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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2000:T058798.20000512
Datum der Entscheidung: 12 Mai 2000
Aktenzeichen: T 0587/98
Anmeldenummer: 95100700.4
IPC-Klasse: G11B 11/10
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: Quasiamorphe oder Amorphe dielektrische Schicht aus Zirkoniumoxid für optische oder magnetooptische Speichermedien
Name des Anmelders: Komag Inc.
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: Das EPÜ enthält keine ausdrückliche oder implizite Bestimmung, die das Bestehen eines unabhängigen Anspruchs in einer Teilanmeldung verbietet – sei es explizit oder als fiktiver Anspruch, der sich aus der Unterteilung eines tatsächlichen Anspruchs in fiktive Ansprüche unter Nennung expliziter Alternativen ergibt -, dessen Zusammenhang mit einem unabhängigen Anspruch der Stammanmeldung darin besteht, daß der “Stamm”anspruch alle Merkmale des “Teil”anspruchs in Verbindung mit einem zusätzlichen Merkmal enthält.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 76
European Patent Convention 1973 Art 97(1)
European Patent Convention 1973 Art 125
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Unabhängiger Anspruch des Stammpatents, der in bezug auf den Hauptanspruch der Teilanmeldung den Umfang eines ‘abhängigen’ Anspruchs hat – bejaht
Keine Grundlage im EPÜ für die Zurückweisung der Teilanmeldung unter diesen Umständen
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1163/97
T 0307/03
T 1391/07
T 1423/07
T 2461/10
T 1483/11

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 95 100 700.4 zurückzuweisen, die als Teilanmeldung zur europäischen Patentanmeldung Nr. 91 115 600.8, auf die inzwischen das europäische Patent Nr. 0 475 452 erteilt wurde, eingereicht worden war.

II. Die Zurückweisung wurde damit begründet, daß sich der Gegenstand der vorliegenden Teilanmeldung und derjenige des auf die Stammanmeldung erteilten Patents überschnitten, und daß im Überschneidungsbereich der gleiche Gegenstand zweimal beansprucht wurde. Die am 27. März 1997 eingereichten Ansprüche seien demzufolge aufgrund des Artikels 125 EPÜ nicht gewährbar.

III. Mit der Beschwerde legte die Beschwerdeführerin einen Hauptantrag mit den Ansprüchen 1 bis 7 (die denselben Gegenstand wie die durch die angefochtene Entscheidung zurückgewiesenen Ansprüche hatten) sowie einen Hilfsantrag mit den Ansprüchen 1 bis 7 vor und beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent mit diesen Ansprüchen zu erteilen.

IV. Nach dem Hauptantrag besteht die Anmeldung aus den folgenden Dokumenten:

Beschreibung: Seiten 2 – 4, 6 und 9 – 13 wie ursprünglich eingereicht und Seiten 1, 5, 5a, 7 und 8 wie am 27. März 1997 eingereicht;

Ansprüche 1 – 7 wie auf Seite 2 der am 28. April 1998 eingelegten Beschwerde aufgeführt;

Zeichnungen: Blätter 1/6 – 6/6 wie ursprünglich eingereicht.

V. Die unabhängigen Ansprüche der vorliegenden Teilanmeldung lauten wie folgt:

“1. Eine Daten-Speichervorrichtung mit einem Substrat (101, 201a, 251) und einer auf dem Substrat ausgebildeten optischen oder magneto-optischen Aufzeichnungsschicht (104, 203, 252), dadurch gekennzeichnet, daß:

eine amorphe oder beinahe amorphe ZrO2-Schicht (102, 106, 204, 253), die mehr als etwa 65 % ZrO2 umfaßt, entweder auf der Aufzeichnungsschicht (102, 106, 204, 253) oder zwischen der Aufzeichnungsschicht (102, 106, 204, 253) und dem Substrat (101, 201a, 251) ausgebildet wird, wobei die Kristallite in der ZrO2-Schicht, soweit vorhanden, eine Größe von weniger als oder höchstens etwa 10 Å aufweisen und diese ZrO2-Schicht (102, 106, 204, 253) außerdem einen Stabilisator und ein Metalloxid enthält, wobei das Metalloxid im wesentlichen keine Festkörperlöslichkeit in massivem ZrO2 besitzt und weniger als etwa 30 Gew. % der ZrO2-Schicht umfaßt.”

