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Sachverhalt und Anträge
I. Die Technischen Beschwerdekammern 3.4.02 und 3.4.03 haben die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ mit ähnlichen Rechtsfragen befasst.
Mit der Zwischenentscheidung T 39/03 (ABl. EPA 2006, 362) hat die Technische Beschwerdekammer 3.4.02 der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorgelegt (Aktenzeichen G 1/05):
1) Kann eine Teilanmeldung, die den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ nicht genügt, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Einreichung über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgeht, später geändert werden, um sie zu einer gültigen Teilanmeldung zu machen?
2) Falls die Frage 1 bejaht wird, ist dies auch dann noch möglich, wenn die frühere Anmeldung nicht mehr anhängig ist?
3) Falls die Frage 2 bejaht wird, unterliegt diese Möglichkeit weiteren sachlichen Einschränkungen, die über die Auflagen der Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ hinausgehen? Kann die berichtigte Teilanmeldung insbesondere auf Aspekte der früheren Anmeldung gerichtet werden, die nicht von den Aspekten umfasst werden, auf die die Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gerichtet war?
II. Mit der Zwischenentscheidung T 1409/05 (ABl. EPA 2007, 113) hat die Technische Beschwerdekammer 3.4.03 der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorgelegt (Aktenzeichen G 1/06):
1) Ist es bei einer Kette von Anmeldungen bestehend aus einer (ursprünglichen) Stammanmeldung und darauf folgenden Teilanmeldungen, von denen jede einzelne aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurde, eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass eine Teilanmeldung dieser Kette den Erfordernissen des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ genügt, dass sich die gesamte Offenbarung dieser Teilanmeldung unmittelbar, eindeutig und einzeln aus dem Offenbarungsgehalt jeder vorangehenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lässt?
2) Falls diese Bedingung nicht hinreichend ist, wird mit diesem Satz dann zusätzlich verlangt,
a) dass der Anspruchsgegenstand dieser Teilanmeldung in den Anspruchsgegenständen der vorangehenden Teilanmeldungen enthalten sein muss oder
b) dass sämtliche dieser Teilanmeldung vorangehenden Teilanmeldungen das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllen müssen?
III. Gemäß Artikel 8 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer entschied die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung vom 6. April 2006, die ihr mit T 39/03 (G 1/05) und T 1409/05 (G 1/06) vorgelegten Rechtsfragen in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln, und forderte ferner mit ihren Entscheidungen vom 24. Oktober 2005 bzw. 6. April 2006 den Präsidenten des EPA auf, sich zu den jeweiligen Rechtsfragen schriftlich zu äußern.
Mit der Entscheidung T 1040/04 (ABl. EPA 2006, 597) hatte die Technische Beschwerdekammer 3.2.03 der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage betreffend die Änderung eines Patents vorgelegt (Aktenzeichen G 3/06), das auf eine Teilanmeldung erteilt worden war, die zum Zeitpunkt ihrer Einreichung über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausging. Die Große Beschwerdekammer entschied am 9. Mai 2006, auch diese Rechtsfrage im gemeinsamen Verfahren mit G 1/05 und G 1/06 zu behandeln.
Ein Mitglied der Großen Beschwerdekammer teilte der Kammer mit, dass es möglicherweise Einwände gegen seine Mitwirkung am Vorlageverfahren G 3/06 geben könnte, weil es in familiärer Beziehung zu Mitarbeitern der einen Verfahrensbeteiligten vertretenden Kanzlei stehe. Der Vertreter der Beschwerdeführerin in der Sache T 1409/05 stellte mit Schreiben vom 14. Juni 2006 die Mitwirkung eines weiteren Mitglieds der Großen Beschwerdekammer infrage, weil es aufgrund seiner Mitwirkung in der Sache T 90/03 bereits zur nun anstehenden Thematik Stellung genommen habe. Nachdem die Große Beschwerdekammer zunächst die abgelehnten Mitglieder und anschließend die Verfahrensbeteiligten aufgefordert hatte, sich zu äußern, erließ sie am 7. Dezember 2006 in einer Zusammensetzung ohne die betroffenen Mitglieder eine Zwischenentscheidung darüber, in welcher Zusammensetzung sie die ihr vorgelegten Fragen zu behandeln habe.
Mit einer Feststellungsverfügung vom 26. April 2007 beendete die Große Beschwerdekammer das Verfahren G 3/06, weil es gegenstandslos geworden war, nachdem die Beschwerdekammer 3.2.03 das Verfahren T 1040/04 wegen Rücknahme aller Beschwerden eingestellt hatte.
IV. a) In der Sache T 39/03 (G 1/05) richtete sich die Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, eine Teilanmeldung mit der Begründung zurückzuweisen, dass keiner der Anträge der Anmelderin den Erfordernissen des EPÜ genüge. Die Prüfungsabteilung war insbesondere der Auffassung, dass die Teilanmeldung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße, weil ein bestimmtes in mehreren unabhängigen Patentansprüchen enthaltenes Merkmal in der früheren Anmeldung nicht offenbart gewesen sei. Mit Bescheid vom 22. Dezember 2004 teilte die Kammer der Beschwerdeführerin mit, dass die Anmeldung weder in der ursprünglichen noch in der ersatzweise eingereichten Fassung den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ genüge. Sie hielt es für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob eine Teilanmeldung, die in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ genüge, im Laufe des Prüfungsverfahrens zur Erfüllung dieser Erfordernisse noch geändert werden könne. Die Kammer erklärte daher, dass sie beabsichtige, diese Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
b) Nachdem die vorlegende Kammer 3.4.02 festgestellt hatte, dass die ursprünglich eingereichte Fassung der Teilanmeldung dem Anschein nach in einer Reihe von Aspekten auf einen Gegenstand gerichtet war, der über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausging, und damit gegen die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ verstieß, erklärte sie, ihr sei vollauf bewusst, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die ursprünglich eingereichte Fassung einer Teilanmeldung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße, die ständige Praxis des EPA darin bestehe, dem Anmelder zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt des Prüfungsverfahrens eine Änderung der Teilanmeldung zwecks Erfüllung der Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ zu gestatten (Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, Kapitel C-VI, 9.1.4).
Die vorlegende Kammer führte weiter aus, dass die Beschwerdekammern diese Praxis bisher offenbar nicht in Frage gestellt hätten, denn sie gestatteten in vielen Fällen eine spätere Änderung von Teilanmeldungen, die in der ursprünglich eingereichten Fassung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstießen (siehe z. B. die Entscheidungen T 1074/97 vom 20. März 2003 und T 1092/04 vom 6. Oktober 2004).
c) Dennoch hatte die vorlegende Kammer starke Bedenken, ob diese Praxis richtig sei, und zwar in erster Linie wegen einer Reihe von Unvereinbarkeiten der bestehenden Praxis zum einen mit der neueren Entwicklung der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Behandlung von Teilanmeldungen, die als Teilanmeldungen zu früheren Teilanmeldungen eingereicht werden, und zum anderen mit Regel 25 (1) EPÜ, in der eine Frist für die Einreichung von Teilanmeldungen gesetzt wird. Untermauert zu werden schienen diese Bedenken auch durch den ausdrücklichen Wortlaut des Artikels 76 EPÜ, die Rechtsprechung in einem Vertragsstaat (Großbritannien) und die Materialien zum EPÜ (“Travaux préparatoires”).
Ein mit der derzeitigen Praxis verbundenes Problem trat im Gefolge der neueren Rechtsprechung der Beschwerdekammern zutage, wonach die Einreichung von Teilanmeldungen zu früheren Teilanmeldungen zulässig ist (s. insbesondere die Entscheidung T 1158/01, ABl. EPA 2005, 110). In dieser Sache entschied die vorlegende Kammer in anderer Zusammensetzung, dass bei der Prüfung der Gültigkeit der Teilanmeldung zweiter Generation auch die Gültigkeit der Teilanmeldung erster Generation zu prüfen sei, um Rechtsunsicherheiten zu vermeiden, falls die Teilanmeldung erster Generation wegen eines Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ ungültig sei oder werde.
Dass das EPA im Rahmen seiner jetzigen Praxis zu einem späten Zeitpunkt des Prüfungsverfahrens noch Änderungen gestatte, die der Streichung unzulässiger Erweiterungen aus der ursprünglich eingereichten Fassung von Teilanmeldungen, also der Ausräumung von Einwänden gemäß Artikel 76 (1) EPÜ dienten, und zwar unabhängig davon, ob die frühere Patentanmeldung noch anhängig sei, sowie ohne eine andere Einschränkung als die in Artikel 123 (2) EPÜ verankerte, bedeute nach Auffassung der vorlegenden Kammer zudem, dass den Anmeldern letztlich gestattet werde, entgegen den Bestimmungen der Regel 25 (1) EPÜ gültige Teilanmeldungen zu formulieren. Dies sei der Rechtssicherheit der Öffentlichkeit abträglich und könne als Praxis gewertet werden, die dem potenziellen Missbrauch der im EPÜ vorgesehenen Möglichkeit zur Einreichung von Teilanmeldungen Tür und Tor öffne.
Ähnliche Bedenken wegen der potenziellen Auswirkungen, die die späte Formulierung von Teilanmeldungen auf die Rechtssicherheit für die Öffentlichkeit haben könnte, hat die vorlegende Kammer in anderer Zusammensetzung in ihren Entscheidungen T 720/02 und T 797/02, beide vom 23. September 2004 (s. Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe in beiden Fällen), zum Ausdruck gebracht, wo es um die richtige Behandlung mehrerer aufeinanderfolgender Teilanmeldungen ging.
Ausdrücklich gestützt sah die vorlegende Kammer ihre Vorbehalte gegen die bestehende Praxis des EPA auch durch Artikel 76 (1) EPÜ. Dieser beziehe sich nämlich ausdrücklich auf die Einreichung von Teilanmeldungen und regle, welchen Erfordernissen eine Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung genügen müsse. Die Folgen, die sich ergäben, wenn eine Teilanmeldung diesen Erfordernissen entspreche, seien so zu verstehen, dass eine Teilanmeldung nur dann den Anmelde- und Prioritätstag der früheren Anmeldung in Anspruch nehmen könne, wenn sie tatsächlich für einen Gegenstand eingereicht worden sei, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgehe.
