http://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t940873dp1.html
Content reproduced from the Website of the European Patent Office as permitted by their terms of use.
European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1996:T087394.19960710 | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Datum der Entscheidung: | 10 Juli 1996 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0873/94 | ||||||||
Anmeldenummer: | 89116770.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | H01L 27/11 | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
|
||||||||
Bezeichnung der Anmeldung: | – | ||||||||
Name des Anmelders: | TOSHIBA | ||||||||
Name des Einsprechenden: | – | ||||||||
Kammer: | 3.4.01 | ||||||||
Leitsatz: | 1. Eine Teilanmeldung muß die Erfordernisse sowohl des Artikels 76 (1) EPÜ als auch des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllen. Artikel 76 (1) EPÜ regelt die Einreichung einer Teilanmeldung und damit die Frage, ob sie den Anmeldetag der Stammanmeldung zuerkannt bekommt und deren Prioritätsrecht genießt. Artikel 123 (2) EPÜ regelt Änderungen an Teilanmeldungen nach der Einreichung. 2. Soll eine Anmeldung dahingehend geändert werden, daß einem Anspruch ein beschränkendes Merkmal hinzugefügt wird, so ist eine “Neuheitsprüfung” zur Feststellung, ob die Änderung mit Artikel 123 (2) EPÜ im Einklang steht, ungeeignet, da es laut Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) “von den Umständen [abhängt], ob die Hinzufügung eines nicht offenbarten Merkmals, das den Schutzbereich … einschränkt, dem Zweck des Artikels 123 (2) EPÜ zuwiderläuft”. |
||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
|
||||||||
Schlagwörter: | Merkmal im Anspruch einer Teilanmeldung hinzugefügt Geänderte beanspruchte Kombination vom Schutzumfang der Stamm- und der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung erfaßt Gegenstand über den Inhalt der früheren und der Teilanmeldung in der eingereichten Fassung hinaus erweitert (verneint) |
||||||||
Orientierungssatz: |
– |
||||||||
Angeführte Entscheidungen: |
|
||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
|
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 89 116 770.2 (Veröffentlichungsnr. 0 349 022) ist eine Teilanmeldung der früheren Stammanmeldung Nr. 86 101 172.4 (Veröffentlichungsnr. 0 192 093).
II. Die Stammanmeldung bezieht sich auf eine Halbleitervorrichtung mit einer Verbindungsschicht, die Halbleiterregionen unterschiedlicher Leitfähigkeitstypen miteinander verbindet. Die erfindungsgemäße besondere Struktur wird anhand mehrerer verschiedener Halbleitervorrichtungen beschrieben. So werden in den Beispielen 1 und 2 unter Bezugnahme auf die Abbildungen 5 bis 12 statische CMOS-RAM-Zellen beschrieben. Beispiel 3 beschreibt unter Bezugnahme auf die Abbildungen 13 bis 15 ein Pull-up-Element, Beispiel 4 unter Verweis auf Abbildung 16 einen CMOS-Inverter und Beispiel 5 unter Verweis auf die Abbildungen 17 und 18 einen Bipolar-CMOS-Inverter.
Beispiel 2 nimmt auf die Bildung der pn-Diode nach Beispiel 1 Bezug, wobei festgestellt wird, daß die p- und n-Diffusionsregionen, die die pn-Diode in Beispiel 2 bilden, eine höhere Dotierung als 1019 cm-3 aufweisen müssen und daß die pn-Diode als Esaki-Diode fungiert, deren Durchlaßeigenschaften für einen Tunneleffekt sorgen. Die Eigenschaften der Esaki-Diode werden in Zusammenhang mit Abbildung 12 beschrieben, und es wird dargelegt, daß sie zu verbesserten Eigenschaften der RAM-Zelle führen.
Zwischen den Beispielen 2 und 3 enthält die Stammanmeldung auf Seite 14, Zeilen 4 bis 9 folgenden Absatz:
“Die vorliegende Erfindung wird anhand der statischen CMOS-RAM-Zellen der Beispiele 1 und 2 veranschaulicht. Die vorliegende Erfindung ist jedoch nicht auf statische CMOS-RAM-Zellen beschränkt, sondern kann sich auf verschiedenartige Halbleitervorrichtungen erstrecken. Einige Beispiele sind nachstehend beschrieben.”
Die Stammanmeldung enthielt in der ursprünglich eingereichten Fassung 10 Ansprüche; die Ansprüche 1 bis 7 definieren eine Halbleitervorrichtung, die Ansprüche 8 bis 10 ein Verfahren zur Herstellung einer solchen Vorrichtung. Anspruch 1 definiert eine Halbleitervorrichtung, die u. a. eine Verbindungsschicht umfaßt, wobei eine erste und eine dritte Halbleiterregion so ausgelegt sind, daß sie eine pn-Diode bilden. Anspruch 2 definiert eine Vorrichtung nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß die besagte pn-Diode eine Esaki-Diode ist. Die Ansprüche 8 und 10 sind Verfahrensansprüche, die den Ansprüchen 1 und 2 entsprechen.
Die vorliegende Teilanmeldung enthielt in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Beschreibung, die bis auf wenige Änderungen, von denen noch zu sprechen sein wird, der Beschreibung der Stammanmeldung entsprach. Sie enthielt einen einzigen Anspruch, der eine Halbleitervorrichtung in Form eines Pull-up-Elements definierte.
III. In einem Bescheid nach Artikel 96 (2) EPÜ beanstandete die Prüfungsabteilung die mangelnde erfinderische Tätigkeit des Anspruchs. Daraufhin reichte der Anmelder den wie folgt geänderten Anspruch ein:
“11. Eine Halbleitervorrichtung, umfassend eine erste Halbleiterregion (201) eines ersten Leitfähigkeitstyps, eine zweite Halbleiterregion (202) eines zweiten Leitfähigkeitstyps und eine Verbindungsschicht (203), die eine Verunreinigung eines zweiten Leitfähigkeitstyps enthält, worin
– die erste Halbleiterregion (201) Teil einer pn-Diode (204) ist,
– die Verbindungsschicht (203) die erste Halbleiterregion (201) mit der zweiten Halbleiterregion (202) verbindet und die erste Halbleiterregion eine Drainregion (201) eines MOS-Transistors und die zweite Halbleiterregion eine Gate-Elektrode (202) des MOS-Transistors ist,
– eine dritte Halbleiterregion (204) des zweiten Leitfähigkeitstyps vorgesehen ist, die in der ersten Halbleiterregion (201) bei der Diffusion der Verunreinigung von der Verbindungsschicht (203) zur ersten Halbleiterregion gebildet wird, die dasselbe kristalline Halbleitermaterial aufweist wie die dritte Halbleiterregion (204),
– die dritte Halbleiterregion (204) geeignet ist, zusammen mit der ersten Halbleiterregion (201) die besagte pn-Diode zu bilden, und
– diese pn-Diode eine Esaki-Diode (204) ist.”
Die Änderung gegenüber dem Anspruch der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung besteht in dem am Ende des Anspruchs hinzugefügten Merkmal, wonach “diese pn-Diode eine Esaki-Diode” ist.
IV. Nach einem weiteren Schriftwechsel und einer mündlichen Verhandlung wies die Prüfungsabteilung die Anmeldung zurück, weil sie in der Weise geändert worden sei, daß ihr Gegenstand über den Inhalt der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe, was gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße. Begründet wurde die Zurückweisung im wesentlichen damit, daß der geänderte Anspruch ein Pull-up-Element definiere, dessen pn-Diode eine Esaki-Diode sei, und weil eine solche Merkmalskombination in der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht beschrieben sei (ebensowenig in der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung).
Der Anmelder behauptete vor der Prüfungsabteilung, daß der geänderte Anspruch eine Grundlage in der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung habe, insbesondere in den Verfahrensansprüchen 8 und 10, mit denen alle Ausführungsformen der Erfindung abgedeckt werden sollten. Ferner berief er sich auf die Textpassage auf Seite 14, Zeilen 4 bis 9 der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (s. Nr. II). Diese Passage sei in der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung weggelassen worden.
Die Prüfungsabteilung vertrat jedoch die Auffassung, daß es nicht möglich sei, einen Gegenstand aus der Stammanmeldung nach Einreichung der Teilanmeldung in diese zu übernehmen, und daß die Verfahrensansprüche 8 und 10 den Gegenstand des geänderten Anspruchs nicht offenbarten, weil sie keinen Verweis auf die erste Region als Drain und die zweite Region als Gate eines MOS-Transistors enthielten. Außerdem sei Beispiel 2 der Stammanmeldung (in dem eine Esaki-Diode erwähnt werde) nur eine vorteilhafte Abwandlung der in Beispiel 1 beschriebenen CMOS-RAM-Zelle, und die hinzugefügte Esaki-Diode könne nicht als wesentlicher Bestandteil der in den Beispielen 3 bis 5 beschriebenen anderen Ausführungsformen der Erfindung angesehen werden. Selbst wenn die Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage für die Änderung abgeben könne, offenbare sie doch nicht die beanspruchte Kombination.
V. Der Anmelder legte gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde ein. In der Beschwerdebegründung wurde geltend gemacht, daß das EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür biete, die vorliegende Teilanmeldung (nach Artikel 123 (2) EPÜ) mit der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zu vergleichen. Artikel 123 (2) EPÜ sei nur für den Vergleich der vorliegenden Teilanmeldung mit der früheren Anmeldung (d. h. der Stammanmeldung) in der ursprünglich eingereichten Fassung heranzuziehen.
Was Teilanmeldungen betreffe, so gehe aus Artikel 123 (2) EPÜ nicht hervor, ob sich der Ausdruck “Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung” auf die Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder auf die frühere Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beziehe. In Artikel 76 (1) EPÜ heiße es jedoch ausdrücklich, daß eine Teilanmeldung nur für einen Gegenstand eingereicht werden könne, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Diese Sonderbestimmung nach Artikel 76 (1) EPÜ habe, soweit es um Teilanmeldungen gehe, Vorrang gegenüber der allgemeinen Bestimmung des Artikels 123 (2) EPÜ.
Im übrigen sei die besondere Merkmalskombination des geänderten Anspruchs in der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart – siehe Seite 12, Zeile 34 bis Seite 13, Zeile 1 und die Ansprüche 1, 2 und 5. Außerdem sei aus den ursprünglichen Verfahrensansprüchen 8 und 10 eindeutig zu ersehen, daß die pn-Diode bei allen beschriebenen Ausführungsformen eine gewöhnliche oder eine Esaki-Diode sein könne. Dies gehe auch aus Seite 13, Zeilen 9 bis 19 hervor, wo es heiße, daß die Verunreinigungskonzentration in Beispiel 2 höher sei als in Beispiel 1, was dazu führe, daß die pn-Diode als Esaki-Diode fungiere. Ferner werde auf Seite 14, Zeilen 4 bis 9 eindeutig gesagt, daß die vorliegende Erfindung auf verschiedene Arten von Halbleitervorrichtungen ausgedehnt werden könne, von denen einige im weiteren Verlauf als Beispiele angeführt würden.
VI. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vertrat die Kammer die vorläufige Auffassung, daß der Gegenstand des geänderten Anspruchs anscheinend nicht in der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart sei. Daraufhin reichte der Anmelder zwei Anspruchssätze als Haupt- bzw. Hilfsantrag ein.
Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
“Ein Halbleiter-Pull-up-Element (201, 202, 203, 204), umfassend
a) eine erste Halbleiterregion eines ersten Leitfähigkeitstyps (p), wobei die erste Halbleiterregion das Drain (201) eines MOS-Tranistors ist; und
b) eine zweite Halbleiterregion eines zweiten Leitfähigkeitstyps (n), wobei die zweite Halbleiterregion das Gate (201) des besagten MOS-Transistors ist;
dadurch gekennzeichnet, daß
c) eine Verbindungsschicht (203), die eine Verunreinigung des zweiten Leitfähigkeitstyps (n) enthält, das besagte Drain (201) mit dem besagten Gate (202) verbindet;
d) eine dritte Halbleiterregion des zweiten Leitfähigkeitstyps (n+) in der ersten Halbleiterregion vorgesehen ist, die bei der Diffusion der besagten Verunreinigung des zweiten Leitfähigkeitstyps (n) von der Verbindungsschicht (203) zur ersten Halbleiterregion gebildet wird, die dasselbe kristalline Material aufweist wie die dritte Halbleiterregion, und
e) die erste und die dritte Halbleiterregion geeignet sind, eine erste pn-Diode (204) zwischen dem Drain (201) und dem Gate (202) zu bilden.”
In Anspruch 2 des Hauptantrags heißt es, daß die Diode (204) eine Esaki-Diode ist.
Anspruch 1 des Hilfsantrags unterscheidet sich insofern von Anspruch 1 des Hauptantrags, als er nach dem Merkmal e ein zusätzliches Merkmal f enthält, wonach “die besagte Diode (204) eine Esaki-Diode ist”.
VII. In der mündlichen Verhandlung verwies die Kammer auf ihre vorläufige Auffassung, daß bei der gegebenen Sachlage eine geänderte Teilanmeldung die Erfordernisse sowohl des Artikels 76 (1) als auch des Artikels 123 (2) EPÜ zu erfüllen habe. Auf Vorschlag der Kammer beantragte der Anmelder, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache auf der Grundlage des Haupt- oder des Hilfsantrags an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Nach einer Beratung verkündete die Kammer, daß die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufgehoben sei, daß die Ansprüche 1 bis 3 des Hauptantrags nicht gegen die Bestimmungen der Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ verstießen und daß die Sache zur Prüfung der Frage, ob die auf den Hauptantrag gestützte Anmeldung die Erfordernisse des EPÜ erfülle, an die erste Instanz zurückverwiesen werde.
Entscheidungsgründe
1. Anwendbarkeit der Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ
Wie in Nr. II erwähnt, enthielt die vorliegende (Teil-)Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Beschreibung, die einige Änderungen gegenüber der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung aufwies, und einen Anspruch, dessen Gegenstand sich von dem in der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beanspruchten unterschied. Nachdem die vorliegende Anmeldung eingereicht worden war, wurden geänderte Ansprüche eingereicht.
Wie in Nr. V dargelegt, brachte der Anmelder vor, daß Änderungen an Teilanmeldungen einzig und allein den Bestimmungen des Artikels 76 (1) EPÜ unterlägen, wonach der Gegenstand einer Teilanmeldung nicht über den Inhalt der früheren (d. h. der Stamm-) Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen dürfe.
In der Entscheidung T 441/92 vom 10. März 1995 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) befaßte sich die Beschwerdekammer mit den für Teilanmeldungen geltenden Rechtserfordernissen und stellte folgendes fest: “Sind die Voraussetzungen des Artikels 76 (1) gegeben, so ist die Teilanmeldung als von der Stammanmeldung völlig getrennte Anmeldung zu prüfen und muß eigenständig die verschiedenen Erfordernisse des EPÜ erfüllen. In diesem Punkt folgt die Kammer der durch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern gestützten Praxis, wonach Teilanmeldungen nicht nur die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ, sondern auch die des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllen müssen (vgl. T 1055/92 (ABl. EPA 1995, 214), Nr. 7 der Entscheidungsgründe, und T 284/85 vom 24. November 1989 (unveröffentlicht), Nrn. 2 und 3 der Entscheidungsgründe)”.
Die hier entscheidende Kammer vertritt ebenfalls die Auffassung, daß Artikel 76 (1) EPÜ die Einreichung einer Teilanmeldung regelt, d. h. die Frage, ob eine als Teilanmeldung eingereichte Anmeldung den Anmeldetag der Stammanmeldung zuerkannt bekommt und deren Prioritätsrecht genießt. Werden an einer Teilanmeldung nach der Einreichung Änderungen vorgenommen, so muß die geänderte Anmeldung dem Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ genügen. Folglich muß eine Teilanmeldung in Fällen wie diesem sowohl den Anforderungen des Artikels 76 (1) EPÜ als auch denen des Artikels 123 (2) EPÜ entsprechen. Aus diesem Grund werden nachstehend die Erfordernisse beider Artikel näher erörtert.
2. Nach den Artikeln 76 (1) und 123 (2) EPÜ anwendbare Grundsätze
2.1 Die vorliegende Teilanmeldung entspricht den Artikeln 76 (1) und 123 (2) EPÜ nur, wenn ihr Gegenstand nicht über den Inhalt der Stammanmeldung bzw. der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Ausschlaggebend ist in beiden Fällen der gesamte Informationsgehalt der ursprünglichen Anmeldung (siehe z. B. die Entscheidung T 514/88 (ABl. EPA 1992, 570)). Dieser gesamte Informationsgehalt muß mit dem Inhalt der Teilanmeldung in der jetzt vorgeschlagenen geänderten Fassung verglichen werden, damit festgestellt werden kann, ob der Gegenstand der Teilanmeldung erweitert wurde, d. h., ob die Teilanmeldung in der geänderten Fassung einen zusätzlichen Gegenstand enthält.
2.2 Die Prüfungsabteilung scheint bei der Frage, ob die Erfordernisse der Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ erfüllt sind, den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ebenso wie den Inhalt der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung im wesentlichen anhand des Wortlauts ermittelt zu haben. Wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt, wurde beim Vergleich dieses Inhalts mit der Teilanmeldung in der geänderten Fassung offenbar eine “Neuheitsprüfung” durchgeführt. Nach Ansicht der Kammer ist es in einem solchen Fall aus den nachstehenden Gründen nicht angebracht, den Wortlaut der Offenbarungen zu vergleichen und eine “Neuheitsprüfung” vorzunehmen.
In der Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) hat die Große Beschwerdekammer auf den Hauptzweck des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ hingewiesen, der “einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Anmeldern und Patentinhabern einerseits und den Wettbewerbern und sonstigen Dritten andererseits herstellen” soll (Entscheidungsgründe, Nr. 8). Ferner hielt die Große Beschwerdekammer fest, daß “Artikel 123 (2) EPÜ eindeutig der Gedanke zugrunde [liegt], daß es einem Anmelder nicht gestattet sein darf, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte” (Entscheidungsgründe, Nr. 9).
Nach eingehender Erörterung der Wirkung des Artikels 123 (2) EPÜ in Zusammenhang mit einem beschränkenden Merkmal, das den Ansprüchen vor der Erteilung hinzugefügt wird (Entscheidungsgründe, Nrn. 10 bis 14), befand die Große Beschwerdekammer in Nr. 15, daß “es jedoch noch zu prüfen [ist], ob ein beschränkendes Merkmal zwangsläufig immer als ein solcher Gegenstand anzusehen ist” (d. h. als Gegenstand, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht). In Nr. 16 heißt es dann: “Es hängt von den Umständen ab, ob die Hinzufügung eines nicht offenbarten Merkmals, das den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränkt, dem Zweck des Artikels 123 (2) EPÜ zuwiderläuft, der verhindern soll, daß ein Anmelder für etwas Patentschutz erhält, das er am Tag der Anmeldung nicht ordnungsgemäß offenbart und vielleicht noch nicht einmal erfunden hatte, und sich dadurch einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft” (Hervorhebung durch die Kammer). Im weiteren Verlauf des Absatzes Nr. 16 werden besondere Umstände geschildert, unter denen es zu bejahen bzw. zu verneinen ist, daß durch Hinzufügen eines nicht offenbarten beschränkenden Merkmals in einem Anspruch ein “Gegenstand [entsteht], der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht”.
Die Große Beschwerdekammer hat also eindeutig zu verstehen gegeben, daß – je nach den Umständen – die Hinzufügung eines nicht offenbarten Merkmals in einem Anspruch vor der Erteilung gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen kann, aber nicht muß. Folglich ist eine “Neuheitsprüfung” nicht immer geeignet, um zu ermitteln, ob eine geänderte Anmeldung “einen Gegenstand enthält, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht”. Die “Neuheitsprüfung” ist insbesondere dann nicht geeignet, wenn die vorgeschlagene Änderung darin besteht, einem Anspruch in der Anmeldung ein beschränkendes Merkmal hinzuzufügen (wie in der vorliegenden Sache).
Hier weist die Kammer nach Artikel 15 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern darauf hin, daß Absatz C-VI, 5.4 der Richtlinien (“Die Prüfung auf unzulässige Änderungen (gemäß Artikel 123 (2) EPÜ) entspricht daher – zumindest bei Hinzufügungen – der … Neuheitsprüfung”) wohl kaum mit den Feststellungen in Nr. 16 der Entscheidung G 1/93 im Einklang stehen dürfte.
Die in der Entscheidung G 1/93 behandelten Grundsätze sind eindeutig nicht nur im Zusammenhang mit Artikel 123 (2) EPÜ, sondern auch im Zusammenhang mit Artikel 76 (1) EPÜ anzuwenden.
3. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Sache
Die wesentliche Frage der vorliegenden Sache stellt sich in Zusammenhang mit Anspruch 2 des Hauptantrags (bzw. Anspruch 1 des Hilfsantrags), nämlich ob die geänderte beanspruchte Merkmalskombination gewährbar ist, insbesondere die beanspruchte Kombination eines “Halbleiter-Pull-up-Elements”, umfassend “eine erste pn-Diode (204) zwischen besagtem Drain (201) und besagtem Gate (202)”, die “eine Esaki-Diode” ist. Wie in Nr. IV erwähnt, war die Prüfungsabteilung der Ansicht, daß eine solche Merkmalskombination weder in der Stammanmeldung noch in der Teilanmeldung in der eingereichten Fassung beschrieben sei, weswegen die Änderung gegen die Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ verstoße.
Durch die im Hauptantrag enthaltene Änderung der Ansprüche der Teilanmeldung wird definitiv zum Ausdruck gebracht, daß die obige beanspruchte Merkmalskombination Gegenstand des Schutzbegehrens ist (Artikel 84 EPÜ); mit anderen Worten: dieser Gegenstand stellt eine Ausführungsform der Erfindung dar und soll geschützt werden. Somit gilt es darüber zu entscheiden, ob diese Änderung “über den Inhalt” der Stammanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) oder der Teilanmeldung (Art. 123 (2) EPÜ) – jeweils in der ursprünglich eingereichten Fassung – “hinausgeht”.
3.1 Zunächst ist zu klären, was der relevante Inhalt der Stammanmeldung ist. Dieser ist in Nr. II zusammengefaßt. So definiert Anspruch 1 “eine Halbleitervorrichtung”, die eine “pn-Diode” umfaßt, während Anspruch 2 festlegt, daß die pn-Diode “eine Esaki-Diode” ist. Der Begriff “Halbleitervorrichtung” schließt ein Halbleiter-Pull-up-Element mit ein, so daß Anspruch 2 ein Halbleiter-Pull-up-Element mit den Merkmalen des Anspruchs 1 abdeckt und dafür Schutz begehrt, wobei die pn-Diode eine Esaki-Diode ist. Dieser Gegenstand wird nach Auffassung der Kammer im Sinne des Artikels 84 EPÜ “durch die Beschreibung gestützt”, auch wenn die Verwendung einer Esaki-Diode in der Stammanmeldung nur in dem auf eine RAM-Zelle bezogenen Beispiel 2 ausdrücklich beschrieben ist; der Fachmann würde nämlich aus dem Text der Beschreibung und den dazugehörigen Zeichnungen ersehen, daß eine Esaki-Diode vorteilhaft in einem Pull-up-Element verwendet werden könnte. So zeigt Abbildung 12 der Stammanmeldung die Niederspannungseigenschaften einer Esaki-Diode per se, woran der Fachmann erkennen würde, daß auch die Verwendung einer Esaki-Diode in einem Pull-up-Element, wie in Beispiel 3 beschrieben, günstige Niederspannungseigenschaften zur Folge hätte. Obgleich die Stammanmeldung nicht ausdrücklich die Verwendung einer Esaki-Diode in einem Pull-up-Element offenbart, reicht die Beschreibung aus, um die Ansprüche 1 und 2 der Stammanmeldung zu stützen, deren Gegenstand die Verwendung einer Esaki-Diode als Pull-up-Element mit einschließt.
Der geänderte Anspruch 2 der Teilanmeldung (Hauptantrag) definiert ausdrücklich (und offenbart somit) die Verwendung einer Esaki-Diode in einem Pull-up-Element und beansprucht Schutz für diese Kombination. Wie oben dargelegt, wird jedoch bereits in Anspruch 2 der Stammanmeldung für eine solche Kombination Schutz begehrt. Nach Ansicht der Kammer würde es dem Anmelder also keinen “ungerechtfertigten Vorteil” verschaffen, der “der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte” (s. Entscheidung G 1/93), wenn er die Teilanmeldung gemäß dem Hauptantrag ändern würde; ihres Erachtens geht die Änderung “nicht über den Inhalt” der Stammanmeldung hinaus (Art. 76 (1) EPÜ). Der fachkundige Leser kann der geänderten Teilanmeldung nichts über die Erfindung entnehmen, was er nicht auch der Stammanmeldung entnehmen könnte.
3.2 Artikel 123 (2) EPÜ
Hier ist zunächst zu klären, was der relevante Inhalt der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ist. Wie in Nr. II dargelegt, enthält der Wortlauf der Teilanmeldung in der eingereichten Fassung einige Änderungen gegenüber der Stammanmeldung. So fiel in der Teilanmeldung insbesondere der (in Nr. II zitierte) Absatz auf Seite 14, Zeilen 4 bis 9 der Stammanmeldung weg. Außerdem definiert der einzige Anspruch der Teilanmeldung in der eingereichten Fassung eine Halbleitervorrichtung in Form eines Pull-up-Elements, wobei aber die pn-Diode des Pull-up-Elements nicht als Esaki-Diode definiert ist. Der Anspruch schließt in seiner Formulierung jedoch ein Pull-up-Element ein, dessen pn-Diode eine Esaki-Diode ist. Sofern der Anspruch in diesem Umfang durch die Beschreibung gestützt wird (Art. 84 EPÜ), ist billigerweise davon auszugehen, daß unter anderem für ein Pull-up-Element mit einer Esaki-Diode Schutz begehrt wird.
Aufgrund des in Nr. 3.1 über die Stammanmeldung Gesagten geht die Kammer davon aus, daß der Gegenstand des Anspruchs durch die Beschreibung ausreichend gestützt wird; der Fachmann würde dem Text der Beschreibung und den dazugehörigen Zeichnungen nämlich entnehmen, daß eine Esaki-Diode vorteilhaft in einem Pull-up-Element verwendet werden kann.
Entsprechend gilt aufgrund des in Nr. 3.1 Gesagten, daß der geänderte Anspruch 2 der Teilanmeldung nicht über den Inhalt der Teilanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Art. 123 (2) EPÜ).
4. Die Prüfungsabteilung hat in ihrer Entscheidung keine weiteren Gründe für die Zurückweisung der vorgeschlagenen Änderungen nach Artikel 123 (2) EPÜ bzw. Artikel 76 (1) EPÜ genannt. Die Kammer hat den Gegenstand der vorgeschlagenen geänderten Ansprüche 1 und 3 der Teilanmeldung (Hauptantrag) sorgfältig geprüft; ihres Erachtens verstoßen die im Hauptantrag vorgeschlagenen Änderungen weder gegen Artikel 76 (1) noch gegen Artikel 123 (2) EPÜ und sind somit zulässig. Da der Hauptantrag gewährbar ist, erübrigt sich eine Prüfung des Hilfsantrags.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Ansprüche 1 und 3 des Hauptantrags verstoßen nicht gegen die Artikel 76 (1) und 123 (2) EPÜ.
3. Die Sache wird zur weiteren Prüfung der Frage, ob die Anmeldung die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, an die erste Instanz zurückverwiesen.