auch wenn dies nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung war.

Druckschrift (1) offenbart die absolute Konfiguration und die pharmakologischen Eigenschaften des (R)- und des (S)-Isomers von Fluoxetin. Es sind drei In-vivo-Studien zur Wirkungsweise der einzelnen Isomere beschrieben: a) endogene Schmerzunterdrückung und Opiat-induzierte Antinozizeption, b) Hemmung der induzierten Serotonindepletion im Mäusehirn und c) Unterdrückung geschmacksinduzierter Ingestion (Trinken). In allen Tiermodellen erwiesen sich beide Isomere – abgesehen von kleinen Enantiomer-spezifischen Unterschieden – als wirksam. Genauer gesagt zeigte sich in den Versuchen zur endogenen Schmerzunterdrückung, daß sowohl (R)- als auch (S)-Fluoxetin, allein oder zusammen mit einer subanalgetischen Dosis Morphin injiziert, eine mittels Ethansäure induzierte Abdominalkonstriktion antagonisieren und zu einer dosisabhängigen Blockade der Konstriktion führen, wobei das (R)-Isomer etwas wirksamer war als das (S)-Isomer (s. unter “Pharmacology” auf den Seiten 1414 und 1415). Nach Auffassung der Kammer ist daher die Offenbarung in Druckschrift (1), wonach endogener Schmerz durch (R)-Fluoxetin unterdrückt werden kann, neuheitsschädlich für den Anspruch 1, der sich ebenfalls mit der Behandlung eines schmerzleidenden oder schmerzanfälligen Säugers befaßt.

4.1.2 In der mündlichen Verhandlung machte die Beschwerdeführerin geltend, daß Druckschrift (1) nicht die Herstellung eines Arzneimittels im Sinne der vorliegenden Anmeldung bzw. des Anspruchs 1 offenbare. Die Versuche seien an Tieren vorgenommen worden und hätten nicht dem Ziel gedient, eine therapeutische Wirkung zu erzielen, wie es für eine konkrete therapeutische Behandlung üblicherweise kennzeichnend sei.

Die Kammer möchte zunächst betonen, daß die (R)-Fluoxetin-Lösung, die den Tieren in den in Druckschrift (1) beschriebenen Versuchen injiziert wurde, sehr wohl als “Arzneimittel” anzusehen ist, da sie einen therapeutischen Wirkstoff enthält und sich – zumindest bei Tieren – für die Verwendung als Arzneimittel eignet.

Ferner hat Anspruch 1 kein Erzeugnis, sondern die Verwendung eines – an sich bekannten – Stoffs für die Herstellung eines – an sich ebenfalls bekannten – Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung zum Gegenstand. Die Neuheit dieses Anspruchs, sofern sie ihm überhaupt zukommt, kann sich daher lediglich auf ebendiese therapeutische Anwendung gründen.

Bei der Beurteilung der Patentfähigkeit der medizinischen Verwendung eines Stoffs gilt der bewährte und anerkannte Grundsatz, daß eine pharmakologische oder sonstige Wirkung (z. B. eine in In-vitro-Versuchen oder im Tiermodell beobachtete an Verhaltensänderungen erkennbare Wirkung) nur dann als ausreichender Nachweis einer therapeutischen Anwendung gewertet wird, wenn diese beobachtete Wirkung für den Fachmann unmittelbar und zweifelsfrei von einer therapeutischen Anwendung ausgeht. Dieser Grundsatz wurde in der Entscheidung T 158/96 vom 28. Oktober 1998 ((1999) E.P.O.R., S. 285) mit Bezug auf eine angebliche therapeutische Anwendung formuliert, bei der – anders als im vorliegenden Fall – eine entsprechende Wirkung noch nicht glaubhaft nachgewiesen worden war. Im Gegensatz dazu stützt sich eine der in Anspruch 1 beanspruchten therapeutischen Anwendungen – nämlich die Behandlung von Schmerz – unmittelbar und zweifelsfrei auf die Wirksamkeit von (R)-Fluoxetin bei der Unterdrückung der Ethansäure-induzierten Abdominalkonstriktion (Zusammenziehen) und der Verstärkung der Morphin-induzierten Antinozizeption bei Mäusen, die bereits in Druckschrift (1) offenbart ist.

Die Kammer vertritt daher die Auffassung, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber der Lehre der Druckschrift (1) nicht neu ist.

5. Zweiter Hilfsantrag

Die obigen Gründe lassen sich für den zweiten Hilfsantrag nicht aufrechterhalten.

Der Anspruch 1 dieses Antrags beschränkt sich auf drei bestimmte Leiden, nämlich Schlafapnoe, Mißbrauch und Migräne.

Mehr noch als im Falle des ersten Hilfsantrags gilt hier, daß die im Wortlaut des Anspruchs 1 vorgenommenen Änderungen nicht bloß den Schutzbereich einschränken, sondern das Wesen der Erfindung grundlegend verändern. Während sich die Erfindung in der ursprünglich eingereichten und später im Prüfungsverfahren geänderten Fassung auf alle Leiden bezog, die durch die selektive Belegung des 5-HTIC-Rezeptors gemildert werden können oder denen dadurch vorgebeugt werden kann, bezieht sie sich nach der Änderung nur noch auf drei bestimmte Erkrankungen, die im kennzeichnenden Teil eines der Prüfungsabteilung vorgelegten Anspruchs bis dahin nicht erwähnt waren.

In Anbetracht dieser Tatsachen verweist die Kammer die Angelegenheit in Ausübung des ihr in Artikel 111 (1) EPÜ eingeräumten Ermessens zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurück.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage des zweiten Hilfsantrags, wie er in der mündlichen Verhandlung vorgelegt wurde, an die erste Instanz zurückverwiesen.