Die Frage der richtigen Auslegung sehr ähnlicher Rechtsvorschriften für Teilanmeldungen, die in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unzulässige Erweiterungen enthalten, sei vom britischen Patentgericht eingehend geprüft worden, das in seiner Entscheidung “Hydroacoustics Incorporated’s Applications” (s. Fleet Street Reports [1981], S. 538 – 550) § 76 (1) des britischen Patentgesetzes von 1977 anzuwenden hatte, in dem es heißt:
“Eine Patentanmeldung (die jüngere Anmeldung) kann nicht … in Bezug auf einen Gegenstand eingereicht werden, der bereits in einer älteren Anmeldung … offenbart ist, wenn die jüngere Anmeldung einen Gegenstand offenbart, der über das in der eingereichten älteren Anmeldung … Offenbarte hinausgeht.”
Aus diesem Wortlaut, der nach Auffassung der vorlegenden Kammer offensichtlich als Pendant zu den entsprechenden Bestimmungen des Artikels 76 (1) EPÜ gedacht war, folgerte das Gericht (s. S. 548, zweiter Absatz), dass die Einreichung einer Teilanmeldung zwingend unzulässig sei, wenn diese einen in der Stammanmeldung nicht offenbarten Gegenstand enthalte. Das Gericht verwarf das Argument der Anmelderin (s. S. 548, dritter Absatz), wonach der Wortlaut “kann nicht … eingereicht werden” nicht so zu verstehen sei, dass eine unzulässig erweiterte Teilanmeldung nicht eingereicht werden dürfe, sondern vielmehr bedeute, dass sie “nicht weiter bearbeitet werden” dürfe, es dem Anmelder also gestattet sein sollte, die unzulässigen Erweiterungen zu streichen und dann den in der Stammanmeldung offenbarten Gegenstand weiter zu verfolgen. Das Gericht erachtete den Wortlaut “kann nicht … eingereicht werden” für vollkommen eindeutig und sah keinen Grund, warum er nicht in diesem eindeutigen Sinne hätte verstanden werden sollen.
Die vorlegende Kammer merkte hierzu an, dass § 76 des britischen Patentgesetzes von 1977 mit Wirkung vom 7. Januar 1991 geändert wurde, um die spätere Streichung unzulässiger Erweiterungen ausdrücklich zu gestatten. Die Vorschrift lautet nun: “Eine Patentanmeldung, die in Bezug auf Material vorgenommen wird, das bereits in einer früheren Anmeldung … offenbart ist, und zusätzliches Material offenbart, d. h. Material, das über das in der eingereichten früheren Anmeldung … offenbarte Material hinausgeht, kann … eingereicht werden, jedoch darf sie nicht weiter bearbeitet werden, wenn sie nicht so geändert wird, dass das zusätzliche Material ausgeschlossen wird.”
Artikel 76 (1) EPÜ ist hingegen unverändert geblieben.
Die vorlegende Kammer fand auch in den “Travaux préparatoires” Hinweise darauf, dass die Schaffung einer Möglichkeit, in Teilanmeldungen unzulässige, über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgehende Erweiterungen zu streichen, damit die Erfordernisse des Artikels 76 EPÜ erfüllt sind, im EPÜ nicht gewollt war. Aus den Berichten der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 (s. M/PR/I, S. 36 und 37) gehe hervor, dass Artikel 74 (jetzt Artikel 76, Teilanmeldungen) Anlass zu einer eingehenden Erörterung insbesondere der Frage gegeben habe, ob unzulässige Erweiterungen in Teilanmeldungen zum Stand der Technik gemäß Artikel 52 (jetzt Artikel 54) Absatz 3 EPÜ gehörten. Diese Erörterungen seien unter Nummer 210 des Berichts zusammengefasst. Dort heißt es: “Enthält eine Teilanmeldung neue Beispiele, die über den Inhalt der früheren Anmeldung in ihrer ursprünglichen Fassung hinausgehen, so sind diese unzulässig; sie werden aber nicht gestrichen …”
V. a) In der Sache T 1409/05 (G 1/06), war die strittige Anmeldung die dritte in einer Kette von Teilanmeldungen A1, A2, A3, die aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden worden waren und auf eine (ursprüngliche) Stammanmeldung A0 zurückgingen. Auf die Stammanmeldung und auf die erste Teilanmeldung A1 war ein Patent erteilt worden. Die zweite Teilanmeldung A2 war wegen Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ zurückgewiesen worden. Die Prüfungsabteilung hatte A3 zurückgewiesen, und zwar ausgehend davon, was sie als ratio decidendi der Entscheidung T 555/00 vom 11. März 2003 betrachtete, dass nämlich im Falle einer Teilanmeldung, die in der ursprünglich eingereichten Fassung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße, zwangsläufig auch eine daraus ausgeschiedene weitere Teilanmeldung gegen diesen Artikel verstoße; da A2 gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße, verstoße also auch die Teilanmeldung A3 dagegen.
b) Die vorlegende Kammer erklärte, dass nach dem ihr vorliegenden Sachverhalt zwar der Gegenstand von Anspruch 1 sowohl der strittigen Anmeldung A3 als auch ihrer Vorgängerin A2 (in der ursprünglich eingereichten Fassung) über den Umfang des Anspruchs 1 von A1 hinausgehe, der Gegenstand der strittigen Anmeldung jedoch in A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart gewesen sei, da A3 und A2 in der ursprünglich eingereichten Fassung identisch gewesen seien, und dass sich der Gegenstand der strittigen Anmeldung A3 unmittelbar und eindeutig aus A1 und A0 in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lasse.
c) Im Hinblick auf das anzuwendende Recht vertrat die vorlegende Kammer die Auffassung, dass in Artikel 76 (1) EPÜ unter dem “Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung” der “gesamte technische Informationsgehalt der Offenbarung” zu verstehen sei, und zwar sowohl der Beschreibung als auch der Ansprüche (T 514/88, ABl. EPA 1992, 570, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe; “Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA”, 4. Auflage 2001, Kapitel III.A.2; Singer/Stauder, “The European Patent Convention”, 3. Aufl., Art. 76 Rdn. 20), und dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern Artikel 123 (2) und Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ in dieser Hinsicht gleich auszulegen seien (s. o. und T 276/97 vom 26. Februar 1999, Nrn. 2.4 und 4.2 der Entscheidungsgründe). Außerdem seien die vorstehenden Grundsätze in T 873/04 vom 28. November 2005, Nr. 1 der Entscheidungsgründe, auf eine Kette von Teilanmeldungen angewandt worden, bei denen schon die vorangehende Anmeldung eine Teilanmeldung gewesen sei.
Die Kammer war der Ansicht, diese gängige Auffassung sei in den Entscheidungen T 720/02 und T 797/02 (mit im Wesentlichen identischer Begründung) infrage gestellt worden, wo es um eine Kette von (zwei) aus einer Ursprungsanmeldung hervorgegangenen Teilanmeldungen ging, deren Letztere aus der Ersten ausgeschieden worden war, und denen zufolge das Erfordernis des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ nur erfüllt sei, wenn alle nachfolgenden Teilanmeldungen auf Gegenstände gerichtet sind, die von der Erfindung bzw. der Gruppe von Erfindungen umfasst sind, die aus der Ursprungsanmeldung in der ersten Teilanmeldung ausgeschieden wurde; d. h., der Gegenstand der Teilanmeldung muss unter den Schutzumfang der Ansprüche der früheren Teilanmeldung fallen (s. Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe). In der jüngeren Entscheidung T 90/03 vom 17. März 2005 seien diese Grundsätze offenbar auch auf die erste Teilanmeldung angewandt worden (s. Nr. 2 der Entscheidungsgründe).
Zudem sei die Rechtsauffassung, auf die sich die Prüfungsabteilung in ihrer angefochtenen Zurückweisungsentscheidung gestützt habe, nämlich dass eine Teilanmeldung, die in der ursprünglich eingereichten Fassung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße, ungültig sei und zwangsläufig dazu führe, dass auch eine daraus ausgeschiedene weitere Teilanmeldung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße (eine nach Auffassung der vorlegenden Kammer falsche Auslegung von T 555/00), tatsächlich in den Beschwerdekammerentscheidungen T 904/97 vom 21. Oktober 1999 und T 1158/01 vertreten und in der gleichzeitig anhängigen Vorlageentscheidung T 39/03 übernommen worden.
d) Die vorlegende Kammer schloss sich nicht der in T 1158/01, T 720/02, T 797/02 oder T 39/03 vertretenen Auffassung zur Auslegung des Artikels 76 (1) EPÜ an und ebenso wenig deren Ausdehnung auf die Auslegung des Artikels 123 (2) EPÜ in Bezug auf Änderungen der Ansprüche einer Teilanmeldung in T 90/03, war aber der Meinung, dass durch die verschiedenen Auffassungen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen würden, die den Ausgang der Beschwerde potenziell beeinflussen könnten.
e) Ferner argumentierte die vorlegende Kammer, dass es im EPÜ keine Grundlage für das Konzept einer “ungültigen” Anmeldung gebe und keine Rechtfertigung, zwischen normalen und Teilanmeldungen über die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ hinaus zu unterscheiden, dessen unstrittiger Gesetzeszweck, nämlich zu verhindern, dass für einen über eine Kette von Anmeldungen “eingeschmuggelten” zusätzlichen Gegenstand Schutz gewährt werde, sich auf einfache und direkte Weise erreichen lasse, indem die Offenbarung in der konkret zu prüfenden Teilanmeldung daraufhin untersucht werde, ob sie in allen früheren Anmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung enthalten war, d. h. in allen vorangegangenen Generationen.
