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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1997:T095197.19971205
Datum der Entscheidung: 05 Dezember 1997
Aktenzeichen: T 0951/97
Anmeldenummer: 93103140.5
IPC-Klasse: H01L 29/04
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: Dünnschicht-Halbleitervorrichtung aus Polysilizium
Name des Anmelders: CASIO COMPUTER CO.
Name des Einsprechenden:
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: Eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts im Sinne der Regel 71a (1) und (2) liegt unter anderem dann vor, wenn die Prüfungsabteilung selbst nach einer Mitteilung gemäß Regel 71a erstmals in einer mündlichen Verhandlung ein neues Dokument in das Verfahren einführt, bei dem es sich um eine relevante neue Unterlage handelt.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 117(1)
European Patent Convention 1973 R 67
European Patent Convention 1973 R 68(2)
European Patent Convention 1973 R 71a(1)
European Patent Convention 1973 R 71a(2)
Schlagwörter: Rechtliches Gehör
Einführung neuer Beweismittel durch die Prüfungsabteilung in der mündlichen Verhandlung
Zulässigkeit eines in der mündlichen Verhandlung vorgelegten neuen Hilfsantrags
Mangelnde Begründung in der Entscheidung
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
T 0182/88
T 0183/89
T 0783/89
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0755/96
T 0376/98
T 0937/07
T 0408/08
T 2434/09

Sachverhalt und Anträge

I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 93 103 140.5 wurde nach mündlicher Verhandlung am 5. März 1997 durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 18. April 1997 mit der Begründung zurückgewiesen, daß der Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags und des ersten Hilfsantrags keine erfinderische Tätigkeit aufweise (S. 10, Nr. 6 der Entscheidung).

Darüber hinaus beschloß die Prüfungsabteilung laut der Entscheidung, die Verfahrensansprüche 1 – 3 des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten zweiten Hilfsantrags nicht zu berücksichtigen, und führte aus, daß ihre Zurückweisung “in Einklang mit Regel 71a EPÜ steht, weil sich der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt nicht geändert hat” (S. 3, Nr. 8 der Entscheidung).

Außerdem wurde die schriftliche Fortsetzung des Verfahrens mit der Begründung abgelehnt, daß der Fall entscheidungsreif sei (S. 3, Nr. 8 der Entscheidung).

II. Laut Protokoll der mündlichen Verhandlung, das ebenfalls das Datum 18. April 1997 trägt, führte die Prüfungsabteilung erstmals in dieser Verhandlung ein weiteres Dokument ein, nämlich D4 = IEEEE Transactions on Electron Devices, 35 (7), Juli 1988, S. 923 – 928. Dieses Dokument war im europäischen Recherchenbericht erwähnt, aber in keiner Phase des Prüfungsverfahrens vor der mündlichen Verhandlung angezogen worden; insbesondere war D4 von der Prüfungsabteilung in der zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung ergangenen Mitteilung nach Regel 71a nicht aufgegriffen worden.

Nach Einführung dieser neuen Entgegenhaltung wurde die mündliche Verhandlung für eine halbe Stunde unterbrochen, um dem Vertreter der Beschwerdeführerin Gelegenheit zu geben, D4 zu prüfen. Danach erklärte der Vertreter der Beschwerdeführerin (laut Protokoll) er beabsichtige, einen Verfahrensanspruch vorzulegen, da der Inhalt von D4 überraschend sei und eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts bedeute. Anschließend legte der Vertreter die Verfahrensansprüche 1 – 3 als zweiten Hilfsantrag vor. Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung erneut unterbrochen, damit die Prüfungsabteilung diese Verfahrensansprüche prüfen konnte.

Dem Protokoll ist zu entnehmen, daß nach Prüfung der neu vorgelegten Verfahrensansprüche 1 – 3 durch die Prüfungsabteilung die Verhandlung wie folgt fortgesetzt wurde:

“Der Vorsitzende stellte fest, daß die vorgelegten Verfahrensansprüche nach Regel 71a EPÜ nicht zum Verfahren zugelassen würden, und gab dafür eine kurze Begründung, nämlich, daß sie prima facie nicht zulässig (Art. 123 (2) EPÜ) und inter alia wegen mangelnder Klarheit (Art. 84 EPÜ) nicht gewährbar seien” (vgl. S. 3, letzter Absatz bis S. 4, erster Absatz).