“4. Verfahren zur Herstellung einer Daten-Speichervorrichtung mit den Schritten Bilden einer optischen oder magneto-optischen Aufzeichnungsschicht (102, 106, 204, 253) auf einem Substrat (101, 201a, 251), dadurch gekennzeichnet, daß:

eine amorphe oder beinahe amorphe ZrO2-Schicht (102, 106, 204, 253), die mehr als etwa 65 % ZrO2 umfaßt, entweder auf der Aufzeichnungsschicht (102, 106, 204, 253) oder zwischen der Aufzeichnungsschicht (102, 106, 204, 253) und dem genannten Substrat (101, 201a, 251) ausgebildet wird, wobei die Kristallite in der ZrO2-Schicht, soweit vorhanden, eine Größe von weniger als oder höchstens etwa 10 Å aufweisen und diese ZrO2-Schicht (102, 106, 204, 253) außerdem einen Stabilisator und ein Metalloxid enthält, wobei das Metalloxid im wesentlichen keine Festkörperlöslichkeit in massivem ZrO2 besitzt und weniger als etwa 30 Gew. % der genannten ZrO2-Schicht umfaßt.”

VI. Die unabhängigen Ansprüche des auf die Stammanmeldung erteilten Patents lauten wie folgt:

“1. Anordnung zur Verwendung als Daten-Speichervorrichtung mit einem Substrat (101), einer auf dem Substrat ausgebildeten ersten dielektrischen Schicht (102, 106), einer auf der ersten dielektrischen Schicht ausgebildeten magneto-optischen Schicht (104), und einer auf der magneto-optischen Schicht (104) ausgebildeten zweiten dielektrischen Schicht (102, 106), dadurch gekennzeichnet, daß zumindest eine der ersten oder zweiten dielektrischen Schichten amorph oder beinahe amorph ist und mehr als etwa 65 % ZrO2 umfaßt, wobei die ZrO2 -Kristallite, soweit vorhanden, eine Größe von weniger als oder höchstens 10 A aufweisen, und einen Stabilisator und ein Metalloxid mit im wesentlichen keiner Festkörper-Löslichkeit in massivem ZrO2 enthält, wobei das Metalloxid weniger als etwa 30 Gew. % der zumindest einen Schicht umfaßt.”

“11. Verfahren zur Herstellung einer Daten-Speichervorrichtung mit den Schritten Anlagern einer ersten dielektrischen Schicht (102, 106) auf einem Substrat (101), Bilden einer magneto-optischen Schicht (104), und Bilden einer zweiten dielektrischen Schicht, (102, 106) auf der magneto-optischen Schicht, dadurch gekennzeichnet, daß zumindest eine der ersten und der zweiten dielektrischen Schichten amorph oder beinahe amorph ist und mehr als etwa 65 % ZrO2 umfaßt, wobei die ZrO2 -Kristallite, soweit vorhanden, eine Größe von weniger als oder höchstens 10 A aufweisen, und einen Stabilisator und ein Metalloxid mit im wesentlichen keiner Festkörper-Löslichkeit in massivem ZrO2 enthält, wobei das Metalloxid weniger als etwa 30 Gew. % der zumindest einen Schicht umfaßt.”

VII. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die Zurückweisung sei allein damit begründet worden, daß es ein allgemeiner Grundsatz des Verfahrensrechts sei, ein und demselben Anmelder für ein und dieselbe Erfindung nicht zwei Patente zu erteilen. Jedoch enthalte das EPÜ keine Bestimmung zur Verhinderung von Doppelpatentierungen. In den Richtlinien werde ohne entsprechenden Nachweis schlicht behauptet, daß das Verbot der Doppelpatentierung ein anerkannter Rechtsgrundsatz in den meisten Patentsystemen sei; ebenso fehle der Nachweis, daß dieser Grundsatz in das EPÜ Eingang gefunden habe. Auf jeden Fall hätten die Ansprüche der vorliegenden Teilanmeldung nicht denselben Umfang wie die des Stammpatents. In den Ansprüchen des Stammpatents werde eine Sandwich-Struktur aus drei auf dem Substrat ausgebildeten Schichten beansprucht, wobei die Aufzeichnungsschicht eine magneto-optische Schicht sein müsse. In den Ansprüchen der Teilanmeldung dagegen würden nur zwei auf dem Substrat ausgebildete Schichten beansprucht, und die Aufzeichnungsschicht könne entweder eine optische oder eine magneto-optische Schicht sein. Die Ansprüche der Teilanmeldung seien breiter als die Ansprüche des auf die Stammanmeldung erteilten Patents und richteten sich demnach nicht auf dieselbe Erfindung. Das angebliche Verbot der Doppelpatentierung gemäß den Richtlinien C-IV 6.4 und C-VI 9.6 sei deshalb nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Vergleich der unabhängigen Ansprüche des Stammpatents und der Teilanmeldung