VI. Das Vorbringen und die Anträge der Beschwerdeführerin im Fall T 39/03 lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Einbeziehung der Formulierung “soweit diesem Erfordernis entsprochen wird” impliziere geradewegs, dass dem Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ entweder ganz oder teilweise entsprochen werden könne und dass eine teilweise Erfüllung des Artikels 76 (1) EPÜ so berichtigt werden könne, dass dem Artikel ganz entsprochen werde.
§ 76 (1) des britischen Patentgesetzes von 1977 sei nicht als Pendant zu den entsprechenden Bestimmungen des Artikels 76 (1) EPÜ gedacht (s. § 130 (7) des britischen Patentgesetzes von 1977). Außerdem enthalte der britische Artikel kein Äquivalent zu der im EPÜ-Artikel enthaltenen Formulierung “soweit diesem Erfordernis entsprochen wird”, also könne Ersterer nicht zur Auslegung des Letzteren herangezogen werden. Die ursprüngliche britische Vorschrift sei immer mehr als übermäßig hart empfunden und in der Zwischenzeit dahin gehend geändert worden, dass sie in Übereinstimmung mit der Praxis des EPA Änderungen zulasse.
In den Berichten der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 (M/PR/I, S. 36 und 37) heiße es, dass neue Beispiele, die über den Inhalt der früheren Anmeldung in ihrer ursprünglichen Fassung hinausgingen, in einer Teilanmeldung unzulässig seien, nicht aber, dass die Anmeldung deswegen zurückzuweisen sei oder als zurückgenommen gelten müsse oder dass die Anmeldung unzulässig sei.
Die Beschwerdeführerin beantragte, dass die Große Beschwerdekammer die ihr mit der Vorlageentscheidung T 39/03 unterbreiteten Fragen 1 und 2 bejahen und Frage 3 in dem Sinne beantworten solle, dass eine berichtigte Teilanmeldung auf jeden in der früheren Anmeldung offenbarten Aspekt gerichtet werden könne, sofern dieser Aspekt in der ursprünglich eingereichten Fassung sowohl der früheren Anmeldung als auch der Teilanmeldung offenbart gewesen sei.
Eine mündliche Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin nur für den Fall, dass die Große Kammer die ihr vorgelegten Fragen mit einem anderen Ergebnis zu beantworten beabsichtige.
VII. Die Beschwerdeführerin im Vorlageverfahren T 1409/05 brachte im Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer neben dem vorstehend unter Nummer III erwähnten Einwand gegen die Zusammensetzung der Großen Kammer keinerlei Argumente oder Anträge vor.
VIII. Die Äußerungen des Präsidenten des Europäischen Patentamts lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der Präsident ist der Ansicht, dass die bestehende Praxis der erstinstanzlichen Organe bestätigt werden sollte, weil sie mit dem Willen des Gesetzgebers ebenso in Einklang stehe wie mit der Auslegung des EPÜ in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, außer in den jüngeren Entscheidungen T 1158/01, T 720/02, T 797/02, T 39/03 und T 90/03, in denen eine von der ständigen Praxis abweichende und mit den im EPÜ verankerten Grundsätzen nicht zu rechtfertigende Auffassung vertreten werde. So sollte eine Teilanmeldung, die in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ nicht erfülle, als europäische Patentanmeldung behandelt werden und zu irgendeinem späteren Zeitpunkt des Prüfungsverfahrens geändert werden dürfen, und zwar unabhängig davon, ob die frühere Anmeldung noch anhängig sei. Außerdem sollte eine Teilanmeldung auf Aspekte der Teilanmeldung gerichtet werden dürfen, die nicht von den Aspekten umfasst würden, auf die die Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gerichtet war oder auf die die vorangehenden Teilanmeldungen gerichtet waren.
b) Argumente für die Zulassung von Änderungen zur Erfüllung der Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ
In den “Travaux préparatoires” ließen sich folgende Argumente dafür finden:
Wie sich eine Erweiterung für die Teilanmeldung selbst auswirke, sei 1971 in der 9. Sitzung der Arbeitsgruppe I erörtert worden. Im Sitzungsbericht heiße es dazu: “Falls die Teilanmeldung Erweiterungen enthält, sollte der Anmelder jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, damit er die Erweiterungen fallen lässt. Im gegenteiligen Fall würde die Teilanmeldung wegen Verstoßes gegen Artikel 83a zurückgewiesen” (BR/135 d/71, S. 90 und 91).
Das Erfordernis, wonach eine Teilanmeldung nur für einen in einer früheren europäischen Patentanmeldung enthaltenen Gegenstand eingereicht werden könne, sei in den Entwurf des Artikels 74 (1) aufgenommen worden, um – in Anbetracht der Tatsache, dass europäische Teilanmeldungen beim EPA einzureichen seien – Konflikte mit nationalen Rechtsvorschriften in Bezug auf die nationale Sicherheit zu vermeiden (M/1, S. 80, Art. 74 (1); BR/218 d/72, S. 8 – 9, Nr. 10; Bossung, in “Münchner Gemeinschaftskommentar”, 1986, Art. 76, Rdn. 29).
Der Entwurf des Artikels 74 (ein Vorläufer des jetzigen Artikels 76 EPÜ) habe damals wie folgt gelautet (M/1, S. 80):
“(1) Eine europäische Teilanmeldung ist unmittelbar beim Europäischen Patentamt einzureichen. Sie kann nur für einen in einer früheren europäischen Patentanmeldung enthaltenen Gegenstand eingereicht werden. In der Teilanmeldung dürfen nur Vertragsstaaten benannt werden, die in der früheren Anmeldung benannt worden sind.
(2) Eine europäische Teilanmeldung und ein darauf erteiltes europäisches Patent dürfen keinen Gegenstand enthalten, der über den Inhalt der früheren Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Form hinausgeht; soweit diesem Erfordernis entsprochen wird, gilt die Teilanmeldung als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt gegebenenfalls deren Prioritätsrecht.”
Der endgültige Wortlaut des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ sei aus einer Änderung des Allgemeinen Redaktionsausschusses hervorgegangen, der der größeren Klarheit wegen die Voraussetzungen für die Einreichung einer Teilanmeldung in Absatz 1 des Artikels 76 zusammengefasst habe (M/PR/G, S. 178 und 179). Der Allgemeine Redaktionsausschuss habe aber nicht erklärt, dass damit die Erfordernisse geändert worden seien, und darüber sei auch nicht debattiert worden.
In der Vorlageentscheidung T 39/03 (und der darin zitierten Entscheidung T 1158/01) werde eine Passage in den Berichten der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 (M/PR/l, S. 37) als Beleg dafür angeführt, dass nicht beabsichtigt gewesen sei, die Streichung unzulässiger Erweiterungen zu gestatten. In der angeführten Passage gehe es jedoch darum, ob unzulässige Erweiterungen in Teilanmeldungen zum Stand der Technik nach Artikel 52 (jetzt Artikel 54) Absatz 3 EPÜ gehörten, und somit um etwas anderes als die von der Arbeitsgruppe I behandelte Frage (s. o.), ob eine Anmeldung geändert werden dürfe, um Erweiterungen fallen zu lassen.
Einem allgemeinen Grundsatz des EPÜ zufolge könne der Anmelder bis zum Abschluss des Erteilungsverfahrens Änderungen vornehmen, um die materiellrechtlichen Erfordernisse zu erfüllen, solange er im Rahmen der ursprünglichen Offenbarung bleibe. Das gehe auch aus Artikel 96 (2) EPÜ hervor. Es käme also einer Ausnahme im europäischen Patentsystem gleich, wenn Teilanmeldungen bereits bei ihrer Einreichung dem Erweiterungsverbot genügen müssten. Nach der ständigen Rechtsprechung sei Artikel 76 (1) EPÜ nach denselben Grundsätzen auszulegen wie Artikel 123 (2) EPÜ (T 514/88, Nrn. 2.1 und 2.2 der Entscheidungsgründe; T 527/88 vom 11. Dezember 1990, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 276/97, Nrn. 2.1 – 2.5 der Entscheidungsgründe; T 743/00 vom 23. September 2002, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe). Im Falle unzulässiger Änderungen nach Artikel 123 (2) EPÜ erhalte der Anmelder Gelegenheit, etwaige Erweiterungen zu streichen, und dies sollte auch für Artikel 76 (1) EPÜ gelten.
Der Wortlaut des Artikels 76 (1) EPÜ (“in so far as”, “dans la mesure” und “soweit” gegenüber “if”, “si” und “wenn”) könne auch so verstanden werden, dass eine Teilanmeldung, die bei ihrer Einreichung Erweiterungen enthalte, den Anmelde- und Prioritätstag der früheren Anmeldung nur in Bezug auf die Gegenstände zuerkannt bekomme, die nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgingen, was darauf schließen lasse, dass Änderungen zur Beschränkung der Teilanmeldung auf solche Gegenstände zugelassen werden sollten.
Die bestehende Praxis trage der Tatsache Rechnung, dass nicht von der Eingangsstelle festgestellt werden könne, ob Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ erfüllt sei. Deswegen würden Teilanmeldungen, die unzulässige Erweiterungen enthielten, ganz normal bearbeitet, d. h., dass Gebühren (Anmelde-, Recherchen-, Prüfungs-, Jahresgebühr usw.) zu entrichten seien, eine Recherche durchgeführt und die Anmeldung als europäische Teilanmeldung veröffentlicht werde. Die erst lange nach der Einreichung möglicherweise zu gewinnende Erkenntnis, dass die Anmeldung nicht als europäische Teilanmeldung behandelt werden könne, sei für Anmelder (und auch Dritte) mit einer erheblichen Unsicherheit verbunden. Demgegenüber sei, wenn die Anmeldung als europäische Teilanmeldung bearbeitet werde, die Rechtssicherheit der Öffentlichkeit nicht gefährdet, denn die Öffentlichkeit werde über die Existenz der Teilanmeldung unterrichtet, ihr würden die Stammanmeldung (selbst wenn sie noch nicht veröffentlicht sei) wie auch die Teilanmeldungen zugänglich gemacht, und die Teilanmeldung werde nur weiterbehandelt, wenn die unzulässige Erweiterung gestrichen werde.
Wenn Teilanmeldungen, die bei der Einreichung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstießen, nicht als europäische Teilanmeldungen behandelt werden dürften, weil sie geändert werden müssten, um Artikel 76 (1) EPÜ zu entsprechen, würden sich die Anmelder darauf verlegen, Teilanmeldungen einzureichen, die mit der Stammanmeldung in der ursprünglichen Fassung identisch seien, um sie später zu ändern. Dies würde die Verfahrensdauer verlängern und damit auch die Phase der Unsicherheit für Dritte, bis feststehe, in welcher Fassung das Patent erteilt werde.
c) Änderung der Teilanmeldung, wenn die Stammanmeldung nicht mehr anhängig ist
Es sei ein allgemein anerkannter Grundsatz des Patentrechts, dass eine wirksam eingereichte Teilanmeldung zu einer eigenständigen, von der Stammanmeldung unabhängigen Anmeldung werde. Somit sei sie, wenn die Voraussetzungen des Artikels 76 (1) EPÜ gegeben seien, als von der Stammanmeldung völlig getrennte Anmeldung zu prüfen (G 4/98, ABl. EPA 2001, 131, Nr. 5 der Gründe; T 441/92 vom 10. März 1995, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe; T 873/94, ABl. EPA 1997, 456, Nr. 1 der Entscheidungsgründe; T 561/00 vom 17. Juli 2002, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe). Infolgedessen gestatteten es die erstinstanzlichen Organe des EPA und die Beschwerdekammern (siehe z. B. T 122/90 vom 29. November 1990, T 860/90 vom 1. März 1991, T 1074/97, T 1004/00 vom 22. Mai 2002 und T 1092/04), dass eine Teilanmeldung oder ein darauf erteiltes Patent mit einer unzulässigen Erweiterung zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt des Prüfungs- bzw. Einspruchsverfahrens geändert werde, und zwar unabhängig davon, ob die frühere Anmeldung noch anhängig sei.
d) Weitere über die Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ hinausgehende Beschränkungen bei Änderungen
Eine wirksam eingereichte Teilanmeldung sei als von der Stammanmeldung völlig getrennte Anmeldung zu prüfen und müsse eigenständig die verschiedenen Erfordernisse des EPÜ erfüllen. Daraus folge, dass Änderungen in Teilanmeldungen allen Erfordernissen des EPÜ genügen müssten, zu denen u. a. die Einheitlichkeit der Erfindung (Art. 82 EPÜ) und das Verbot des Einbringens von nicht recherchierten Gegenständen (R. 86 (4) EPÜ) zählten.
Aus dem reinen Akt der Teilung ließen sich keine weiteren Beschränkungen für Änderungen ableiten. Insbesondere scheine weder bei einer Stammanmeldung noch bei einer Teilanmeldung der potenziell beanspruchbare Gegenstand auf weniger als den gesamten Inhalt der betreffenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beschränkt zu sein.
Nach der ständigen Praxis der erstinstanzlichen Organe des EPA würden Änderungen, die die Stamm- und die Teilanmeldung identisch machten, zurückgewiesen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht werde wie in der anhängigen Stammanmeldung oder in dem auf die Stammanmeldung erteilten Patent, da Doppelpatentierungen verboten seien. In einem solchen Fall habe der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren, das zur Erteilung eines zweiten Patents auf dieselbe Erfindung führe.
e) Ketten von Teilanmeldungen
Nach der bestehenden Praxis der erstinstanzlichen Organe des EPA seien Ketten von Teilanmeldungen zulässig, und eine Teilanmeldung (der ersten oder einer nachfolgenden Generation), die in der ursprünglich eingereichten Fassung eine unzulässige Erweiterung enthalte, werde als europäische Patentanmeldung behandelt, die allerdings geändert werden müsse, damit ein Patent erteilt werden könne. Werde die unzulässige Erweiterung nicht aus der Teilanmeldung gestrichen, so komme Artikel 97 (1) EPÜ zur Anwendung und die Anmeldung sei zurückzuweisen. Die Zurückweisung entfalte ihre Wirkung ex nunc und nicht ex tunc. Die Anmeldung (der ersten oder einer nachfolgenden Generation) sei demnach anhängig, solange die Zurückweisung nicht verkündet sei, und verliere diese Wirkung auch nicht rückwirkend. Dementsprechend verlangten die erstinstanzlichen Organe bei einer Kette von Teilanmeldungen nicht, dass sämtliche vorangehenden Teilanmeldungen bei der Einreichung – oder selbst nach einer späteren Änderung – die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllten.
Einigen jüngeren Entscheidungen (T 720/02, T 797/02 und T 90/03) zufolge bestimme die Erfindung oder Gruppe von Erfindungen, die in den Ansprüchen einer Teilanmeldung definiert sei, den Inhalt der Teilanmeldung als solchen, d. h. den Inhalt der Teilanmeldung, anhand dessen zu beurteilen sei, ob bei der Ausscheidung weiterer Teilanmeldungen aus dieser (Teil-) Stammanmeldung die Erfordernisse der Artikel 123 (2) und 76 (1) EPÜ erfüllt seien. Diese Auffassung laufe der gängigen Auslegung der Formulierung “Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung” zuwider, welche sich auf den gesamten technischen Inhalt beziehe unabhängig davon, ob die frühere Anmeldung selbst eine Teilanmeldung gewesen sei oder nicht.
Wäre eine derart begrenzte Auffassung verbindlich, so würden die Anmelder Teilanmeldungen einreichen, in denen sie sämtliche in der Teilanmeldung offenbarten Ausführungsformen beanspruchen würden, um später die Ansprüche zu ändern oder eine weitere Teilanmeldung einzureichen. Dies würde die Rechtsunsicherheit für die Öffentlichkeit nur noch erhöhen.
Zudem würde diese Auffassung auch vollkommen “legitimen” Teilanmeldungen schaden. In diesem Zusammenhang sei zu vermerken, dass Teilanmeldungen der zweiten Generation weniger als 0,5 % und solche nachfolgender Generationen weniger als 0,05 % aller europäischen Patentanmeldungen ausmachten.
IX. Es gingen zahlreiche Amicus-curiae-Schriftsätze ein. In den meisten, so auch in denen dreier Verbände, nämlich des Instituts der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter, der Fédération Internationale des Conseils en Propriété Industrielle und des Chartered Institute of Patent Attorneys, wurde nachdrücklich für eine Beibehaltung der bestehenden Praxis des EPA plädiert, wie sie sich aus den Richtlinien für die Prüfung ergebe. Diese Praxis sei unerlässlich, damit die Anmelder ihre Erfindungen umfassend schützen könnten, ohne Verfahrensfallen befürchten zu müssen, und durch den Wortlaut des Artikels 76 und der Regel 25 EPÜ voll und ganz gerechtfertigt. Insbesondere die Formulierung “soweit” im zweiten Satz des Artikels 76 (1) EPÜ wurde als eindeutiges Indiz dafür gewertet, dass es möglich sei, die Erfordernisse bei der Einreichung nur teilweise zu erfüllen und unzulässige Erweiterungen im Wege einer Änderung zu beseitigen, damit ein Patent erteilt werden könne.
Das Hauptargument in denjenigen Amicus-curiae-Schriftsätzen, in denen eine restriktivere Auffassung vertreten wurde, war die Rechtsunsicherheit für Dritte; da Teilanmeldungen für den gesamten oder fast den gesamten Zeitraum von 20 Jahren ab Einreichung der ersten Anmeldung anhängig bleiben könnten, würden Dritte die ganze Zeit über im Unklaren darüber gelassen, was letztlich patentiert werde. Des Weiteren wurde vorgebracht oder betont:
Die Formulierung in Artikel 76 (1) EPÜ “… kann nur für einen Gegenstand eingereicht werden, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht ” sei ein Alles-oder-Nichts-Erfordernis, das zum Zeitpunkt der Einreichung oder gar nicht zu erfüllen sei. Eine teilweise Erfüllung sei nicht möglich.
Ein Vorläufer von Artikel 76 (1) Satz 2 erster Halbsatz EPÜ, nämlich Artikel 74 (1) Satz 2, habe im ursprünglich nur auf Deutsch abgefassten Entwurf (BR/199/72) gelautet: “Sie kann für einen in einer früheren europäischen Patentanmeldung enthaltenen Gegenstand eingereicht werden”. Diese Urfassung des Artikels 74 (1) Satz 2 sei später geändert worden in “Sie kann nur für einen in einer früheren europäischen Patentanmeldung enthaltenen Gegenstand eingereicht werden” (M/1, S. 80). Die Änderung sollte gezielt einen Vorbehalt der französischen Delegation bezüglich der nationalen Sicherheit ausräumen, und eine strenge Auslegung sei erforderlich gewesen, um für einen gewissen Biss zu sorgen.
Ferner wurde argumentiert, Artikel 76 (1) EPÜ sei so auszulegen, dass er nur einen Vergleich zwischen einer Teilanmeldung und ihrer unmittelbar vorangehenden Stammanmeldung zulasse. Wenn Artikel 76 (1) EPÜ nicht verlange, dass die Erfordernisse zum Zeitpunkt der Einreichung erfüllt sein müssten, dann wäre es möglich, zu einer Teilanmeldung erster Generation, die eine unzulässige Erweiterung enthalte, eine identische Teilanmeldung zweiter Generation einzureichen. Auf diese Weise wäre das Erfordernis des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllt und der Anmelder könnte für die aus der Stammanmeldung über die Teilanmeldung erster Generation ausgeschiedenen Gegenstände den Anmeldetag der Stammanmeldung und für die restlichen Gegenstände den tatsächlichen Einreichungstag der Teilanmeldung erster Generation beanspruchen.
Ein weiteres Vorbringen lautete, dass die Einreichung einer Teilanmeldung in Bezug auf einen Teil des Gegenstands der früheren Anmeldung als eine Verfahrenshandlung angesehen werden könnte, mit der ein für allemal, allerdings nur für die Zwecke der Teilanmeldung auf die übrigen Teile des Gegenstands verzichtet werde, für die in der früheren Anmeldung Schutz beantragt worden sei. Dies käme einer Befürwortung der überaus vernünftigen Entscheidung T 720/02 gleich.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit
Die Große Beschwerdekammer ist der Überzeugung, dass eine Beantwortung der ihr vorgelegten Rechtsfragen für jede der Kammern erforderlich ist, um das jeweils anhängige Verfahren auf der richtigen Rechtsgrundlage zum Abschluss zu bringen. Die Vorlagen sind daher zulässig.
VORLAGE T 39/03
Frage 1: Recht auf Änderungen
2. Ungültigkeit
2.1 Ausgangspunkt für die vorlegende Kammer in der Sache T 39/03 waren ihre Zweifel, ob eine Teilanmeldung, deren Gegenstand über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, später geändert werden kann, damit sie den Erfordernissen des Artikels 76 (1) Satz 2 erster Halbsatz EPÜ genügt, wobei sie sich hauptsächlich darauf stützte, dass eine Teilanmeldung, die diese Erfordernisse nicht von Anfang an erfüllt, “ungültig” sei (s. insbesondere Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe). Die vorlegende Kammer ging jedoch weder darauf ein, nach welcher Vorschrift des EPÜ eine solche Ungültigkeit in Betracht zu ziehen wäre, noch auf die genauen Rechtsfolgen.
2.2 Aus der Annahme, dass eine unzulässig erweiterte Teilanmeldung “ungültig” ist, würde in der Tat folgen, dass diese Anmeldung nicht durch eine spätere Änderung, mit der die zusätzlichen Gegenstände gestrichen werden, rückwirkend gültig gemacht werden könnte.
2.3 Das EPÜ enthält durchaus Vorschriften für Anmeldungen, die insofern als ungültig angesehen werden können, als sie keinerlei Rechtswirkung haben. Eine Anmeldung beispielsweise, die einen Mangel im Sinne des Artikels 80 EPÜ aufweist, kann keinen Anmeldetag erhalten, hat keinerlei Rechtswirkung (s. G 4/98, Nr. 3.1 der Gründe) und kann nicht als europäische Patentanmeldung behandelt werden, solange der Mangel nicht nach Maßgabe des Artikels 90 (2) in Verbindung mit Regel 39 EPÜ beseitigt wurde. Die Anmeldung erhält dann als Anmeldetag den Tag, an dem die Mängel beseitigt wurden.
2.4 Schwerwiegende formelle Mängel in der ursprünglich eingereichten Fassung einer Anmeldung können zwar – wenngleich nur im Extremfall und dort, wo es im EPÜ vorgesehen ist – dazu führen, dass eine Anmeldung ungültig ist, d. h. keine Rechtswirkung hat, doch ist das Konzept einer möglichen “Ungültigkeit” der Anmeldung wegen Nichterfüllung materiellrechtlicher Erteilungsvoraussetzungen im EPÜ ansonsten unbekannt, so eindeutig die Sachlage auch sein mag. Erfüllt eine Anmeldung nicht die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Patents, so führt dies nicht zur Ungültigkeit der Anmeldung als solcher, sondern lediglich zu ihrer Zurückweisung nach Artikel 97 (1) EPÜ , wenn der Mangel nicht beseitigt werden kann oder nicht durch eine Änderung ausgeräumt wird.
2.5 Der Präsident des Europäischen Patentamts hat in seiner Stellungnahme ausführlich erläutert (s. Nr. VIII b)), wie der Wortlaut des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ als Resultat sehr später Änderungen zustande gekommen ist.
2.6 Ursprünglich gab es in den Entwürfen zwei getrennte Vorschriften. Die eine war Artikel 74 (1), der in Anbetracht der Tatsache, dass europäische Teilanmeldungen beim EPA einzureichen sind, Konflikte mit nationalen Sicherheitsbestimmungen vermeiden sollte. Die andere, separate Vorschrift in Artikel 74 (2) besagte, dass Teilanmeldungen keinen zusätzlichen Gegenstand enthalten durften, hob dabei jedoch nicht auf die Teilanmeldung zum Zeitpunkt ihrer Einreichung ab, sondern auf die anhängige Teilanmeldung oder ein darauf erteiltes Patent (der Wortlaut der betreffenden Vorschriften des Entwurfs ist unter Nr. VIII b) wiedergegeben). Diese beiden getrennten Vorschriften wurden dann im jetzigen Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ zusammengefasst, ohne dass der Gesetzgeber zu erkennen gegeben hätte, dass er die betreffenden Erfordernisse in der Sache ändern wollte.
2.7 Der jetzige Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ erfüllt somit einen doppelten Zweck; erstens verhindert er als formales Erfordernis, dass Anmelder in Teilanmeldungen neue Gegenstände einführen, die aus Gründen der nationalen Sicherheit zu beanstanden sind, und zweitens schreibt er zugleich als materiellrechtliches Erfordernis für die Patentierbarkeit von Teilanmeldungen vor, dass sie keinen gegenüber ihrer Stammanmeldung neuen Gegenstand enthalten dürfen.
2.8 Was den genannten formalen Aspekt des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ angeht, so zeigt ein Vergleich mit Artikel 75 (2) EPÜ, der sich auf neu eingereichte Anmeldungen bezieht, dass nationale Sicherheitsbedenken kein Grund sind, eine Teilanmeldung mit einer unzulässigen Erweiterung als ungültig anzusehen – selbst dann nicht, wenn die Erweiterung aufgrund dieser Bedenken tatsächlich zu beanstanden wäre. In Artikel 75 (2) EPÜ werden die Anmelder darauf hingewiesen, dass sie eine neue europäische Anmeldung aufgrund nationaler Sicherheitsvorschriften gegebenenfalls nicht ohne nationale Zustimmung unmittelbar beim EPA einreichen dürfen oder ihre Anmeldungen sogar zuerst bei einer nationalen Behörde einreichen müssen, und die Vertragsstaaten können, wenn ihre nationalen Sicherheitsvorschriften verletzt werden, Sanktionen verhängen; eine Sanktionierung nach dem EPÜ ist jedoch nicht vorgesehen und die Ungültigerklärung der Anmeldung schon gar nicht.
2.9 Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Ergebnis, dass weder der Zweck des in Artikel 76 (1) EPÜ enthaltenen Verbots der unzulässigen Erweiterung einer Teilanmeldung, das Konflikte mit der nationalen Sicherheit vermeiden soll, noch das darin aufgestellte materiellrechtliche Erfordernis für die Patentierung einer Teilanmeldung die Schlussfolgerung rechtfertigt, dass eine Teilanmeldung, die bei ihrer Einreichung dieser Vorschrift nicht genügt, ungültig ist.
3. Recht auf Änderung
3.1 Nach Artikel 76 (1) EPÜ hat der Gesetzgeber die Ausscheidung eines Gegenstands aus einer Stammanmeldung, anders als z. B. im deutschen Patentrecht, nicht als Verfahrenserklärung gestaltet, durch die ein bisher einziges Anmeldeverfahren in zwei Verfahren aufgespalten wird, die sich beide in dem prozessualen Verfahrensstand befinden, den die ursprünglich einzige Anmeldung erreicht hatte (Schulte, “Patentgesetz mit EPÜ”, 7. Aufl., § 34, Rdn. 264). Nach dem EPÜ erfolgt die Ausscheidung durch Einreichung einer neuen Anmeldung. In Artikel 76 (3) EPÜ heißt es dazu: “ die besonderen Erfordernisse der europäischen Teilanmeldung sind in der Ausführungsordnung vorgeschrieben.” Zusammen betrachtet führen beide Vorschriften zu dem Schluss, dass Teilanmeldungen genauso zu behandeln sind wie normale Anmeldungen und denselben Erfordernissen unterliegen, sofern nicht besondere Vorschriften im EPÜ, vor allem die des Artikels 76 und der Regel 25 EPÜ, etwas anderes vorsehen (s. auch Nr. 8.1).
3.2 Für alle Anmeldungen gilt nach dem EPÜ als wichtiger Grundsatz, dass die Frage, ob eine Anmeldung die materiellrechtlichen Erfordernisse des EPÜ erfüllt, anhand der Fassung zu entscheiden ist, die der Anmelder abschließend vorgelegt oder gebilligt hat, nachdem ihm Einwände zur Kenntnis gebracht wurden und er Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen und die Einwände gegebenenfalls durch Änderungen auszuräumen.
3.3 Ob eine Teilanmeldung dem Erfordernis genügt, dass ihr Gegenstand nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, ist ebenso wie die Erfüllung des Artikels 123 (2) EPÜ eine materiellrechtliche Voraussetzung für die Erteilung eines Patents, die nicht von der Eingangsstelle, sondern nur von der Prüfungsabteilung beurteilt werden kann, weswegen der vorgenannte Grundsatz gelten würde, dass eine Gelegenheit zur Änderung gegeben werden muss, sofern es keine anderslautende Vorschrift gibt. Eine solche Vorschrift gibt es jedoch nicht.
3.4 Beim unbefangenen Lesen ist Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ nicht zu entnehmen, was passiert, wenn die Teilanmeldung an ihrem tatsächlichen Einreichungstag eine unzulässige Erweiterung enthält. Die Nichterfüllung einer Vorschrift kann aber nicht automatisch Anlass zu der Vermutung geben, dass die Anmeldung zurückzuweisen ist, ohne dass der Anmelder vorher die Gelegenheit zur Änderung erhält. Es gilt vielmehr der in Artikel 96 (2) in Verbindung mit Artikel 123 (1) EPÜ verankerte allgemeine Grundsatz, wonach Änderungen gestattet sind. Diese Auffassung wird durch den zweiten Satz von Artikel 76 (1) EPÜ gestützt (“soweit diesem Erfordernis entsprochen wird”, “in so far as this provision is complied with”, “dans la mesure où il est satisfait à cette exigence”).
3.5 Obwohl es in Artikel 76 (3) EPÜ heißt, dass “das Verfahren zur Durchführung des Absatzes 1 in der Ausführungsordnung vorgeschrieben” ist, ist dort kein spezielles Verfahren vorgesehen, nach dem zu beurteilen ist, ob die Erfordernisse des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ erfüllt sind. Das wäre aber zu erwarten, wenn die Erfüllung am tatsächlichen Einreichungstag maßgebend wäre. Das Fehlen eines solchen speziellen Verfahrens begründet die starke Vermutung, dass der Gesetzgeber das Verfahren vor der Prüfungsabteilung angewandt haben wollte, und zwar einschließlich der Möglichkeit zur Änderung, um die Erfordernisse des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ zu erfüllen.
3.6 Auch an anderer Stelle im EPÜ finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die Änderung einer Teilanmeldung zur Erfüllung der Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ zulässig ist. So ist es z. B. im Einspruchsverfahren nach Artikel 100 c) EPÜ ein Widerrufsgrund, wenn der Gegenstand eines europäischen Patents, das auf einer europäischen Teilanmeldung beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. In Artikel 100 EPÜ heißt es nicht, dass es ein Widerrufsgrund ist, wenn das Patent auf eine Teilanmeldung erteilt wurde, deren Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausging. Da Artikel 100 EPÜ eine erschöpfende Aufzählung aller Widerrufsgründe enthält, auf die ein Einspruch gestützt werden kann, lässt das Fehlen eines solchen Widerrufsgrunds darauf schließen, dass es entscheidend auf den Gegenstand im Zeitpunkt der Erteilung ankommt und nicht darauf, ob der Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der Teilanmeldung das Erfordernis erfüllte, wonach er nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen darf. Derselbe Schluss lässt sich aus den Vorschriften für nationale Verfahren in Artikel 138 (1) c) EPÜ ziehen, der eine erschöpfende Aufzählung der Widerrufsgründe in nationalen Nichtigkeitsverfahren enthält.
4. Materialien zum EPÜ (“Travaux préparatoires”)
4.1 Wie vorstehend unter den Nummern 2.5 bis 2.9 erläutert, findet sich in den Travaux préparatoires keine Unterstützung für das Argument, dass eine gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoßende Teilanmeldung unwiderruflich verloren ist und dementsprechend wegen der Formulierung “sie kann nur für einen Gegenstand eingereicht werden” nicht mehr geändert werden kann.
4.2 Die Travaux préparatoires untermauern vielmehr die hier vertretene Auffassung. In dem einzigen von der Großen Beschwerdekammer für maßgeblich erachteten Dokument, nämlich dem Bericht über die Beratungen der 9. Sitzung der Arbeitsgruppe I im Jahr 1971 (BR/135 d/71, S. 90 und 91) heißt es: “Falls die Teilanmeldung Erweiterungen enthält, sollte der Anmelder jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, damit er die Erweiterungen fallen lässt. Im gegenteiligen Fall würde die Teilanmeldung wegen Verstoßes gegen Artikel 83a zurückgewiesen” (Artikel 83a lautete damals wie folgt: “Der Gegenstand einer europäischen Patentanmeldung darf nicht weiter sein als der Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung.”). Diese Beratungen fanden während der letzten Vorbereitungen zum EPÜ statt, und dieses spezielle Thema scheint später nicht mehr erörtert worden zu sein. Zwar wurde der Wortlaut des Entwurfs noch geändert, doch deutet nichts darauf hin, dass damit in irgendeiner Weise beabsichtigt wurde, die Änderung einer Teilanmeldung unter diesen Umständen nicht mehr zuzulassen.
4.3 Im Gegensatz zu der oben zitierten Passage betrifft die von der Kammer in der Vorlageentscheidung T 39/03 angeführte Passage aus den Berichten der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 (M/PR/I, S. 36 und 37) – wenngleich später datiert – Beratungen zu einem ganz anderen Punkt, nämlich zu der Frage, ob zusätzliche Gegenstände in Teilanmeldungen zum Stand der Technik nach Artikel 52 (jetzt Artikel 54) Absatz 3 EPÜ gehören. Nichts in diesen Beratungen spricht gegen die Zulässigkeit von Änderungen in einer Teilanmeldung, die in der Streichung von über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgehenden Gegenständen bestehen.
4.4 Die Große Beschwerdekammer kann somit aus den Travaux préparatoires nur schließen, dass der Gesetzgeber in der Tat die Änderung einer Teilanmeldung zulassen wollte, wenn sie zur Streichung von Gegenständen dient, die über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgehen.
5. Interessen von Anmeldern und Dritten
5.1 Eine weitere Überlegung ist die, ob womöglich die Rechtssicherheit für Dritte eine Auslegung erfordert, die es verbietet, Änderungen zur Erfüllung der Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ vorzunehmen. Der Wortlaut des Artikels 76 (1) EPÜ, wonach Teilanmeldungen “ nur für einen Gegenstand eingereicht werden [können], der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht ”, und der des Artikels 123 (2) EPÜ, wonach “eine europäische Patentanmeldung und ein europäisches Patent nicht in der Weise geändert werden [dürfen], dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht”, sind einander (in allen drei Sprachen) so ähnlich, dass klar ist, dass in beiden Fällen genau dieselben Grundsätze anzuwenden sind, wenn es zu bestimmen gilt, was über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgeht. Das ist die Auffassung, die in der Rechtsprechung vertreten wird und der sich auch diese Kammer anschließt. Wie in der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541, Nr. 9 der Entscheidungsgründe) ausgeführt, liegt Artikel 123 (2) EPÜ der Gedanke zugrunde, “dass es einem Anmelder nicht gestattet sein darf, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte.” Eben dieser notwendigen Rechtssicherheit für Dritte dient auch Artikel 76 (1) EPÜ, dem zufolge der Gegenstand einer Teilanmeldung nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen darf.
5.2 Während es jedoch für die Rechtssicherheit Dritter zweifellos wichtig ist, dass Artikel 76 (1) EPÜ ein auf eine Teilanmeldung erteiltes Patent nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgehen lässt, ist die Rechtssicherheit für Dritte kein Argument dafür, dass Änderungen, die die Anmeldung mit Artikel 76 (1) EPÜ in Einklang bringen sollen, ebenfalls untersagt werden müssen.
5.3 Sowohl in Artikel 123 (2) EPÜ als auch in Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ wird auf Definitionen zurückgegriffen, die sich nicht auf den beanspruchten Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Form, sondern auf die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beziehen, um festzulegen, wo der Gesetzgeber das Interesse des Anmelders an einem möglichst breiten Schutzbereich gegen das Interesse Dritter abgrenzt, die möglichst schnell erfahren wollen, wie groß der Schutzumfang des Patents sein könnte. In beiden Artikeln ist der Grundsatz verankert, dass die Rechtssicherheit Dritter vor der Patenterteilung ausreichend dadurch geschützt ist, dass es verboten ist, den Inhalt der Anmeldung durch Änderungen über die ursprüngliche Offenbarung hinaus zu erweitern. Innerhalb dieser Grenzen hat das Recht des Anmelders Vorrang, die offenbarte Erfindung umfassend und angemessen zu beanspruchen, sodass die Rechte Dritter von einer Erweiterung der Ansprüche für den Zeitraum bis zur Erteilung des Patents nicht berührt werden (G 1/93, Nr. 10 der Entscheidungsgründe), wobei der Anmelder auch das Recht hat, die Ansprüche zu ändern und sie auf Gegenstände zu erstrecken, die von den Ansprüchen in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht umfasst waren. Erst nach der Erteilung werden die Interessen Dritter durch Artikel 123 (3) EPÜ weiter geschützt, und das Recht des Patentinhabers auf Änderung der Ansprüche ist durch den Schutzumfang des erteilten Patents beschränkt.
5.4 Eine Änderung nicht zuzulassen, durch die eine Teilanmeldung mit Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ in Einklang gebracht werden soll, würde zu einer unterschiedlichen Behandlung in vergleichbaren Situationen führen. Diese Ungleichbehandlung würde keinem objektiv zu rechtfertigenden Zweck dienen, sondern eine Verfahrensfalle schaffen. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen.
5.4.1 Eine Anmeldung wird mit einem unabhängigen Anspruch für ein Element A und abhängigen Ansprüchen für die Kombinationen A + B und A + C eingereicht. Außerdem ist in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die Kombination A + B + Z offenbart, nicht aber die Kombination A + C + Z. Bei der Recherche wird ein Dokument des Stands der Technik ermittelt, das für den Anspruch auf das Element A neuheitsschädlich ist. Der Anmelder reicht eine Teilanmeldung ein. Im Fall I beansprucht er in der geänderten Stammanmeldung die Kombinationen A + B und A + B + Z und in der Teilanmeldung die Kombinationen A + C und A + C + Z. Im Fall II beansprucht er in der geänderten Stammanmeldung die Kombinationen A + C und A + C + Z und in der Teilanmeldung die Kombinationen A + B und A + B + Z. Ansonsten sind die Anmeldungen identisch. Der einzige in beiden Fällen erhobene Einwand ist, dass der abhängige Anspruch für A + C + Z über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Der Anmelder muss einräumen, dass bei genauer Betrachtung nur die Kombination A + B + Z, nicht aber A + C + Z offenbart war.
5.4.2 Würde in Fall II ein Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ gegen die Stammanmeldung erhoben, so kann der Anmelder den Mangel beheben, indem er den beanstandeten Anspruch auf A + C + Z fallen lässt. Die Formulierung “dürfen nicht geändert werden” in Artikel 123 (2) EPÜ ist nie so ausgelegt worden, dass das erstmalige Vorbringen einer solchen Änderung ein Verstoß ist, der automatisch zur Zurückweisung der Anmeldung führt. Vielmehr muss der Anmelder auf den zu beanstandenden Gegenstand aufmerksam gemacht werden und die Gelegenheit erhalten, seine Anmeldung in zulässiger Weise zu ändern.
5.4.3 Wird hingegen in Fall I der Einwand, dass die Kombination A + C + Z in der früheren Anmeldung ursprünglich nicht offenbart war, nach Artikel 76 (1) EPÜ gegen die Teilanmeldung erhoben, und wird es dem Anmelder nicht gestattet, die Anmeldung zu ändern, um den beanstandeten Anspruch auf A + C + Z fallen zu lassen, dann wäre das Ergebnis sowohl willkürlich als auch ungerecht. In Fall I würde der Anmelder dann seine Teilanmeldung und damit auch seinen Anspruch auf A + C verlieren. In Fall II behielte er die Stammanmeldung und die Teilanmeldung und damit seine Ansprüche sowohl auf A + B als auch auf A + C. Die erforderliche Rechtssicherheit für Dritte wäre eindeutig auch dann angemessen gewährleistet, wenn in Fall I die Streichung des beanstandeten Anspruchs für A + C + Z zugelassen würde. Die Teilanmeldung komplett zurückzuweisen, ist nach Auffassung der Kammer unverhältnismäßig.
5.5 Es trifft zu, dass Anmelder, wenn sie eine in der ursprünglich eingereichten Fassung gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoßende Teilanmeldung nicht so ändern dürften, dass sie den Erfordernissen genügt, in vielen Fällen versuchen könnten, die damit verbundene Verfahrensfalle zu umgehen. Sie könnten eine beliebige Teilanmeldung mit derselben Beschreibung und denselben Ansprüchen wie in der früheren Anmeldung einreichen, die Ansprüche aber in einer anderen Reihenfolge anordnen, sodass die ersten Ansprüche auf den Gegenstand gerichtet sind, der in der Teilanmeldung von besonderem Interesse ist, und dann später Änderungen vornehmen, um die Anmeldung in die eigentlich gewünschte Form zu bringen. Das Ergebnis wäre eine Verlängerung des Patenterteilungsverfahrens und somit der Phase der Rechtsunsicherheit für Dritte, was nicht erstrebenswert ist.
6. Bestimmungen im Patentgesetz des Vereinigten Königreichs von 1977
In der Vorlageentscheidung, die zum Verfahren G 1/05 führte, zog die Kammer die englische Entscheidung “Hydroacoustics Incorporated’s Applications …” (Fleet Street Reports [1981], S. 538 – 550) als Anhaltspunkt für die Auslegung des Artikels 76 (1) EPÜ heran (s. Nr. IV.c)). Im Hydroacoustics-Fall ging es um den genauen Wortlaut von § 76 des damals geltenden britischen Patentgesetzes von 1977, der (obwohl zufällig genauso nummeriert wie der EPÜ-Artikel zu Teilanmeldungen) nicht zu den in § 130 (7) des britischen Patentgesetzes von 1977 ausdrücklich genannten Bestimmungen gehörte, die so abgefasst sind, dass sie soweit wie möglich dieselbe Wirkung wie die entsprechenden Bestimmungen des EPÜ haben. Er ähnelte zwar in einigen Aspekten dem Artikel 76 (1) EPÜ, enthielt aber nicht dessen zweiten Satz “ soweit diesem Erfordernis entsprochen wird, gilt die Teilanmeldung als eingereicht”. Der Wortlaut von § 76 des britischen Patentgesetzes von 1977 wurde inzwischen so geändert, dass die Entscheidung genau andersherum hätte ausfallen müssen. Dieser Fall betraf also eine Entscheidung über eine materiell ganz andere Bestimmung, die später vom Gesetzgeber geändert wurde, und stützt somit keineswegs eine bestimmte Auslegung des Artikels 76 EPÜ. Die weitere Entwicklung im Vereinigten Königreich lässt allenfalls erkennen, dass eine Vorschrift, die Änderungen nicht zulässt, unbefriedigend ist.
7. Schlussfolgerung zur Möglichkeit der Änderung
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer sprechen alle vorstehend dargelegten Argumente dafür, Artikel 76 (1) EPÜ so auszulegen, dass der Anmelder seine Teilanmeldung nach der Einreichung noch ändern kann, um die Erfordernisse dieses Artikels zu erfüllen, vorausgesetzt, die Änderung entspricht auch allen übrigen Erfordernissen des EPÜ.
8. Frage 2: Stammanmeldung nicht mehr anhängig
8.1 In der zweiten Vorlagefrage in G 1/05 geht es darum, ob eine Teilanmeldung noch geändert werden kann, damit sie den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ genügt, wenn die frühere Anmeldung nicht mehr anhängig ist. Gemäß Artikel 76 (1) EPÜ ist eine Teilanmeldung eine neue, von der Stammanmeldung getrennte und unabhängige Anmeldung (s. auch Nr. 3.1). Eine genauere Formulierung findet sich in der Stellungnahme G 4/98 unter Nummer 5 der Begründung, wo die Große Beschwerdekammer die in der Literatur vertretene Meinung bestätigte: “ dass das durch die Teilanmeldung eingeleitete Verfahren grundsätzlich unabhängig vom Verfahren zur Stammanmeldung abläuft und dass die Teilanmeldung wie eine neue Anmeldung behandelt wird Auch wenn es gemeinsame Anknüpfungspunkte zwischen den zwei Verfahren gibt (etwa in Bezug auf Fristen), haben Handlungen, die nach Einreichung einer Teilanmeldung im Verfahren zur Stammanmeldung vorgenommen (oder unterlassen) werden, keinen Einfluss auf das die Teilanmeldung betreffende Verfahren”.
8.2 Eine Änderung, mit der ein in der ursprünglich eingereichten Fassung der Stammanmeldung nicht offenbarter, hinzugefügter Gegenstand aus der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestrichen werden soll, ist somit unabhängig davon, ob die frühere Anmeldung noch anhängig ist, zulässig.
9. Frage 3: Weitere Einschränkungen des Rechts auf Änderung
9.1 Der Grundsatz, wonach eine Teilanmeldung eine eigenständige und unabhängige Anmeldung ist und, sofern es keine anderslautenden Bestimmungen gibt, genauso zu behandeln ist wie eine normale Anmeldung und denselben Erfordernissen unterliegt, beantwortet auch die dritte Vorlagefrage in G 1/05.
9.2 Änderungen in einer Teilanmeldung sind nach Artikel 123 (2) EPÜ in demselben Maße zulässig wie Änderungen in allen anderen Anmeldungen, die keine Teilanmeldungen sind. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer lässt sich aus der bloßen Tatsache der Teilung nicht ableiten, dass es – etwa im Sinne eines Fallenlassens oder des Verzichts auf Gegenstände der früheren Anmeldung, die nicht von den Ansprüchen der betreffenden Teilanmeldung umfasst werden – Beschränkungen im Hinblick darauf gibt, welche weiteren Änderungen vorgenommen oder auf welche Gegenstände künftige Teilanmeldungen aus dieser Teilanmeldung gerichtet werden können. Dies steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung (s. die Vorlageentscheidung T 1409/05, Nr. 3.1.2 der Entscheidungsgründe und die dort angeführten Quellen). Artikel 76 (1) EPÜ bezieht sich auf den Inhalt, und zwar den gesamten technischen Inhalt der früheren Anmeldung, und es gibt keine Rechtsgrundlage dafür, dies bei der Teilung einzuschränken. Dritte müssen sich bewusst sein, dass, solange eine Teilanmeldung anhängig ist, der gesamte Inhalt ihrer ursprünglich eingereichten Fassung noch zum Gegenstand von Patentansprüchen in dieser Teilanmeldung selbst oder in weiteren Teilanmeldungen gemacht werden kann. Eine Teilanmeldung kann somit durch Änderungen auf Aspekte der früheren Anmeldung gerichtet werden, die auch in der ursprünglich eingereichten Fassung der Teilanmeldung offenbart, aber nicht von den Ansprüchen der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung umfasst waren.
VORLAGE T 1409/05
10. Frage 1: Ketten von Teilanmeldungen
10.1 Im Fall der Vorlageentscheidung zu Ketten von Teilanmeldungen sind wiederum Artikel 76 (3) und Regel 25 (1) EPÜ sowie der daraus abgeleitete Grundsatz relevant (s. Nr. 8.1), wonach Teilanmeldungen genauso zu behandeln sind wie normale Anmeldungen und denselben Erfordernissen unterliegen, sofern nicht besondere Vorschriften im EPÜ, vor allem Artikel 76 und Regel 25 EPÜ, etwas anderes vorsehen.
10.2 Artikel 76 (1) EPÜ sieht zwar weitere Teilanmeldungen zu einer Teilanmeldung nicht ausdrücklich vor, verbietet sie aber auch nicht. Vielmehr ist er naturgemäß auch auf Teilanmeldungen zu Teilanmeldungen anzuwenden, da eine Teilanmeldung in Ermangelung spezifischer Bestimmungen grundsätzlich wie jede andere Anmeldung zu behandeln ist. Das bedeutet, dass auch eine Teilanmeldung (gleich welcher Generation) die “frühere Anmeldung” im Sinne von Artikel 76 (1) EPÜ für eine weitere Teilanmeldung sein kann. Diese Auffassung findet sich auch in der derzeitigen Regel 25 EPÜ wieder, in der auf die Möglichkeit verwiesen wird, eine Teilanmeldung zu jeder anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung einzureichen.
11.1 Der besondere und wesentlich vorteilhaftere Rechtsstatus, den eine Teilanmeldung aufgrund des Artikels 76 (1) Satz 2 EPÜ bezüglich des in der früheren Anmeldung bereits offenbarten Gegenstands im Vergleich zu einer normalen Anmeldung für denselben Gegenstand genießt, besteht darin, dass für die Beurteilung der Patentierbarkeit dieses Gegenstands nicht der tatsächliche Einreichungstag der Teilanmeldung maßgebend ist, sondern der Einreichungstag der früheren Anmeldung.
Das charakteristische Merkmal einer Kette von aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschiedenen Teilanmeldungen ist, dass jedes Glied der Kette als Anmeldetag den Tag beansprucht, an dem die Ursprungs- oder Stammanmeldung eingereicht wurde, die den in der Kette von Teilanmeldungen ausgeschiedenen Gegenstand zuerst offenbart hat.
Der einzige Anmeldetag, der einer Teilanmeldung nach dem EPÜ zuerkannt werden kann, ist aufgrund der in Artikel 76 (1) Satz 2 zweiter Halbsatz EPÜ enthaltenen Fiktion der Anmeldetag der Ursprungsanmeldung, und zwar unabhängig davon, ob die Teilanmeldung die erste oder eine nachfolgende Teilanmeldung in einer Kette von Teilanmeldungen ist.
Im EPÜ ist nicht vorgesehen, dass eine Teilanmeldung den Tag ihrer tatsächlichen Einreichung beim EPA als Anmeldetag erhält. Ebenso wenig findet sich im EPÜ ein Anhaltspunkt dafür, dass ein und derselben Anmeldung – gleich, ob Teilanmeldung oder nicht – unterschiedliche Anmeldetage für unterschiedliche Teile ihres Erfindungsgegenstands zuerkannt werden könnten, die im Rahmen dieser Anmeldung zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingereicht wurden.
Auch gibt es im EPÜ keine Grundlage dafür, eine Teilanmeldung für Gegenstände einzureichen, die der Ursprungsanmeldung oder einer vorangehenden Teilanmeldung der Kette hinzugefügt wurden, und als Anmeldetag den Tag zu beanspruchen, an dem dieser hinzugefügte Gegenstand tatsächlich das erste Mal eingereicht wurde, so wie es früher nach dem deutschen Patentgesetz möglich war (in der vor dem 1. Oktober 1968 geltenden Fassung, s. Georg Benkard, “Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz”, 5. Aufl., 1969, § 26, Rdn. 26).
11.2 Aus diesen Gründen ist im Falle einer Kette von Teilanmeldungen, von denen jede Einzelne aus der jeweiligen Vorgängerin ausgeschieden wurde, die Zuerkennung des Einreichungstags der ersten Offenbarung des betreffenden Gegenstands in der Ursprungsanmeldung nur gerechtfertigt, wenn dieser Gegenstand in jeder der vorausgegangenen (früheren) Anmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart war und in jeder dieser Vorgängerinnen noch enthalten war (d. h., dass nicht unwiderruflich und endgültig darauf verzichtet wurde, s. J 2/01, ABl. EPA 2005, 88, Nr. 6 der Entscheidungsgründe; J 15/85, ABl. EPA 1986, 395, Nrn. 4 und 5 der Entscheidungsgründe), als die – weitere – Teilanmeldung eingereicht wurde, sodass er von seiner Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Ursprungsanmeldung bis einschließlich zum Tag der Einreichung der betreffenden Teilanmeldung jederzeit vorhanden war.
Gegenstände, die bei der Einreichung eines in der Kette vorangegangenen Glieds fallen gelassen wurden, können weder in dieses Kettenglied noch in eine nachfolgende Teilanmeldung wieder eingeführt werden. Umgekehrt kann ein Gegenstand, der bei der Einreichung einer in der Kette vorangegangenen Teilanmeldung hinzugefügt wurde, nicht in einer nachfolgenden Teilanmeldung beansprucht werden, denn einem solchen hinzugefügten Gegenstand steht nach Artikel 76 (1) EPÜ nicht der Anmeldetag der Ursprungsanmeldung zu, in der er nicht offenbart war.
12.1 Bei einer solchen Anwendung des Artikels 76 (1) EPÜ dürften nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die in T 39/03 erwähnten Probleme mit Ketten von Teilanmeldungen nicht auftreten. Der Inhalt vorangehender Glieder der Kette wird lediglich zu einer Beschränkung, die auf der Grundlage der vorangehenden Anmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung in Betracht zu ziehen ist. Der Standpunkt der vorlegenden Kammer in T 1409/05 wird bestätigt.
12.2 Sofern die vorgenannten Erfordernisse für den fraglichen Gegenstand in der betreffenden Teilanmeldung erfüllt sind, ist es irrelevant, ob vorangehende Glieder der Kette in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung in Bezug auf einen anderen Gegenstand gegen Artikel 76 (1) Satz 2 EPÜ verstoßen haben oder ob sie aufrechterhalten oder zurückgewiesen wurden, nachdem die nächste Teilanmeldung in der Kette eingereicht wurde. Weder Regel 25 noch Artikel 76 EPÜ enthalten irgendeine Vorschrift, wonach das weitere Schicksal der früheren Anmeldung oder deren Anhängigkeit für das Verfahren der Teilanmeldung relevant wäre (s. auch Nrn. 8.1 und 8.2), und in Ermangelung einer solchen Vorschrift sieht die Große Beschwerdekammer keine Grundlage für die Einführung einer weiteren Einschränkung.
13.1 Gemäß Artikel 76 (3) EPÜ können das Verfahren und die besonderen Erfordernisse in der Ausführungsordnung festgelegt werden. Dies hindert die Große Beschwerdekammer daran, strengere Erfordernisse zu bestimmen als in der Ausführungsordnung vorgesehen. Täte sie es, würde sie in einen dem Verwaltungsrat vorbehaltenen Kompetenzbereich eindringen. Aufschlussreich ist ein Vergleich der 1978 geltenden Regel 25 (1) und (2) mit der jetzigen Regel 25 (1) EPÜ. Er zeigt, dass die für die Einreichung von Teilanmeldungen bestehenden Einschränkungen vom Gesetzgeber aufgehoben wurden. Sollen strengere Erfordernisse bestimmt werden, so müsste dies wegen Artikel 76 (3) EPÜ und des Gebots der Rechtssicherheit erneut durch den Gesetzgeber geschehen.
13.2 Die in der Vorlageentscheidung T 1409/05 ablehnend zitierten Entscheidungen T 720/02 und T 797/02 enthalten jeweils unter Nummer 2.2 der Entscheidungsgründe die folgende Passage:
“ allgemein anerkannten Grundsatz , dass das Prüfungsverfahren vor dem EPA auf eine Weise durchzuführen ist, die gewährleistet, dass die Öffentlichkeit innerhalb einer angemessenen Zeit nach Einreichung einer Patentanmeldung erfährt, welchen Umfang das vom Anmelder angestrebte ausschließliche Recht hat. Wendet man nun die für die Zulässigkeit von Teilanmeldungen geltenden materiellrechtlichen Vorschriften des EPÜ auf den – im Übereinkommen nicht explizit vorgesehenen – Sonderfall von Anmeldungen an, die ihrerseits aus Teilanmeldungen ausgeschieden werden, sollte man diesen Grundsatz daher tunlichst nicht konterkarieren.”
13.3 Dieser “Grundsatz” ist nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer durchaus wünschenswert und sowohl auf normale wie auch auf Teilanmeldungen anwendbar, und könnte den Gesetzgeber möglicherweise veranlassen, spezifische Vorschriften zur Erreichung dieses Ziels in Betracht zu ziehen. Er bietet aber den Beschwerdekammern oder anderen Organen des EPA keine Grundlage dafür, die Rechte der Anmelder in einer Weise einzuschränken, die nicht durch eine spezielle Vorschrift im EPÜ, wie z. B. Regel 25 (1) EPÜ, gerechtfertigt ist.
13.4 Die Kammer erkennt an, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt. Die Große Beschwerdekammer hat daher nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden, Änderungen in Teilanmeldungen zu beanstanden und zurückzuweisen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht wird wie in einer anhängigen Stammanmeldung oder einem erteilten Stammpatent. Dieser Grundsatz kann jedoch nicht geltend gemacht werden, um die Einreichung identischer Anmeldungen zu verhindern, denn das würde gegen den vorrangigen Grundsatz verstoßen, wonach erst anhand der endgültigen Fassung einer Anmeldung zu beurteilen ist, ob sie die Erfordernisse des EPÜ erfüllt (s. Nr. 3.2).
13.5 Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer bieten Artikel 76 (1) und Regel 25 EPÜ in ihrer derzeitigen Fassung keine geeignete Grundlage dafür, zusätzlich zu den Erfordernissen, die an alle Anmeldungen gestellt werden, weitere Erfordernisse für Teilanmeldungen festzulegen. So wird denn das, was manche Anmelder als legitime Nutzung der vom EPÜ gebotenen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten ansehen, von anderen als Missbrauch betrachtet, allerdings ausgehend von dem Recht, wie es ihrer Auffassung nach sein sollte, aber nicht ist. Die Kammer hält es für unbefriedigend, dass Ketten von Teilanmeldungen, die alle dieselbe breite Offenbarung der ursprünglichen Patentanmeldung enthalten, da zumindest die Beschreibung unverändert übernommen wurde, bis zu 20 Jahre anhängig sein können. Wenn administrative Maßnahmen wie eine Priorisierung von Teilanmeldungen bei der Prüfung und eine Bündelung und schnelle Bearbeitung von gleichzeitig anhängigen Teilanmeldungen, die es den Anmeldern erschweren, Gegenstände, hinsichtlich derer die Prüfungsabteilung in einer Anmeldung bereits eine negative Stellungnahme abgegeben hatte, dadurch aufrechtzuerhalten, dass sie sie immer wieder von Neuem einreichen, so sollte der Gesetzgeber überlegen, worin Missbräuche liegen und wie für Abhilfe gesorgt werden kann.
14. Da Frage 1 zu bejahen ist, erübrigt sich eine Beantwortung der anderen Fragen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen sind die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wie folgt zu beantworten:
Was Artikel 76 (1) EPÜ angeht, so kann eine Teilanmeldung, die zum Zeitpunkt ihrer Einreichung einen Gegenstand enthält, der über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, später geändert werden, damit ihr Gegenstand nicht mehr über diese Fassung hinausgeht, und zwar auch dann noch, wenn die frühere Anmeldung nicht mehr anhängig ist. Im Übrigen gelten für solche Änderungen dieselben Einschränkungen wie für Änderungen in anderen Anmeldungen (die keine Teilanmeldungen sind).