Auf diese Feststellung der Prüfungsabteilung erwiderte der Vertreter der Beschwerdeführerin, daß eine weitere Gelegenheit zur Änderung gegeben werden sollte, da von der Prüfungsabteilung eine neue Entgegenhaltung eingeführt und damit der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt geändert worden sei. Darüber hinaus solle der Beschwerdeführerin ausreichend Zeit gegeben werden, sich zu dieser neu angezogenen Druckschrift zu äußern; andernfalls läge ein Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ vor. Zur Stützung seines Vortrags zitierte der Vertreter die Entscheidung T 783/89 vom 19. Februar 1991.

Wie dem Protokoll zu entnehmen ist, verkündete der Vorsitzende nach zwei weiteren Beratungen der Prüfungsabteilung deren Entscheidung, wonach die Anmeldung nach Artikel 97 (1) EPÜ aus folgenden Gründen zurückgewiesen werde:

“… der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs 1 sowohl des Hauptantrags als auch des [ersten] Hilfsantrags weist in bezug auf die Lehre von D1 und/oder D4 und das allgemeine Fachwissen des Fachmanns keine erfinderische Tätigkeit auf” (S. 5, vorletzter Absatz) (Hervorhebung durch die Kammer).

Darüber hinaus wurden laut Protokoll die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Ansprüche 1 – 3 des zweiten Hilfsantrags

“nicht zugelassen und die schriftliche Fortsetzung des Verfahrens abgelehnt, da der Fall entscheidungsreif sei” (S. 5, vorletzter Absatz, letzter Satz).

III. Die Anmelderin legte ordnungsgemäß Beschwerde ein. Die Beschwerdeschrift wurde am 30. Juni 1997 eingereicht und die Beschwerdegebühr am selben Tag entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 28. August 1997 nachgereicht, und die Beschwerdeführerin beantragte, daß die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufgehoben und ein Patent auf der Grundlage des von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Hauptantrags und eines neuen Hilfsantrags erteilt werde. Die Beschwerdeführerin beantragte zusätzlich die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ. Schließlich wurde eine mündliche Verhandlung beantragt, falls weder dem Hauptantrag noch dem Hilfsantrag stattgegeben werden könne. Die Beschwerdeführerin brachte Argumente vor, warum ihrer Ansicht nach der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs 1 des Hauptantrags und des (geänderten) Hilfsantrags gewährbar sei (Abschnitt I und II der Beschwerdebegründung).

Unter Abschnitt III der Beschwerdebegründung brachte die Beschwerdeführerin als Argument für die beantragte Rückzahlung der Beschwerdegebühr vor, daß in der mündlichen Verhandlung ein wesentlicher Verfahrensmangel vorgelegen habe. Die wichtigsten Passagen dieses Abschnitts lassen sich wie folgt zusammenfassen:

– Die Prüfungsabteilung hatte durch die Einführung einer neuen Entgegenhaltung D4 in das Prüfungsverfahren während der mündlichen Verhandlung neue Argumente vorgetragen, und der Vertreter der Anmelderin hatte zwar Gelegenheit gehabt, diese anzuhören, es war ihm aber nicht ermöglicht worden, mit neuformulierten Ansprüchen darauf zu reagieren. Daher sind die Rechte der Anmelderin nach Artikel 113 EPÜ verletzt worden.

– In den Entscheidungsgründen der Prüfungsabteilung sollte der Eindruck vermittelt werden, daß die Druckschrift D4 nur angezogen worden sei, “um den Vertreter zu überzeugen”; die Entscheidungsgründe in bezug auf die erfinderische Tätigkeit stützten sich jedoch weitgehend auf dieses Dokument. Hätte man die Druckschrift D4 nicht für relevant gehalten, so wäre ihre Einführung nicht erforderlich gewesen.

– Daß die Druckschrift aber relevant war, wurde dadurch unter Beweis gestellt, daß sich die Prüfungsabteilung in den Entscheidungsgründen sogar auf eben diese neue Entgegenhaltung D4 gestützt hat, und daß sich auch in der mündlichen Verhandlung nach der Einführung des Dokuments D4 ganz neue Aspekte ergaben. Daher war das “Recht des Anmelders auf rechtliches Gehör” verletzt worden, was einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ rechtfertigt.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 – 108 und Regel 64 EPÜ und ist daher zulässig.

2. Die Voraussetzungen, unter denen eine europäische Patentanmeldung im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt geändert werden kann, sind in Artikel 123 und Regel 86 EPÜ geregelt. Nach Erhalt des europäischen Recherchenberichts und vor Erhalt des ersten Bescheids der Prüfungsabteilung kann der Anmelder von sich aus die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen ändern (R. 86 (2) EPÜ). Nach Erhalt des ersten Bescheids der Prüfungsabteilung kann der Anmelder von sich aus die Beschreibung, die Patentansprüche und Zeichnungen in der Erwiderung auf den Bescheid noch einmal ändern. Weitere Änderungen können nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden (R. 86 (3) EPÜ). Ob diese Zustimmung erteilt wird, liegt im Ermessen der Prüfungsabteilung und hängt vom Einzelfall ab, insbesondere von den für eine Änderung dargelegten Gründen und ebenso vom Stand des Verfahrens. Eine Änderung läßt sich in einer früheren Verfahrensphase eher erreichen als in einer späteren (vgl. Singer, Hg. Lunzer, 123.05).

3. Regel 71a greift für die Einreichung von Änderungen vor der mündlichen Verhandlung. Regel 71a (1) verpflichtet u. a. die Prüfungsabteilung, die Beteiligten vor der mündlichen Verhandlung mit der Ladung auf die Fragen hinzuweisen, die sie für die zu treffende Entscheidung als erörterungsbedürftig ansieht. Gleichzeitig wird ein Zeitpunkt bestimmt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können; nach Regel 71a (2) können die Beteiligten aufgefordert werden, Unterlagen einzureichen, die den Erfordernissen des Übereinkommens genügen, darunter auch Änderungen der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen. Tatsächlich wurde die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall in einem Bescheid nach Regel 71a zur Einreichung von Schriftsätzen und Änderungen aufgefordert. Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind (R. 71a (1), Satz 4, EPÜ). Diese Vorschrift ist auf nach diesem Zeitpunkt eingereichte Änderungen entsprechend anzuwenden (R. 71a (2), Satz 2).

4. Laut dem vorstehend unter Nummer II kurz dargestellten Protokoll vom 18. April 1997 über die mündliche Verhandlung vor der Prüfungsabteilung führte die Prüfungsabteilung in der mündlichen Verhandlung eine neue Entgegenhaltung D4 in das Verfahren ein, die im europäischen Recherchenbericht angeführt, aber im Prüfungsverfahren bis dahin noch nicht angezogen worden war.

4.1 Mit der Vorlage dieser neuen Entgegenhaltung werden neue Tatsachen und Beweismittel in das Verfahren eingeführt, wie dem Wortlaut des Artikels 117 (1) EPÜ zu entnehmen ist:

“In dem Verfahren vor einer Prüfungsabteilung, … sind insbesondere folgende Beweismittel zulässig:

a) …

b) …

c) Vorlegung von Urkunden;”

Nach der Vorlage dieses neuen Beweismittels wurde die mündliche Verhandlung für eine halbe Stunde unterbrochen, um dem Anmelder Gelegenheit zur Prüfung dieses Dokuments zu geben, bei dem es sich um einen 5 1/2 Seiten langen Artikel aus einer wissenschaftlichen Zeitschrift handelt. Solche wissenschaftlichen Artikel sind in der Regel und auch im vorliegenden Fall in Text und Gliederung komplizierter als Patentliteratur, die weitgehend standardisiert ist. Daher ist nach Auffassung der Kammer eine halbe Stunde für die angemessene Analyse einer so schwierigen Abhandlung zu kurz. Zudem befaßte sich die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung nicht mit dem Vortrag des Anmelders in bezug auf die Relevanz der Druckschrift D4 für die erfinderische Tätigkeit.

4.2 Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung, wonach die Anmeldung nach Artikel 97 (1) EPÜ mit der Begründung zurückgewiesen wurde, daß

“der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs 1 sowohl des Hauptantrags als auch des Hilfsantrags in bezug auf die Lehre von D1 und/oder D4 und das allgemeine Fachwissen des Fachmanns keine erfinderische Tätigkeit aufweist”; vgl. S. 5, vorletzter Absatz des Protokolls (Hervorhebung durch die Kammer).

Die Prüfungsabteilung gab zwar zu verstehen, daß das Dokument D4 nur angezogen worden ist,

– “um etwa noch bestehende Zweifel in bezug auf die Begründetheit ihrer (der Prüfungsabteilung) Haltung auszuräumen” (S. 3, Abs. 4 des Protokolls) und

– “um zu betonen, daß das oben Gesagte zum Lehrbuchwissen gehört” (S. 6, Abs. 5 der Entscheidung),

doch besteht kein Zweifel, daß die Druckschrift D4 kein Lehrbuch ist und auch kein Lehrbuchwissen vermittelt, sondern daß sie die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet elektronischer Bauelemente darstellt, wie dies bei solchen wissenschaftlichen Zeitschriften üblich ist.

Darüber hinaus ergibt sich eindeutig aus der Argumentation der Prüfungsabteilung, die

– “… insbesondere erklärte, daß die Feststellung auf Seite 927 von D4 klar und genau ist und sich offensichtlich auch auf die Passage auf Seite 924 bezog. Infolgedessen konnte … im Hinblick auf D4 nicht als eine erfinderische Tätigkeit aufweisend betrachtet werden” (vgl. S. 3, Abs. 2 des Protokolls) und ausführte,

– “… wie D4 auf Seite 927 … in Verbindung mit Seite 924 jedoch eindeutig lehrt …” und “Daher bietet D4 dem Fachmann einen deutlichen Anreiz zu versuchen, …” (vgl. S. 6, letzter Absatz bis S. 7, erster Absatz der Entscheidung) (Hervorhebung durch die Kammer),

daß die Entscheidung, in bezug auf den Hauptantrag und den ersten Hilfsantrag auf mangelnde erfinderische Tätigkeit zu erkennen, ohne Einführung der Entgegenhaltung D4 als neues Beweismittel nicht hätte begründet werden können. Aus den vorstehenden Gründen war die Druckschrift D4 für die Feststellung der Prüfungsabteilung in bezug auf die erfinderische Tätigkeit eindeutig entscheidungswesentlich.

Demzufolge war die Entscheidung auf Beweismittel gestützt, zu denen sich die Anmelderin nicht – wie nach Artikel 113 (1) EPÜ vorgeschrieben – hinreichend äußern konnte.

Weil das rechtliche Gehör einen der fundamentalen Verfahrensgrundsätze des EPÜ darstellt, bedeutet die Verletzung dieses Grundsatzes einen wesentlichen Verfahrensmangel.

5. Darüber hinaus entschied die Prüfungsabteilung, den zweiten Hilfsantrag nach Regel 71a EPÜ nicht zu berücksichtigen, da sich der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt nicht geändert habe.

5.1 Die Zulässigkeit von Haupt- oder Hilfsanträgen, die nach dem von der Prüfungsabteilung mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung bestimmten Zeitpunkt eingereicht werden, ist unter Berücksichtigung sowohl der Regel 86 (3), die die Zulassung oder Zurückweisung von Änderungen in das allgemeine Ermessen der Prüfungsabteilung stellt, als auch der Regel 71a (1) Satz 4 zu prüfen, der nach Regel 71a (2) entsprechend anzuwenden ist und wie folgt lautet:

“Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind” (Hervorhebung durch die Kammer).

Nach Auffassung der Kammer bedeutet die Formulierung “brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht … zuzulassen sind”, daß die Prüfungsabteilung generell nicht zur Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel oder von Änderungen verpflichtet ist, sondern daß dies in ihr Ermessen gestellt bleibt; bei einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts sollte sie ihr Ermessen jedoch dahingehend ausüben, daß sie diese zuläßt.

Es stellt sich daher die Frage, ob in diesem Fall die Einführung der Druckschrift D4 in der mündlichen Verhandlung durch die Prüfungsabteilung selbst den dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalt geändert hat. Die Prüfungsabteilung vertrat die Auffassung, daß sich der Sachverhalt nicht geändert habe, gab aber keine Begründung an. Regel 71a EPÜ trat erst vor relativ kurzer Zeit, nämlich am 1. Juni 1995, in Kraft, und eine Interpretation der Beschwerdekammern zur Formulierung “eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts” liegt bislang noch nicht vor. Nach den Richtlinien läge eine solche Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts beispielsweise im folgenden Fall vor: “Reicht der Einsprechende … vor dem angegebenen Zeitpunkt relevante neue Unterlagen ein, so muß der Patentinhaber die Möglichkeit erhalten, sich hierzu zu äußern und Änderungen einzureichen (Art. 113 (1))” (E-III, 8.6). Die Kammer schließt sich dieser Definition an.

Analog dazu war daher nach Auffassung der Kammer die Einführung von D4 durch die Prüfungsabteilung in der mündlichen Verhandlung mit der Vorlage von relevanten neuen Unterlagen gleichzusetzen, und von der Prüfungsabteilung hätte nach Sachlage erwartet werden können, daß sie ihren Ermessensspielraum nutzt, um daraufhin eingereichte Änderungen zuzulassen und um einen Verstoß gegen Artikel 113 (1) zu vermeiden. Außerdem würde es nach Auffassung der Kammer im Widerspruch zur rechtmäßigen Ausübung eines solchen Ermessens stehen, wenn eindeutig zulässige Änderungen, die die noch bestehenden Einwände ausräumen, nicht zum Verfahren zugelassen würden.

Unter den gegebenen Umständen kann die Kammer jedoch aus den nachstehend unter Nummer 5.2 dargelegten Gründen nicht beurteilen, ob die Prüfungsabteilung ihr Ermessen in angemessener Weise ausgeübt hat oder ob ihre Entscheidung auf falschen Grundsätzen beruhte.

5.2 Laut Protokoll der mündlichen Verhandlung, bei deren Ende die angefochtene Entscheidung verkündet wurde, beschloß die Prüfungsabteilung, den zweiten Hilfsantrag nicht zuzulassen, gab aber keine Gründe oder Argumente dafür an, warum der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt sich ihrer Meinung nach nicht geändert habe. Unter “I. Sachverhalt und Anträge”, Nr. 8 der angefochtenen Entscheidung, wird lediglich festgestellt:

“Die Prüfungsabteilung beschloß, die Verfahrensansprüche (zweiter Hilfsantrag) nach Regel 71a EPÜ nicht zu berücksichtigen, da sich der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt nicht geändert hat.”

Hier handelt es sich lediglich um eine knappe Feststellung ohne jede Angabe von rechtlichen oder faktischen Gründen für die Aussage, daß der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt sich nicht geändert habe. In Abschnitt “II. Entscheidungsgründe” der Entscheidung der Prüfungsabteilung wird der zweite Hilfsantrag nicht einmal erwähnt. Die Prüfungsabteilung hat also für ihre Entscheidung, den zweiten Hilfsantrag nicht zuzulassen, keinerlei Begründung angegeben, wie Regel 68 (2) EPÜ es verlangt (s. T 182/88 (ABl. EPA 1990, 287) und T 183/89 vom 30. Juli 1990), und nicht einmal auf die im Protokoll der mündlichen Verhandlung erwähnten kurzen weiteren Entscheidungsgründe Bezug genommen. Im übrigen waren diese Gründe selbst nicht ausreichend substantiiert (vgl. S. 3, letzter Absatz bis S. 4, erster Absatz).

Daher entspricht die angefochtene Entscheidung nicht Regel 68 (2) EPÜ, was einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel bedeutet.

6. Die Kammer gelangt daher zu dem Schluß, daß die angefochtene Entscheidung aufzuheben ist, und macht von ihrer Befugnis nach Artikel 111 (1) EPÜ Gebrauch, die Angelegenheit an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin in bezug auf Dokument D4 zurückzuverweisen.

Darüber hinaus vertritt die Kammer die Auffassung, daß es angesichts der erheblichen Verfahrensmängel (s. Nrn. 4.2 und 5.2) billig ist, die Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ zurückzuzahlen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.