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Sachverhalt und Anträge
I. Der Vorlage liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 0 225 103, das auf die europäische Anmeldung Nr. 86 308 961.1 erteilt wurde. Die einzige Einsprechende legte als alleinige Beschwerdeführerin Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten. Anspruch 1 enthielt in der aufrechterhaltenen Fassung ein der erteilten Fassung hinzugefügtes Merkmal. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin reichte im Beschwerdeverfahren einen Hauptantrag ein, in dem dieses Merkmal enthalten war, sowie einen ersten Hilfsantrag, in dem es gestrichen wurde.
II. In der Vorlageentscheidung T 315/97 (ABl. EPA 1999, 554) hielt es die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 trotz der Feststellung, daß das hinzugefügte Merkmal auf eine Passage in der Beschreibung zurückgehe, nicht für möglich, dem Hauptantrag stattzugeben. Die vorlegende Kammer vertrat die Ansicht, daß die Streichung dieses Merkmals im ersten Hilfsantrag dazu führen würde, den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung zu erweitern. Damit würde die Beschwerdeführerin schlechtergestellt, als wenn sie nicht Beschwerde eingelegt hätte. Die Kammer fügte hinzu, daß die beantragte Streichung allerdings als sachdienlich und notwendig angesehen werden könnte, weil damit ein im Beschwerdeverfahren erhobener Einwand ausgeräumt werden solle.
III. Unter Hinweis auf die Rechtsunsicherheit, die durch die uneinheitliche Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Hinblick auf das Verschlechterungsverbot bei der Anwendung oder Auslegung der Entscheidung G 9/92 (ABl. EPA 1994, 875) entstanden sei, hat die Technische Beschwerdekammer 3.4.2 der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorgelegt:
“Muß ein – z. B. durch Streichung eines einschränkenden Anspruchsmerkmals – geänderter Anspruch zurückgewiesen werden, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde?”
IV. Die Beschwerdeführerin/Einsprechende machte in ihrer ersten schriftlichen Stellungnahme im vorliegenden Verfahren geltend, daß die Große Beschwerdekammer eine reformatio in peius auch in den Fällen verbieten müßte, in denen der Einsprechende Beschwerdeführer sei und der Patentinhaber sonstiger Verfahrensbeteiligter am Beschwerdeverfahren sei. Dies stünde ihres Erachtens im Einklang mit den Rechtsvorschriften und der Rechtsprechung zahlreicher EPÜ-Vertragsstaaten und mit der früheren Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer. Da die Patentinhaberin im Einspruchsverfahren von sich aus beschlossen habe, ihr Patent nicht mehr in der erteilten Fassung zu verteidigen, sondern auf enger gefaßte Ansprüche auszuweichen, lägen keine besonderen Gründe vor, die ein Abweichen von den geltenden Rechtsgrundsätzen rechtfertigen würden.
V. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin vertrat in ihrer Erwiderung den Standpunkt, daß in der Entscheidung G 9/92 unter den Nummern 14 und 15 der Entscheidungsgründe eindeutig “asymmetrische” Schlußfolgerungen gezogen würden, indem entschieden werde, daß
– bei einer Fallkonstellation, in der der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer sei, die von der Einspruchsabteilung gewährten Ansprüche eine Untergrenze bildeten und einem Antrag, der dem Patentinhaber weitere Abstriche abverlange, nicht stattgegeben werden könne,
– bei einer Fallkonstellation, in der der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer sei, die von der Einspruchsabteilung gewährten Ansprüche keine Obergrenze bildeten, deren Überschreitung dem Patentinhaber bei der Verteidigung seines Patents verwehrt wäre.
VI. In diesen Stellungnahmen und in ihrem späteren Vorbringen schlugen die Beteiligten diametral entgegengesetzte Antworten auf die Vorlagefrage vor.
VII. Zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung erhielten die Beteiligten eine Mitteilung der Großen Beschwerdekammer, in der diese auf die Punkte hinwies, die ihres Erachtens für die zu treffende Entscheidung einer eingehenden Erörterung bedurften.
VIII. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin reichte daraufhin ein Rechtsgutachten zu der Frage ein, in welchem Umfang ein nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ am Beschwerdeverfahren beteiligter Patentinhaber die Ansprüche ändern dürfe. In diesem Gutachten wurde argumentiert, daß ein Änderungsantrag eines nicht beschwerdeführenden Patentinhabers zulässig sein sollte. Selbst wenn der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer durch die beantragte Änderung schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde, sollte der Antrag nur bei einem Verstoß gegen die Artikel 123 (2) und 123 (3) EPÜ zurückgewiesen werden. Dementsprechend lautete das Ergebnis des Rechtsgutachtens, daß die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage zu verneinen sei.
IX. Die Beschwerdeführerin/Einsprechende zog in ihrem letzten Schriftsatz den Schluß, daß die Vorlagefrage zu bejahen sei, weil man sich mit ihrer Verneinung ganz über die Begründung der Entscheidung G 9/92 hinwegsetzen würde und die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin keinen triftigen Grund genannt habe, warum die Große Beschwerdekammer dies tun sollte.
X. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin machte in ihrer abschließenden schriftlichen Stellungnahme im wesentlichen geltend, daß ein nicht hinnehmbares Ungleichgewicht entstünde, wenn ein nicht beschwerdeführender Patentinhaber in seinen Reaktionsmöglichkeiten auf eine Beschwerde nicht nur dadurch eingeschränkt würde, daß der Beschwerdeführer/Einsprechende das Verfahren von sich aus durch Zurücknahme der Beschwerde beenden könne, sondern auch noch dadurch, daß er bei der Verteidigung gegen Angriffe des Einsprechenden die von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltene Fassung als Obergrenze für Änderungen respektieren müßte.
XI. Am 19. Januar 2001 fand eine mündliche Verhandlung statt. Die Beteiligten brachten ihre Argumente vor und nahmen insbesondere zu folgenden mündlichen Fragen der Großen Beschwerdekammer Stellung:
– Was ist das richtige Verständnis der Entscheidung G 9/92; wendet sie den Grundsatz des Verschlechterungsverbots (reformatio in peius) auf Fälle, in denen der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer ist, und auf Fälle, in denen der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer ist, symmetrisch an?
– Wenn nicht, sollte dann ein geänderter Anspruch, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde, immer zum Verfahren zugelassen werden oder nur unter bestimmten Bedingungen?
– Wenn ja, gibt es Gründe, in bestimmten Fällen von dieser symmetrischen Anwendung abzuweichen, insbesondere wenn der Patentinhaber einen geänderten Anspruch einreicht, um einen Einwand des Einsprechenden und alleinigen Beschwerdeführers auszuräumen, und die Änderung in der Streichung eines im Einspruchsverfahren aufgenommenen einschränkenden Merkmals besteht?
Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Große Beschwerdekammer, daß die Entscheidung schriftlich ergehen werde.
Entscheidungsgründe
1. Die Vorlage entspricht den Erfordernissen des Artikels 112 (1) a) EPÜ und ist somit zulässig.
2. In der Vorlageentscheidung wird die Frage aufgeworfen, ob der Grundsatz des Verschlechterungsverbots angewandt werden muß, wenn der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer ist.
2.1 Eine Definition dieses Grundsatzes wurde schon früher in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zitiert, z. B. in der Entscheidung T 60/91 (ABl. EPA 1993, 551, Nr. 7 der Entscheidungsgründe): “Soweit die Regeln eines Beschwerdeverfahrens ein Hinausgehen über die Anträge der beschwerdeführenden Partei zu deren Nachteil verbieten, spricht man, zumindest im deutschsprachigen Rechtskreis, vom sog. ‘Verschlechterungsverbot’ oder vom Verbot einer ‘reformatio in peius'”. Unter dem Verschlechterungsverbot ist demnach zu verstehen, daß grundsätzlich keine Entscheidung getroffen werden darf, die einen Beschwerdeführer schlechterstellen würde als die angefochtene Entscheidung. Dies entspricht der in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Definition.
2.2 In der von der Technischen Beschwerdekammer 3.4.2 aufgeworfenen Frage verweist die Formulierung “Einsprechender und alleiniger Beschwerdeführer” auf die in der Vorlagesache gegebene Verfahrenssituation, nämlich ein Beschwerdeverfahren, in dem der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer und der Patentinhaber im Sinne des Artikels 107 Satz 2 EPÜ von Rechts wegen am Beschwerdeverfahren beteiligt, also Beschwerdegegner ist. Die Frage der reformatio in peius bzw. ihres Verbots betrifft aber auch Fälle, in denen mehrere Einsprechende unabhängig voneinander jeweils eine eigene Beschwerde gegen ein und dieselbe Entscheidung einlegen. Der Vollständigkeit halber soll die vorliegende Entscheidung auch diese Sachverhalte abdecken.
2.3 Was die Schlechterstellung des Einsprechenden/Beschwerdeführers anbelangt, so hat sich die Kammer 3.4.2 ausschließlich auf die etwaige Streichung eines im Einspruchsverfahren hinzugefügten einschränkenden Merkmals bezogen. Dies entspricht den Verfahrensverhältnissen in der Vorlagesache. Dementsprechend wird sich die Große Beschwerdekammer in der vorliegenden Entscheidung nur mit der Frage befassen, ob und unter welchen Umständen eine solche Streichung statthaft ist.
3. Die Kammer 3.4.2 hat die Frage im wesentlichen deshalb vorgelegt, weil es ihres Erachtens zu Rechtsunsicherheit geführt hat, daß die Rechtsprechung der Beschwerdekammern bei der Auslegung der Entscheidungen G 9/92 und G 4/93 der Großen Beschwerdekammer nicht einheitlich ist. (Diese beiden Entscheidungen sind identisch, s. ABl. EPA 1994, 875 und Fußnote. Die Große Beschwerdekammer zitiert aus G 4/93, weil der amtliche Text dieser Entscheidung Englisch ist. Der amtliche Text von G 9/92 ist Deutsch.)
3.1 In der Sache G 4/93 lautete die Frage: “Darf die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers abändern?”. Da diese ursprüngliche Frage keinen Unterschied zwischen alleinigen Beschwerden des Patentinhabers und alleinigen Beschwerden des Einsprechenden machte, schließt sie die hier vorliegende Frage der Kammer 3.4.2 ein. Deshalb ist vor der Beantwortung der vorgelegten Frage zunächst die Entscheidung G 4/93 zu analysieren.
3.2 Wie in der Vorlageentscheidung ausgeführt wird, hat sich in den dort genannten Beschwerdekammerentscheidungen eine divergierende Auslegung der in der Entscheidungsformel zu G 4/93 enthaltenen Antwort auf die Frage herausgebildet, ob das Verschlechterungsverbot in den Fällen gelten soll, in denen der Patentinhaber sonstiger Verfahrensbeteiligter ist. Die Auffassung, daß eine Verschlechterung verboten ist, wurde insbesondere in den Entscheidungen T 923/92 (ABl. EPA 1996, 564) und T 579/94 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) vertreten. Zu den Entscheidungen, denen zufolge eine Verschlechterung möglich ist, gehören T 752/93 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) und T 1002/95 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht).
3.3 Daß die Rechtsprechung in unterschiedliche Richtungen geht, liegt in erster Linie daran, wie die Beschwerdekammern Absatz 2 der Entscheidungsformel zu G 4/93 auslegen, der wie folgt lautet:
“Ist der Einsprechende der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so ist der Patentinhaber primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat. Änderungen, die der Patentinhaber als Beteiligter nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ vorschlägt, können von der Beschwerdekammer abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind.”
3.4 In der Vorlageentscheidung wird die Große Beschwerdekammer nunmehr aufgefordert, die Gewichtung der in G 4/93 genannten Kriterien, nämlich Verschlechterung der Lage des Einsprechenden/Beschwerdeführers einerseits und Sachdienlichkeit und Notwendigkeit der Änderungen andererseits, zu klären.
4.1 Unstreitig ist, daß laut Entscheidung G 4/93 der Grundsatz des Verschlechterungsverbots Anwendung finden soll, wenn der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang ist. So lautet eindeutig Absatz 1 der Entscheidungsformel. Ein Patentinhaber kann also nicht schlechtergestellt werden, als wenn er keine Beschwerde eingelegt hätte. Das bedeutet, daß die Beschwerdekammer gegen das Patent in der von der Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung aufrechterhaltenen Fassung weder auf Antrag des Beschwerdegegners/Einsprechenden noch von Amts wegen Einwände erheben kann. Dies wird dadurch ausgeglichen, daß der Einsprechende die Möglichkeit hat, auf nationaler Ebene die Nichtigerklärung des aufrechterhaltenen Patents zu beantragen.
4.2 Absatz 2 der Entscheidungsformel betrifft Verfahren, in denen der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang ist, oder, wie unter Nummer 2.2 dargelegt, Beschwerdeverfahren, an denen der Patentinhaber nur sonstiger Beteiligter ist. Zwar bezog sich die Frage, mit der die Große Beschwerdekammer in G 4/93 befaßt wurde, auf Beschwerdeführer im allgemeinen, doch läßt die in der Entscheidungsformel vorgenommene Unterscheidung zweifelsfrei erkennen, daß die Große Beschwerdekammer speziell auch auf den letztgenannten Sachverhalt eingehen wollte.
5. Bei der Auslegung der Entscheidung G 4/93 muß die Entscheidungsformel natürlich im Zusammenhang mit den Entscheidungsgründen betrachtet werden. In den Nummern 1 bis 13 geht es um Verfahrensgrundsätze und die Bindungswirkung des vom Beschwerdeführer gestellten Antrags. Unter diesen Nummern definierte die Große Beschwerdekammer zunächst den allgemeinen Rahmen und zog dann eine spezifische Schlußfolgerung für Einspruchsbeschwerdeverfahren, in denen der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer ist (Nr. 14), und für Einspruchsbeschwerdeverfahren, in denen der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer ist (Nrn. 15 und 16). Nummer 17 enthält eine abweichende Meinung.
6. In den Ausführungen unter den Nummern 1 bis 13 der Entscheidung G 4/93 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, daß das EPÜ keine Bestimmung enthält, nach der die Beschwerdeentscheidung den Beschwerdeführer im Vergleich zur angefochtenen Entscheidung im Ergebnis nicht schlechterstellen dürfe. Zugleich stellte sie jedoch die nachstehenden Erwägungen an.
6.1 Was die Aufgabe des Beschwerdeverfahrens betrifft, so stellte die Große Beschwerdekammer in Nummer 5 der Entscheidungsgründe von G 4/93 unter Hinweis auf die Stellungnahme G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) erneut folgendes fest: “Das zweiseitige Beschwerdeverfahren hat primär die Aufgabe, der unterlegenen Partei die Möglichkeit zu geben, die getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung anzufechten.” Dies steht in Einklang insbesondere mit Artikel 106 (1) EPÜ (“Die Entscheidungen … der Einspruchsabteilungen … sind mit der Beschwerde anfechtbar.”) und mit Artikel 107 EPÜ (“Die Beschwerde steht denjenigen zu, die an dem Verfahren beteiligt waren, das zu der Entscheidung geführt hat, soweit sie durch die Entscheidung beschwert sind.”). Daraus ergibt sich, daß der Beschwerdegegenstand eine Entscheidung ist, die von einer der in Artikel 106 (1) EPÜ genannten Stellen erlassen wurde (s. a. Paterson, “The European Patent System”, Sweet & Maxwell, London 1992, S. 57 und Singer/Stauder, “Europäisches Patentübereinkommen”, 2. Auflage, Heymanns, Köln 2000, Art. 106, Rdn. 21). Fragen, die über den Gegenstand der angefochtenen Entscheidung hinausgehen, sind denn auch nicht Bestandteil der Beschwerde. Hieraus wurde in der Stellungnahme G 10/91 der Grundsatz hergeleitet, daß neue Einspruchsgründe im Beschwerdeverfahren nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden dürfen. Ein neuer Einspruchsgrund im Beschwerdeverfahren ist per definitionem ein Einspruchsgrund, der weder in der Einspruchsschrift geltend gemacht und substantiiert noch von der Einspruchsabteilung in das Verfahren eingeführt worden ist (s. G 1/95, ABl. EPA 1996, 615, Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe).
6.2 Was den Umfang des Verfahrens angeht, so hat die Große Beschwerdekammer unter Nummer 1 der Entscheidungsgründe von G 4/93 darauf verwiesen, daß “der einleitende Antrag” das Verfahren bestimmt. Der Beschwerdeführer kann gegen eine Entscheidung als Ganzes oder gegen Teile der Entscheidung Beschwerde einlegen (s. R. 64 b) EPÜ). Dies entspricht dem Antragsgrundsatz.
6.3 Im Zusammenhang mit dem Umfang des Beschwerdeverfahrens ist aber noch ein anderer Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Gemäß den Ausführungen unter Nummer 9 der Entscheidung G 4/93 und im Sinne des Artikels 107 EPÜ zielt das Beschwerdeverfahren auf die Beseitigung einer durch die angefochtene Entscheidung verursachten “Beschwer” ab. Eine Beschwer kann durch die Entscheidung als Ganzes oder auch nur durch einen Teil verursacht werden. Folgerichtig kann der Beschwerdeführer weder eine Entscheidung noch einen Teil einer Entscheidung anfechten, durch die er nicht beschwert ist.
6.4 Somit ist es der Beschwerdeführer, der – im Rahmen des ihn beschwerenden Gegenstands der angefochtenen Entscheidung – in der Beschwerdeschrift bestimmt, in welchem Umfang er die Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt.
6.5 Zur Stellung der am Beschwerdeverfahren beteiligten Parteien heißt es in G 4/93 unter Nummer 8 der Entscheidungsgründe, daß “nur wer eine – zulässige – Beschwerde einreicht, die Stellung eines Beschwerdeführers [erlangt], während der nicht beschwerdeführenden Partei die Rolle eines am Beschwerdeverfahren Beteiligten … zukommt”. Dies ergibt sich aus Artikel 107 Satz 2 EPÜ, wonach “die übrigen an diesem Verfahren Beteiligten am Beschwerdeverfahren beteiligt [sind]”. In diesem Zusammenhang ist auch Nummer 6.1 der Entscheidungsgründe in G 2/91 (ABl. EPA 1992, 206) zu sehen, wo die Große Beschwerdekammer feststellte: “Artikel 107 Satz 2 EPÜ verleiht den Beteiligten der ersten Instanz, die keine Beschwerde eingelegt haben, keine von der Beschwerde unabhängige Rechtsstellung, sondern garantiert lediglich, daß sie an einem anhängigen Beschwerdeverfahren beteiligt sind.” In G 4/93 hielt die Große Beschwerdekammer unter Nummer 10 der Entscheidungsgründe fest: “Wer sich gegen eine Entscheidung der ersten Instanz nicht innerhalb der Beschwerdefrist beschwert, kann nicht das – unbefristete – Recht zu Anträgen beanspruchen, die in ihrer Tragweite einem Beschwerdeantrag entsprechen, und damit – als Reaktion auf eine Beschwerde des Verfahrensgegners – die Stellung eines Beschwerdeführers einnehmen.” Dem wird unter Nummer 11 hinzugefügt: “Die nicht beschwerdeführende Partei hat als Beschwerdegegnerin die Möglichkeit, all das, was sie für die Verteidigung des vor der ersten Instanz erzielten Ergebnisses für notwendig und zweckmäßig hält, im Beschwerdeverfahren vorzubringen.”
6.6 In Artikel 114 (1) EPÜ ist der Amtsermittlungsgrundsatz verankert, der es den Beschwerdekammern prima facie erlauben mag, den Umfang der Beschwerde zu erweitern. Zu diesem Grundsatz stellte die Große Beschwerdekammer in Nummer 3 der Entscheidungsgründe von G 4/93 unter Bezugnahme auf Nummer 18 der Entscheidungsgründe in G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) fest, daß die Kompetenz einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer zur Entscheidung über den Widerruf oder die Aufrechterhaltung eines europäischen Patents vom Umfang der Anfechtung des Patents in der Einspruchsschrift abhängt. In beiden Entscheidungen wurde ausgeführt, daß Artikel 114 (1) EPÜ, dessen Anwendung schon im Einspruchsverfahren beschränkt ist, im Beschwerdeverfahren noch restriktiver anzuwenden ist, und zwar im wesentlichen, weil das Beschwerdeverfahren nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer als verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen ist (s. Nr. 18 der Entscheidungsgründe in G 9/91 und Nr. 7 der Entscheidungsgründe in G 8/91, ABl. EPA 1993, 346). Außerdem verwies die Große Beschwerdekammer in G 4/93 unter Nummer 6 der Entscheidungsgründe darauf, daß “im Zusammenhang mit der Entscheidungskompetenz der Beschwerdekammern auch die Wirkung der Zurücknahme der Beschwerde zu sehen [ist]” und daß “mit dem Wegfall der Beschwerde oder der Beschwerden die Kompetenz zur weiteren Durchführung des Verfahrens und zur Entscheidung [wegfällt]”. Damit sollte verdeutlicht werden, wie der Antrag des Beschwerdeführers den Umfang einschränkt, in dem die Beschwerdekammern von Amts wegen tätig werden können.
7. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer ergibt sich aus den Entscheidungsgründen 1 bis 13 der Entscheidung G 4/93, daß die nicht beschwerdeführende Partei grundsätzlich keinen Antrag stellen kann, der über den im Antrag des Beschwerdeführers festgelegten Umfang der Beschwerde hinausgeht.
8. Nummer 14 der Entscheidungsgründe in G 4/93 bezieht sich speziell auf Beschwerden, bei denen der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer ist. Durch die Aussage, daß der Rahmen der Beschwerde verlassen wird, wenn der nicht beschwerdeführende Einsprechende den Widerruf des Patents beantragt, führt Nummer 14 zu Absatz 1 der Entscheidungsformel. Damit steht – wie unter Nummer 4.1 dargelegt – fest, daß der Patentinhaber nicht schlechtergestellt werden kann als ohne die Beschwerde, d. h. daß eine reformatio in peius verboten ist.
9. Die Nummern 15 und 16 der Entscheidungsgründe in G 4/93 gehen dann speziell auf Beschwerden ein, bei denen der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer ist, woraus sich Absatz 2 der Entscheidungsformel ergibt. Über den Beschwerdegegner/Patentinhaber bei dieser Fallkonstellation wird unter Nummer 16 gesagt: “Durch die Nichteinlegung der Beschwerde hat er zu erkennen gegeben, daß er die Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung der Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht anfechten will.”
9.1 Dies setzt nach Artikel 107 Satz 1 EPÜ voraus, daß der Patentinhaber durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung beschwert und damit beschwerdeberechtigt war. In den drei Vorlageentscheidungen T 60/91, T 96/92 (verbundene Verfahren, ABl. EPA 1993, 551) und T 488/91 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), die zu der Entscheidung G 4/93 geführt haben, waren die Patente gemäß einem der Hilfsanträge des Patentinhabers in geänderter Fassung aufrechterhalten, die Hauptanträge indes zurückgewiesen worden. In der hier vorgelegten Sache war der Patentinhaber hingegen nicht beschwerdeberechtigt, da die von der Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung aufrechterhaltenen Ansprüche seinem Haupt- und zugleich einzigen Antrag entsprachen. Somit war der Patentinhaber durch die Entscheidung nicht beschwert und deshalb auch nicht beschwerdeberechtigt. Dieser Unterschied ändert aber nichts an der Schlußfolgerung, zu der die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 4/93 gelangt ist, denn der Patentinhaber hat dadurch, daß er in diesem einen Hauptantrag die Aufrechterhaltung des Patents in beschränktem Umfang beantragt hat, ebenfalls zu erkennen gegeben, daß er die Aufrechterhaltung des Patents in der von der Einspruchsabteilung geprüften und für gewährbar erachteten Fassung nicht anfechten würde. In dieser Situation ist dem Patentinhaber bewußt, daß er – wenn die Einspruchsabteilung seinem Hauptantrag stattgibt – das Beschwerderecht verliert, weil er durch diese Entscheidung nicht beschwert wird. Als Konsequenz daraus, daß der Patentinhaber signalisiert hat, daß er die Aufrechterhaltung des Patents in der von der Einspruchsabteilung gebilligten Fassung nicht anfechten will, wurde im ersten Satz von Absatz 2 der Entscheidungsformel in G 4/93 entschieden, daß der Patentinhaber im Beschwerdeverfahren primär darauf beschränkt ist, das Patent in der geänderten Fassung gemäß der Zwischenentscheidung zu verteidigen. Wenn dann die von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtete Fassung des Patents auch von der Kammer für gewährbar erachtet wird, kann der Patentinhaber – der diese Fassung ja bewußt gebilligt hat, indem er sie seinem Hauptantrag vor der Einspruchsabteilung zugrunde gelegt oder indem er auf eine Beschwerde verzichtet hat – grundsätzlich im Beschwerdeverfahren als Beschwerdegegner keine andere Fassung des Patents beantragen, es sei denn, diese ist enger als die aufrechterhaltene Fassung.
9.2 Dies entspricht den allgemeinen Ausführungen unter den Nummern 1 bis 13 der Entscheidungsgründe in G 4/93 und somit dem Grundsatz des Verschlechterungsverbots. Es entspricht auch der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer. Ob das Verschlechterungsverbot den in den Vertragsstaaten im allgemeinen anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts entspricht oder nicht, ist ohne Belang, weil sich die Begründung der Entscheidung G 4/93 nicht auf Artikel 125 EPÜ stützt. Zumindest im Verfahrensrecht Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Schweiz gibt es dieses Verbot jedoch, auch wenn es generell dadurch ausgeglichen wird, daß – anders als im EPÜ – Anschlußbeschwerden zulässig sind.
10. Es gilt nun zu prüfen, ob in der Entscheidung G 4/93 beabsichtigt war, dieses Verbot absolut symmetrisch sowohl auf Beschwerden anzuwenden, bei denen der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer ist, als auch auf solche, bei denen der Einsprechende alleiniger Beschwerdeführer ist. Als die Große Beschwerdekammer entschied, daß “Änderungen, die der Patentinhaber … vorschlägt, … abgelehnt werden [können], wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind”, merkte sie im letzten Satz von Nummer 16 lediglich an: “Dies trifft dann zu, wenn die Änderungen nicht durch die Beschwerde veranlaßt sind (Art. 101 (2) EPÜ, Regel 58 (2) und 66 (1) EPÜ; T 406/86, ABl. EPA 1989, 302; T 295/87, ABl. EPA 1990, 470).” In den Fällen aber, in denen die vom Patentinhaber vorgeschlagenen Änderungen tatsächlich durch die Beschwerde veranlaßt sind, bleibt die Frage offen, unter welchen Umständen sachdienliche und erforderliche Änderungen – insbesondere unter dem Aspekt einer etwaigen Schlechterstellung des Einsprechenden/Beschwerdeführers – im Beschwerdeverfahren zugelassen oder abgelehnt werden können.
10.1 Bezüglich der Frage, welche Änderungen als sachdienlich und erforderlich angesehen werden können, wird unter Nummer 16 der Entscheidungsgründe von G 4/93 auf die Entscheidungen T 406/86 und T 295/87 verwiesen. Dort heißt es, daß ein Patentinhaber im Einspruchsbeschwerdeverfahren keinen Rechtsanspruch auf Berücksichtigung von Änderungsvorschlägen hat. Ob solche Änderungen zugelassen werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Beschwerdekammer. Allerdings wurde in T 406/86 entschieden, daß Änderungen “sachdienlich” sind, wenn sie durch die Einspruchsgründe bedingt sind, und daß sie sich auf das beschränken sollten, was im Hinblick auf die Einspruchsgründe “erforderlich” ist (Nrn. 3.1.3 und 3.1.4 der Entscheidungsgründe). Wenn die Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form nicht entgegenstehen, weist die Einspruchsabteilung den Einspruch gemäß Artikel 102 (2) EPÜ zurück; in einem solchen Fall wäre die Zulassung von Änderungen eindeutig nicht sachdienlich und unnötig. Wenn dagegen Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen (Art. 102 (1) EPÜ), ist es normalerweise sachdienlich, dem Patentinhaber Gelegenheit zu geben, durch Änderungen eine Aufrechterhaltung in geändertem Umfang gemäß Artikel 102 (3) EPÜ zu erreichen (Nr. 3.1.6 der Entscheidungsgründe). In der Entscheidung T 295/87 wurde bestätigt, daß Änderungen während des Einspruchsverfahrens nur dann als sachdienlich und erforderlich zu betrachten sind, wenn vernünftigerweise behauptet werden kann, daß sie durch die in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe bedingt sind (Nr. 3 der Entscheidungsgründe). In keiner der beiden Entscheidungen wurde die reformatio in peius und die Frage behandelt, ob sachdienliche und erforderliche Änderungen auch dann zum Verfahren zugelassen werden sollen, wenn der Einsprechende/Beschwerdeführer dadurch schlechtergestellt wird. In der (vom Patentinhaber angezogenen) Entscheidung T 1002/95 heißt es, daß Änderungen, die der Patentinhaber im Beschwerdeverfahren vorschlägt, dann sachdienlich und erforderlich im Sinne der Entscheidung G 4/93 sind, wenn sie Mängel im Zusammenhang mit EPÜ-Erfordernissen beseitigen sollen, die erfüllt werden müssen. Wie vorstehend unter Nummer 3.2 erwähnt, heißt es in T 1002/95 außerdem, daß solche Änderungen selbst dann zugelassen werden sollten, wenn der Einsprechende/Beschwerdeführer dadurch schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde.
10.2 In der hier vorgelegten Sache hat sich die Patentinhaberin ferner auf die Regel 57a EPÜ berufen und geltend gemacht, daß diese Bestimmung einer Beschwerdekammer im Einspruchsbeschwerdeverfahren eine Rechtsgrundlage für die Zulassung von Änderungen bietet, die den Einsprechenden/Beschwerdeführer möglicherweise schlechterstellen. Die Große Beschwerdekammer kann sich dieser Argumentation aber nicht anschließen. Die Regel 57a EPÜ ist im Fünften Teil der Ausführungsordnung zum EPÜ enthalten, der sich auf das Einspruchsverfahren bezieht, und nicht im Sechsten Teil “Beschwerdeverfahren” oder im Siebenten Teil “Gemeinsame Vorschriften”. Zwar ist Regel 57a EPÜ nach Maßgabe der Regel 66 (1) EPÜ im Beschwerdeverfahren entsprechend anzuwenden, aber nur “soweit nichts anderes bestimmt ist”. Demnach schränkt Regel 57a EPÜ, soweit sie in Verfahren vor den Beschwerdekammern anwendbar ist, nicht von vornherein die Anwendung von Grundsätzen ein, die speziell das Beschwerdeverfahren betreffen, wie etwa das Verschlechterungsverbot.
10.3 In G 4/93 wiederum wird unter Nummer 10 der Entscheidungsgründe festgestellt, daß es nicht mit der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist vereinbar wäre, “dem nicht beschwerdeführenden Beteiligten das unbeschränkte Recht einzuräumen, das Verfahren durch eigene Anträge ohne zeitliche Grenze in eine andere Richtung zu lenken.” Das deutet nach Ansicht der Kammer darauf hin, daß Anträge eines nicht beschwerdeführenden Beteiligten dem Verfahren unter ganz bestimmten Umständen und innerhalb enger Grenzen doch eine andere Richtung geben könnten. Man muß dies in Verbindung mit dem Satz der Entscheidungsformel sehen, der besagt, daß “der Patentinhaber primär darauf beschränkt [ist], das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat”, und ebenfalls anklingen läßt, daß es Situationen geben könnte, in denen der Patentinhaber das Verfahren von seinem Umfang her in eine andere Richtung lenken dürfte, um das Patent in einer Fassung zu verteidigen, die sich nicht mit der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen deckt.
11. Die Große Beschwerdekammer ist daher der Auffassung, daß die von der Einsprechenden/Beschwerdeführerin verfochtene absolut symmetrische Anwendung des Verschlechterungsverbots in der Entscheidung G 4/93 nicht vorgesehen war. Eine undifferenzierte Anwendung ist in Fällen, in denen der Patentinhaber nur sonstiger Beteiligter am Beschwerdeverfahren ist, nicht zweckmäßig, weil sie unter bestimmten Umständen unbillige Folgen haben könnte. Eingedenk der Tatsache, daß die Anwendung des Verschlechterungsverbots in den Beschwerdeverfahren vor dem EPA auf die eigene Rechtsprechung zurückgeht, hat die Große Beschwerdekammer auch die Folgen dieser Anwendung abzuwägen, wenn sich diese als möglicherweise unbefriedigend erweisen.
12. Aus der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer (s. o. Nr. 6) ergibt sich, daß eine reformatio in peius verboten sein sollte, weil die Beschwerdekammern in erster Linie die Aufgabe haben, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen, und nicht, den Fall erneut von Beginn zu prüfen. Dies steht keineswegs im Widerspruch dazu, daß das Beschwerdeverfahren – was die Zulässigkeit der im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen betrifft – nicht auf den rechtlichen und faktischen Hintergrund des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung beschränkt ist. Im Beschwerdeverfahren können nämlich Einwände, die in der ersten Instanz erhoben wurden, durch neue Fakten untermauert sowie neue Einwände vorgebracht werden, so daß sich die Grundlage, auf der Beschränkungen vorgenommen wurden, durchaus noch ändern kann, und es unbillig wäre, dem Einsprechenden/Beschwerdeführer oder der Kammer neue Angriffe zu erlauben, während man dem Patentinhaber/Beschwerdegegner eine Verteidigungsmöglichkeit vorenthält. Laut G 4/93 ist der Patentinhaber/Beschwerdegegner primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung für gewährbar erachtet hat. Doch insbesondere wenn der Aufrechterhaltung des Patents Gründe entgegenstehen, die in der ersten Instanz nicht vorgebracht wurden, verdient der nicht beschwerdeführende Patentinhaber aus Gründen der Billigkeit Schutz.
13. Im Hinblick auf den Grundsatz der Billigkeit sind im Rahmen dieser Vorlage die nachstehenden Aspekte zu berücksichtigen.
13.1 Bei der Anwendung des Verschlechterungsverbots auf Fälle, in denen der Patentinhaber alleiniger Beschwerdeführer ist, gibt es für den Einsprechenden/Beschwerdegegner, wenn er das Patent in der letztlich aufrechterhaltenen Fassung für nicht rechtsgültig hält, immer noch einen Rechtsbehelf, denn er hat die Möglichkeit, auf nationaler Ebene die Nichtigerklärung des Patents zu beantragen.
13.2 Völlig andere Konsequenzen hat die Anwendung dieses Grundsatzes in Fällen, in denen der Patentinhaber sonstiger Beteiligter am Beschwerdeverfahren ist. Kommt die Beschwerdekammer nämlich zu dem Ergebnis, daß ein Patent nicht aufrechterhalten werden kann, so gibt es für den Patentinhaber weder beim EPA noch auf nationaler Ebene einen Rechtsbehelf hiergegen, denn diese Entscheidung ist weder mit einer Beschwerde noch mit einer Klage anfechtbar.
13.3 In der hier zur Debatte stehenden Sache hielt es die vorlegende Kammer nicht für möglich, dem Hauptantrag der Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin stattzugeben, d. h. es bei der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Fassung zu belassen, die ein im Einspruchsverfahren hinzugefügtes einschränkendes Merkmal enthält. In bezug auf den ersten Hilfsantrag, in dem das einschränkende Merkmal gestrichen wurde, machte die vorlegende Kammer hingegen geltend, daß die Streichung durch die Beschwerde veranlaßt war und deshalb als sachdienlich und notwendig angesehen werden könnte, weil damit ein im Beschwerdeverfahren erhobener Einwand ausgeräumt werden sollte. Den Hauptantrag der Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin müßte die vorlegende Kammer also zurückweisen, weil er die Erfordernisse des EPÜ nicht erfüllt. Wenn nun ungeachtet der besonderen Umstände des Falls der Grundsatz des Verschlechterungsverbots anzuwenden wäre, müßte sie auch den ersten Hilfsantrag zurückweisen, weil die Einsprechende/Beschwerdeführerin durch diesen schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde. Letzten Endes müßte sie dann die angefochtene Entscheidung aufheben und das Patent widerrufen. Wie unter Nummer 13.2 ausgeführt, gibt es beim Widerruf eines Patents im Beschwerdeverfahren keinen Rechtsbehelf für den Patentinhaber. Das bedeutet, der Patentinhaber verliert als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung gebilligt hat, definitiv jeglichen Schutz, obwohl die Streichung des hinzugefügten Merkmals eigentlich den unmittelbaren Widerruf des Patents verhindert hätte.
14. Um über den Antrag der Beschwerdeführerin/Einsprechenden entscheiden zu können, muß die Beschwerdekammer darüber befinden, ob der geänderte Anspruchssatz in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung patentierbar ist. Insbesondere muß die Kammer prüfen, ob ein im Einspruchsverfahren aufgenommenes einschränkendes Merkmal die Erfordernisse des EPÜ erfüllt oder nicht. Wenn nun der Patentinhaber/Beschwerdegegner im Beschwerdeverfahren einen Antrag einreicht, um einen vom Einsprechenden/Beschwerdeführer oder von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, wonach eine im Einspruchsverfahren aufgenommene und von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtete Änderung nicht den Erfordernissen des EPÜ entspricht, was unmittelbar zur Folge hätte, daß das Patent widerrufen werden müßte, so wäre es aus den unter Nummer 13 genannten Gründen unbillig, dem Patentinhaber nicht fairerweise Gelegenheit zu geben, die Folgen einer Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung zu mildern. Dem Patentinhaber kann daher gestattet werden, Anträge zur Beseitigung dieses Mangels einzureichen.
15. Gemäß den Ausführungen unter Nummer 10.1 kann der Patentinhaber/Beschwerdegegner im Beschwerdeverfahren eine Beschränkung des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung durch Aufnahme eines oder mehrerer ursprünglich offenbarter einschränkender Merkmale beantragen. Eine solche Beschränkung verstößt nicht gegen den Grundsatz des Verschlechterungsverbots. Erweist sich eine Beschränkung aber als unmöglich, so kann der Mangel möglicherweise nur beseitigt werden, wenn ausnahmsweise von diesem Grundsatz abgewichen wird. Da sich die Beschwerdekammern an den Grundsatz des Verschlechterungsverbots halten müssen, darf eine solche Ausnahmeregelung nur eng ausgelegt werden. Zur Beseitigung eines Mangels, der durch eine Änderung bedingt ist, die in die von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltene Fassung des Patents eingeführt wurde, aber nicht den Erfordernissen des EPÜ entspricht, muß der Beschwerdegegner/Patentinhaber daher versuchen, das Problem zu lösen, indem er folgendes beantragt:
– in erster Linie eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte einschränkende Merkmale aufgenommen werden und durch die der Einsprechende/Beschwerdeführer nicht schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde, oder
– wenn sich eine solche Beschränkung als unmöglich erweist, eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden und der Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung erweitert wird, jedoch ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ, oder
– wenn sich eine solche Änderung als unmöglich erweist und selbst wenn der Einsprechende/Beschwerdeführer dadurch schlechtergestellt wird, die Streichung der unzulässigen Änderung in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung, sofern nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird.
Änderungsanträge dieser Art sind als sachdienlich und erforderlich anzusehen und daher zulässig.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden, daß die der Großen Beschwerdekammer von der Technischen Beschwerdekammer 3.4.2 mit der Entscheidung T 315/97 vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:
Grundsätzlich muß ein geänderter Anspruch, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde, zurückgewiesen werden. Von diesem Grundsatz kann jedoch ausnahmsweise abgewichen werden, um einen im Beschwerdeverfahren vom Einsprechenden/Beschwerdeführer oder von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, wenn andernfalls das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müßte.
Unter diesen Umständen kann dem Patentinhaber/Beschwerdegegner zur Beseitigung des Mangels gestattet werden, folgendes zu beantragen:
– in erster Linie eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung einschränken;
– falls eine solche Beschränkung nicht möglich ist, eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung erweitern, ohne jedoch gegen Artikel 123 (3) EPÜ zu verstoßen
– erst wenn solche Änderungen nicht möglich sind, die Streichung der unzulässigen Änderung, sofern nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird.