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European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1992:G000192.19921218 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 18 Dezember 1992 | ||||||||
Aktenzeichen: | G 0001/92 | ||||||||
Anmeldenummer: | – | ||||||||
IPC-Klasse: | – | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
Download und weitere Informationen: |
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Bezeichnung der Anmeldung: | – | ||||||||
Name des Anmelders: | – | ||||||||
Name des Einsprechenden: | – | ||||||||
Kammer: | EBA | ||||||||
Leitsatz: | 1. Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehört zum Stand der Technik, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren. 2. Derselbe Grundsatz gilt entsprechend auch für alle anderen Erzeugnisse. |
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Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit Stand der Technik Zugänglichkeit Zusammensetzung des Erzeugnisses Offenkundige Vorbenutzung |
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Orientierungssatz: |
– |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
Zusammenfassung des Verfahrens
I. Am 30. Dezember 1991 legte der Präsident des Europäischen Patentamts der Großen Beschwerdekammer in Ausübung seiner Befugnis nach Artikel 112 (1) b) EPÜ die folgenden Rechtsfragen vor:
“1. Wird die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit allein schon dadurch zugänglich gemacht, daß das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist, und zwar unabhängig davon, ob es für den Fachmann besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren?
2. Läßt sich, falls die erste Frage bejaht wird, dieser Grundsatz so weit verallgemeinern, daß alle aus einem Erzeugnis abzuleitenden Informationen der Öffentlichkeit allein schon dadurch zugänglich gemacht werden, daß das Erzeugnis selbst zugänglich ist, und zwar unabhängig davon, ob es für den Fachmann besondere Gründe gibt, nach diesen Informationen zu suchen?”
II. Der Präsident verwies auf die Entscheidungen T 93/89 (ABl. EPA 1992, 718) und T 406/86 (ABl. EPA 1989, 302) und hob im wesentlichen auf folgendes ab: Die Beschwerdekammer 3.3.3 hatte in der Sache T 93/89 verspätet eingereichte Beweismittel für eine offenkundige Vorbenutzung unberücksichtigt gelassen und sich dabei darauf berufen, daß sie nicht relevant seien. Sie begründete dies unter anderem damit, daß die Zusammensetzung eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit nicht allein schon dadurch zugänglich gemacht werde, daß ihr das Erzeugnis selbst zugänglich sei. Die Kammer war der Auffassung, daß der Fachmann für die Analyse des Erzeugnisses einen ausreichenden Anlaß gehabt haben müsse. In diesem Zusammenhang stellte die Kammer insbesondere fest, daß das bloße Inverkehrbringen eines neuen Erzeugnisses für einen Konkurrenten keinen zwingenden Grund darstelle, die Zusammensetzung dieses Erzeugnisses zu analysieren.
Im Gegensatz zu dieser Entscheidung hatte die Beschwerdekammer 3.3.1 in der Sache T 406/86 den Standpunkt vertreten, daß der Öffentlichkeit mit einem Erzeugnis auch dessen Zusammensetzung zugänglich gemacht werde, wenn sich diese ohne weiteres durch eine chemische Analyse bestimmen lasse.
III. Der Präsident stellte fest, daß die voneinander abweichenden Entscheidungen zwar die Zusammensetzung eines chemischen Erzeugnisses beträfen, sich dieselbe Grundsatzfrage aber in allen technischen Bereichen stellen könne, wenn es um eine durch Vorbenutzung bewirkte Offenbarung von Merkmalen gehe, die nicht direkt erkennbar seien, sondern beispielsweise nur durch Zerlegung oder Zerstörung des Erzeugnisses ermittelt werden könnten.
Begründung der Stellungnahme
1. Die Rechtsfragen, die der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer vorgelegt hat, beziehen sich auf die Anwendung des Artikels 54 (2) EPÜ, durch den der Stand der Technik wie folgt definiert wird: “Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist.”
1.1 Mit diesen Rechtsfragen soll geklärt werden, wie das Erfordernis “der Öffentlichkeit zugänglich gemacht” bei der Vorbenutzung eines Erzeugnisses auszulegen ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß das EPÜ keinerlei Unterschied zwischen chemischen und anderen Erzeugnissen – etwa mechanischen oder elektrotechnischen – macht.
1.2 Artikel 54 (2) EPÜ unterscheidet auch nicht zwischen den verschiedenen Wegen, auf denen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Somit gelten für Informationen, die aus der Benutzung eines Erzeugnisses abgeleitet werden, grundsätzlich dieselben Bedingungen wie für Informationen, die durch mündliche oder schriftliche Beschreibung offenbart werden.
1.3 Der Großen Beschwerdekammer erscheint es zweckdienlich, zunächst einmal ganz allgemein darauf einzugehen, welche Informationen sich – im Hinblick auf die Anwendung des in Artikel 54 (2) EPÜ vorgesehenen Erfordernisses “der Öffentlichkeit zugänglich gemacht” – aus der offenkundigen Benutzung von Erzeugnissen ableiten lassen.
1.4 Ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre besteht darin, daß der Fachmann in die Lage versetzt werden soll, ein bestimmtes Erzeugnis durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu benutzen. Ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muß der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluß über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen. Wenn der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und dieses reproduzieren kann, gehören sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik.
2. Im EPÜ findet sich kein Anhaltspunkt für das von der Kammer 3.3.3 in der Sache T 93/89 aufgestellte zusätzliche Erfordernis (s. vorstehend Nr. II), daß die Öffentlichkeit besondere Gründe haben muß, um ein in Verkehr gebrachtes Erzeugnis zur Ermittlung seiner Zusammensetzung oder inneren Struktur zu analysieren. Nach Artikel 54 (2) EPÜ bildet den Stand der Technik alles, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Die bloße Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Zugangs zu bestimmten Informationen macht diese zugänglich, und zwar unabhängig davon, ob ein Grund besteht, nach ihnen zu suchen.
2.1 Die Einführung eines solchen zusätzlichen Erfordernisses würde ein reproduzierbares Handelsprodukt aus dem Bereich der Gemeinfreiheit (“domaine public”) herausnehmen. Damit würde man ohne Not von den Grundsätzen abweichen, die für die übrigen Quellen des Stands der Technik gemäß Artikel 54 (2) EPÜ gelten, und ein Element der Subjektivität schaffen, das zu Unwägbarkeiten bei der Anwendung des in diesem Artikel definierten Neuheitsbegriffs führen würde.
3. Ergänzend sei angemerkt, daß ein Handelsprodukt als solches implizit nichts offenbart, was über seine Zusammensetzung oder innere Struktur hinausgeht. Andere Merkmale, die sich nur zeigen, wenn das Erzeugnis in Wechselwirkung mit gezielt gewählten äußeren Bedingungen, z. B. Reaktanten oder ähnlichem, gebracht wird, um eine bestimmte Wirkung oder ein bestimmtes Ergebnis herbeizuführen oder mögliche Ergebnisse oder Fähigkeiten zu entdecken, weisen daher über das Erzeugnis als solches hinaus, weil sie von bewußten Auswahlentscheidungen abhängen. Typische Beispiele hierfür sind die Anwendung eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches als Arzneimittel (vgl. Art. 54 (5) EPÜ) und die auf einer neuen technischen Wirkung beruhende Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck (vgl. G 2/88, ABl. EPA 1990, 93). Demnach können solche Merkmale nicht als der Öffentlichkeit bereits zugänglich gemacht gelten.
Schlußfolgerung
Aus diesen Gründen beantwortet die Große Beschwerdekammer die ihr vom Präsidenten des EPA mit Schriftsatz vom 30. Dezember 1991 vorgelegten Fragen wie folgt:
1. Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehört zum Stand der Technik, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren.
2. Derselbe Grundsatz gilt entsprechend auch für alle anderen Erzeugnisse.