2.1 Es reicht für die Entscheidung über diese Beschwerde aus, die jeweiligen unabhängigen Vorrichtungsansprüche des Stammpatents und der Teilanmeldung zu betrachten, da die daraus gezogene Schlußfolgerung auch für die unabhängigen Verfahrensansprüche gilt. In Anspruch 1 des Stammpatents wird zusätzlich zum Substrat u. a. eine dreischichtige Struktur angeführt, bestehend aus einer auf dem Substrat ausgebildeten ersten dielektrischen Schicht, einer auf dieser ersten dielektrischen Schicht ausgebildeten magneto-optischen (Aufzeichnungs-)Schicht und einer zweiten auf dieser magneto-optischen Schicht ausgebildeten dielektrischen Schicht. Es müssen alle drei Schichten vorhanden sein. Diese Struktur läßt sich mit SDAmoD wiedergeben.

2.2 Anspruch 1 der Teilanmeldung nennt außer dem Substrat (mindestens) zwei Schichten, nämlich eine Aufzeichnungsschicht, die entweder eine optische oder eine magneto-optische Schicht sein kann, und eine dielektrische Schicht, die entweder auf der Aufzeichnungsschicht oder zwischen dieser und dem Substrat ausgebildet sein kann. Verwendet man den Booleschen Operator ‘xor’, um die sich explizit gegenseitig ausschließenden Alternativen voneinander abzugrenzen, so läßt sich die Struktur mit SDAmo xor SDAo xor SAmoD xor SAoD abbilden.

2.3 Bezeichnet man die erste der oben genannten Alternativen mit ‘A’ und die in Anspruch 1 des Stammpatents enthaltene zweite dielektrische Schicht mit ‘B’, so läßt sich die entsprechende Beziehung zwischen den Ansprüchen so ausdrücken, daß das Stammpatent AB (A mit B) beansprucht, während die Teilanmeldung A beansprucht (implizit mit oder ohne B).

2.4 Zwar gab es über die oben angeführten Sachverhalte als solche keine Meinungsverschiedenheit, doch war die Beschwerdeführerin mit der von der Prüfungsabteilung vorgenommenen Einordnung des Sachzusammenhangs zwischen Stammpatent und Teilanmeldung und den daraus abgeleiteten rechtlichen Konsequenzen nicht einverstanden. Die Prüfungsabteilung war nämlich der Auffassung, die in Anspruch 1 des Stammpatents explizit beanspruchte Erfindung (der Gegenstand) AB werde implizit in Anspruch 1 der Teilanmeldung erneut beansprucht, da dieser Anspruch auf A mit oder ohne B gerichtet sei. Folgt man dieser Sichtweise, so käme die Erteilung eines Patents auf die Teilanmeldung der Erteilung eines zweiten Patents auf ein und dieselbe Erfindung gleich.

3. Rechtsgrundlage der strittigen Entscheidung

3.1 So wie die Prüfungsabteilung den Sachverhalt einschätzte, sah sie sich aufgrund ihrer Auslegung der Richtlinien für die Prüfung im EPA gezwungen, die Anmeldung zurückzuweisen, und hielt sich hierzu gemäß Artikel 97 (1) EPÜ aufgrund ihrer Auslegung von Artikel 125 EPÜ für berechtigt.

3.2 Die betreffenden Textstellen der Richtlinien lauten wie folgt:

C-IV, 6.4: “Im Übereinkommen wird nicht eigens auf den Fall gleichzeitiger europäischer Patentanmeldungen gleichen wirksamen Datums eingegangen. Es ist jedoch ein anerkanntes Prinzip in den meisten Patentsystemen, daß ein und demselben Anmelder für eine Erfindung nicht zwei Patente erteilt werden (Hervorhebung durch die Kammer). Ein Anmelder kann zwar zwei Anmeldungen mit derselben Beschreibung prüfen lassen, wenn die Patentansprüche einen völlig unterschiedlichen Umfang haben und auf verschiedene Erfindungen gerichtet sind. In dem seltenen Fall, in dem … [es] zwei oder mehrere europäische Anmeldungen des gleichen Anmelders [gibt] … und die Patentansprüche dieser Anmeldungen denselben Prioritätstag haben und dieselbe Erfindung betreffen (wobei die Patentansprüche in der in VI, 9.6 dargelegten Weise kollidieren), ist dem Anmelder jedoch mitzuteilen, daß er entweder eine Anmeldung oder mehrere Anmeldungen so ändern muß, daß sie nicht länger die gleiche Erfindung beanspruchen, oder unter diesen Anmeldungen eine auswählen muß, die im Hinblick auf die Patenterteilung bearbeitet werden soll.”

C-VI, 9.6: “In der Stammanmeldung und den Teilanmeldungen darf nicht der gleiche Gegenstand beansprucht werden (siehe IV, 6.4). Dies bedeutet nicht nur, daß sie keine Patentansprüche von im wesentlichen gleichem Umfang enthalten dürfen, sondern auch, daß in einer Anmeldung nicht der Gegenstand beansprucht werden darf, auf den in der anderen Anmeldung – auch wenn dies mit anderen Worten geschieht – Patentansprüche gerichtet sind. Der Unterschied zwischen den Gegenständen der Anmeldungen muß deutlich erkennbar sein. In der Regel kann jedoch in der einen Anmeldung deren eigener Gegenstand in Verbindung mit demjenigen der anderen Anmeldung beansprucht werden. Mit anderen Worten: Wenn die Stammanmeldung und die Teilanmeldung jeweils einen eigenen, vom anderen verschiedenen Bestandteil A bzw. B beanspruchen, die in Verbindung miteinander funktionieren, kann eine der beiden Anmeldungen auch einen Patentanspruch für A plus B enthalten.”

3.3 Obwohl der am Ende der oben zitierten Textstelle angeführte Fall nicht genau mit dem dieser Beschwerde zugrunde liegenden identisch ist, bei der B (s. Nr. 2.3) kein eigener, vom anderen verschiedener Bestandteil ist, sondern das Merkmal “zweite dielektrische Schicht” verkörpert, das wohl nicht für sich alleine beansprucht werden dürfte, stimmt die Kammer mit der Beschwerdeführerin darin überein, daß die Ansprüche im vorliegenden Fall keine im Sinne der Richtlinien miteinander “kollidierenden” Ansprüche sind. Daher muß die Frage, ob es im Recht und in der Praxis der Vertragsstaaten eine Rechtsgrundlage für das in den Richtlinien ausgesprochene Verbot “kollidierender” Ansprüche gibt, nicht im Rahmen dieser Beschwerde entschieden werden. Wohl aber ist zu entscheiden, ob es für die Zurückweisung aufgrund des hier vorliegenden Sachverhalts eine Rechtsgrundlage gibt, d. h. ob ein Erfordernis des EPÜ nicht erfüllt ist (s. Artikel 97 (1) EPÜ).

3.4 Tatsächlich kommen Ansprüche auf A und AB in aufeinanderfolgenden Anmeldungen typischerweise dann vor, wenn eine Erfindung später durch Hinzufügung eines Merkmals B weiterentwickelt wird. Wurde die frühere Anmeldung vorveröffentlicht (Bezug auf Artikel 54 (2) EPÜ) und stellt AB eine erfinderische Kombination dar, so ist die Erteilung zweier Patente an denselben Inhaber nicht zu beanstanden, obwohl bei unrechtmäßiger Verwendung der modifizierten Version von A, nämlich AB, zwei Patente verletzt werden (double jeopardy). Wurde die frühere Anmeldung nicht vorveröffentlicht (Bezug auf Artikel 54 (3) EPÜ), so kann ein Patent auf AB erteilt werden, selbst wenn es sich um eine naheliegende Variante von A handelt. Angesichts der Tatsache, daß diese Art “Überschneidung” in den vorgenannten Fällen nicht durch das EPÜ verwehrt wird, ist es der Kammer nicht einsichtig, warum sie zwischen Teil- und Stammanmeldungen untersagt sein sollte. Man könnte zwar der Auffassung sein, daß ein solches Verbot wünschenswert ist, um die starke Zunahme von Patenten auf naheliegende Varianten zu verhindern, doch erscheint es ungerecht, in diesem Punkt zwischen gleichzeitigen Anmeldungen, bei denen ein Bezug auf Artikel 54 (3) EPÜ besteht, einerseits und Teilanmeldungen andererseits zu unterscheiden. Vor allem bedarf ein solches Verbot einer Rechtsgrundlage.

3.5 Die Prüfungsabteilung hat offenbar den Verweis in den Richtlinien auf “ein anerkanntes Prinzip in den meisten Patentsystemen” so interpretiert, daß die Bestimmungen des Artikels 125 EPÜ (“Soweit dieses Übereinkommen Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, berücksichtigt das Europäische Patentamt die in den Vertragsstaaten im allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts.”) die Rechtsgrundlage für das in den Richtlinien ausgesprochene Verbot “kollidierender” Ansprüche und damit nach ihrer Auslegung der Richtlinien eine Rechtsgrundlage für die angefochtene Zurückweisungsentscheidung darstellten.

3.6 Die Kammer weist darauf hin, daß das Verfahren zur Einreichung von Teilanmeldungen im Dritten Teil des EPÜ in Artikel 76 EPÜ festgelegt ist, dessen Absatz (3) lautet: “Das Verfahren zur Durchführung des Absatzes 1, die besonderen Erfordernisse der europäischen Teilanmeldung und … sind in der Ausführungsordnung vorgeschrieben.” Nach Auffassung der Kammer gilt die Rechtsvermutung, daß das Rechtsinstitut der Teilanmeldung, so wie es im Übereinkommen definiert ist, in sich geschlossen und vollständig ist. Ganz abgesehen von der Überlegung, daß ein etwaiges Verbot “kollidierender” Ansprüche im weiteren Sinne, wie es in der strittigen Entscheidung von der Prüfungsabteilung vertreten wurde, eine Angelegenheit des materiellen Rechts und nicht des Verfahrensrechts wäre – und daß Artikel 125 EPÜ nicht auf das materielle Recht anwendbar ist (s. Singer/Stauder EPÜ, 2. Auflage, S. 786 Rdn. 4 und 5) -, ist demnach die Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 125 EPÜ – das Fehlen von “Vorschriften über das Verfahren” im Übereinkommen – nicht erfüllt. Daraus folgt, daß Artikel 125 EPÜ nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar ist.

3.7 Die Kammer kommt zu dem Schluß, daß das EPÜ keine ausdrückliche oder implizite Bestimmung enthält, die das Bestehen eines unabhängigen Anspruchs in einer Teilanmeldung verbietet – sei es explizit oder als fiktiver Anspruch, der sich aus der Unterteilung eines tatsächlichen Anspruchs in fiktive Ansprüche unter Nennung expliziter Alternativen ergibt -, dessen Zusammenhang mit einem unabhängigen Anspruch der Stammanmeldung (oder des Stammpatents, wenn es wie im vorliegenden Fall bereits erteilt wurde) darin besteht, daß der “Stamm”anspruch alle Merkmale des “Teil”anspruchs in Verbindung mit einem zusätzlichen Merkmal enthält.

4. Die angefochtene Entscheidung ist deshalb aufzuheben und die Sache zur weiteren Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

5. Rückzahlung der Beschwerdegebühr – Regel 67 EPÜ

Im vorliegenden Fall wurde die Anmeldung unter Berufung auf Artikel 97 (1) EPÜ wegen des Verstoßes gegen ein nicht vorhandenes Erfordernis des EPÜ zurückgewiesen. Die Zurückweisung verletzte somit das Grundrecht der Beschwerdeführerin, wonach es eine Rechtsgrundlage für jegliches Erfordernis geben muß, das bei der Berufung auf Artikel 97 (1) EPÜ herangezogen wird. Da die Beschwerdeführerin gezwungen war, die vorliegende Beschwerde einzureichen, um die Aufhebung dieser Zurückweisung einzufordern, hält die Kammer es für billig, daß die Beschwerdegebühr zurückgezahlt wird.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.

3. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen.