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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1996:T008593.19961017
Datum der Entscheidung: 17 October 1996
Aktenzeichen: T 0085/93
Anmeldenummer: 83110532.5
IPC-Klasse: G07B 17/02
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: Vorrichtung und Verfahren zur Bestimmung besonderer Postgebühren
Name des Anmelders: PITNEY BOWES INC.
Name des Einsprechenden: Francotyp-Postalia Aktiengesellschaft & Co.
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: Ein Beleg für das allgemeine Fachwissen sollte wie alle anderen zur Erhärtung des Vorbringens eines Einsprechenden dienenden Beweismittel in einer frühen Phase des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung eingereicht werden (im Anschluß an die Entscheidung G 4/95, ABl. EPA 1996, 412) und kann von der Kammer nach deren Ermessen als unzulässig zurückgewiesen werden, wenn er erstmals im Beschwerdeverfahren eingereicht wird.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 114
Schlagwörter: Verspätet eingereichte Beweismittel – im Beschwerdeverfahren zugelassen
Erfinderische Tätigkeit – verneint
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/91
G 0010/91
G 0004/95
T 0379/88
T 0212/91
T 1002/92
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0257/94
T 0151/95
T 0200/97
T 0534/98
T 0274/99
T 0689/01
T 1007/05

Sachverhalt und Anträge

I. Gegen das europäische Patent Nr. 0 107 187 wurde aufgrund von Artikel 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt, daß es sich bei dem Gegenstand des Patents nicht um eine Erfindung im Sinne des Artikels 52 (2) c) EPÜ handle, daß er also weder neu sei noch auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

In ihrer Einspruchsschrift führte die Einsprechende zur Bekräftigung ihrer Behauptung, dem Gegenstand des Patents mangle es an Neuheit und erfinderischer Tätigkeit, folgende Beweismittel an:

E1: US-A-4 325 440

E2: “Digitale Rechenanlagen” von H. Kunsemüller, B. G. Teubner, 1971, Seiten 78 und 79.

In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nannte die Einsprechende ferner das folgende Dokument aus dem Stand der Technik:

D1: Meyer’s Lexikon, Bibliographisches Institut AG, 1971, Seite 17, Eintrag “Abakus”.

Die Einspruchsabteilung ließ das Dokument D1 in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt und wies den Einspruch entsprechend Artikel 102 (2) EPÜ zurück.

II. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung lautet wie folgt:

“Vorrichtung zur Bestimmung des Portos für zu versendende Poststücke mit

a) einer Einrichtung zur Bestimmung des Gewichts der Poststücke;

b) einer Einrichtung zur Eingabe von Daten, die zur Bestimmung des für das Poststück geltenden Portowerts notwendig sind, wobei diese Daten auch die Daten zur Bestimmung etwaiger für diese Poststücke geltende spezielle Gebühren einschließen, und

c) einer Prozessoreinrichtung, die mit den Einrichtungen zur Gewichtsbestimmung und Dateneingabe zusammenwirkt, um den für jedes Poststück geltenden Portowert zu ermitteln, wobei diese Prozessoreinrichtung ferner eine Speichereinrichtung umfaßt zum Speichern erster Datentabellen mit den Grundportotarifen und zweiter Datentabellen mit speziellen Gebühren, die auch spezielle wertabhängige Gebühren einschließen, die sich nach einem eingegebenen Betrag richten, und der Prozessor so eingerichtet ist, daß er anhand der ermittelten Gewichte und entsprechenden eingegebenen Daten für jedes Poststück einen Grundportowert sowie anhand der ermittelten Gewichte und eingegebenen Daten gegebenenfalls für jedes Poststück eine spezielle Gebühr auswählt, die Grundportowerte und die gegebenenfalls ausgewählten speziellen Gebühren zusammenführt und die so zusammengeführten Werte anzeigt, dadurch gekennzeichnet, daß

d) die zweiten Tabellen jeweils zwei Bereiche enthalten, einen unteren mit den speziellen Gebührentarifen für die eingegebenen Beträge bis einschließlich eines vorgegebenen, durch eine bestimmte Stellenzahl ausgedrückten Werts, und einen oberen mit den speziellen Gebührentarifen für die eingegebenen Beträge, die über dem vorgegebenen Wert liegen und mehr Stellen als dieser umfassen, und

e) daß bei der Bestimmung der speziellen Gebührentarife der Prozessor so eingerichtet ist, daß er anhand eines eingegebenen Betrags, der bis zu dem vorgegebenen Wert einschließlich reicht, aus dem unteren Bereich und anhand eines eingegebenen Betrags, der über dem vorgegebenen Wert liegt, aus dem oberen Bereich den entsprechenden Gebührentarif für jedes Poststück auswählt, nachdem er den eingegebenen Betrag so aufgerundet hat, daß die die vorgegebene Stellenzahl übersteigenden Stellen null sind”

Der unabhängige Verfahrensanspruch 6 entspricht in seinen Merkmalen im wesentlichen dem oben wiedergegebenen Anspruch 1.

III. In der obengenannten Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, daß der Gegenstand des Patents im Hinblick auf Artikel 52 (2) EPÜ nicht zu beanstanden sei, da er eine in der Beseitigung bekannter technischer Zwänge liegende technische Wirkung aufweise. Außerdem wurden der beanspruchten Erfindung Neuheit und erfinderische Tätigkeit zuerkannt, da der Entgegenhaltung E2 nicht zu entnehmen sei, daß eine zweite Tabelle verwendet werde, die durch eine aufgerundete, gekürzte Fassung der eingegebenen Beträge aufgerufen werde.

IV. Die Einsprechende legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und beantragte, daß das Patent in vollem Umfang widerrufen werde, da der beanspruchte Gegenstand im Hinblick auf die im Verfahren vor der Einspruchsabteilung angeführten sowie die in der Beschwerdebegründung genannten Dokumente (s. unten) keine erfinderische Tätigkeit aufweise:

E3: Enzyklopädie Naturwissenschaft und Technik, Verlag Moderne Industrie Wolfgang Dummer & Co., 1979, Seiten 17 und 18, Eintrag “Abakus”

E4: Enzyklopädie Naturwissenschaft und Technik, Verlag Moderne Industrie Wolfgang Dummer & Co., 1980, Seite 4009, Eintrag “Skalierungsfaktor”

E5: Einführung in die Datenverarbeitung von Sebastian Dworatschek, Walter de Gruyter & Co., 1971, Seiten 97 bis 103

V. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag).

In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer schlug sie als Grundlage für einen Hilfsantrag folgende Änderungen am Anspruch 1 in der erteilten Fassung vor:

Die Passage am Anspruchsende “den eingegebenen Betrag so aufgerundet hat, daß die die vorgegebene Stellenzahl übersteigenden Stellen null sind” sollte folgenden Wortlaut erhalten: “den eingegebenen Betrag auf ein Vielfaches von hundert aufgerundet und die letzten zwei Nullstellen weggelassen hat”.

Entsprechende Änderungen sollten auch am unabhängigen Verfahrensanspruch 6 vorgenommen werden.

VI. Die von der Einsprechenden zur Stützung ihrer Anträge vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Verspätet eingereichte Dokumente

Trotz aller Bemühungen sei es nicht möglich gewesen, die Entgegenhaltungen E3, E4 und E5 noch während der Einspruchsfrist aufzutreiben. Diese Entgegenhaltungen gäben ohnehin lediglich das allgemeine Fachwissen wieder, auf das bereits im Einspruchsverfahren Bezug genommen worden sei, so daß dadurch in der Beschwerdephase keine neuen Argumente in das Verfahren eingeführt würden. Die Entscheidung T 379/88 erhärte die Behauptung der Einsprechenden, daß ein den allgemeinen Wissensstand wiedergebendes Dokument nicht schon deshalb unberücksichtigt bleiben dürfe, weil es nicht während der Einspruchsfrist angegeben worden sei. Es liege nämlich im Interesse aller Beteiligten, daß man keine Patente aufrechterhalte, ohne im Einspruchs- oder im Einspruchsbeschwerdeverfahren angeführte wichtige Dokumente des Stands der Technik berücksichtigt zu haben. Insbesondere die Entgegenhaltung E5 sei für die Frage der erfinderischen Tätigkeit höchst relevant und dürfe deshalb nicht außer Betracht bleiben.

b) Erfinderische Tätigkeit

In der Entgegenhaltung E1 werde eine dem Oberbegriff des Anspruchs 1 entsprechende Vorrichtung offenbart. Bei dieser Vorrichtung sei für die Eingabe von Beträgen, denen spezielle Gebühren (z. B. Versicherungsprämien) zuzuordnen seien, nur eine vorgegebene Anzahl von Stellen vorhanden. Das Problem, das sich dadurch ergebe, daß nur eine bestimmte Anzahl von Stellen zur Verfügung stehe, stelle sich nicht nur bei der Portobestimmung, sondern auch auf dem Gebiet der Datenverarbeitung ganz allgemein.

Die Entgegenhaltung E3 zeige, daß beim altbekannten Abakus die verschiedenen Reihen verschiedenen Zahlenbereichen entsprächen, also 1 – 9, 10 – 90 usw. Wenn eine darzustellende Zahl die in einer Reihe verfügbaren Positionen übersteige, müsse man zur nächsten Reihe übergehen, in der jedes Element das Zehnfache der Elemente in der ersten Reihe symbolisiere. Die Reihen beim Abakus entsprächen somit ihrer Funktion nach dem in Anspruch 1 des Patents erwähnten oberen und unteren Bereich. Es sei daher für den Fachmann naheliegend, die bekannte Funktionsweise des Abakus auf einen Rechner in einer Vorrichtung zur Portobestimmung zu übertragen.

In Zusammenhang mit der Datenverarbeitung lehre die Entgegenhaltung E4 außerdem, daß Skalierungsfaktoren verwendet werden müßten, wenn die Stellenzahl eine gewisse Höchstgrenze überschreite. Die beanspruchte Erfindung sei deshalb auch gegenüber der Lehre der Entgegenhaltung E4 nicht erfinderisch.

Die Entgegenhaltung E5, bei der es sich um ein allgemeines Nachschlagewerk zur Datenverarbeitung handle, offenbare auf Seite 98, dritter Absatz, daß bei der Darstellung einer Zahl, deren Stellenzahl über die verfügbare Anzahl von Stellen hinausgehe, die niedrigsten Stellen abgeschnitten werden. Die so modifizierte Zahl (deren niedrigste Stellen weggelassen seien) müsse natürlich von den anderen Zahlen zu unterscheiden sein. Dies könne entweder durch einen Skalierungsfaktor oder mit Hilfe einer besonderen Tabelle geschehen. Da bei der Portobestimmung die speziellen Gebühren nicht linear zu einem eingegebenen Betrag anstiegen, könne natürlich kein einfacher Skalierungsfaktor verwendet werden. Der Fachmann wäre deshalb gezwungen, auf eine besondere Tabelle zurückzugreifen, in der diese höheren Beträge und die entsprechenden speziellen Gebühren aufgelistet seien.

Daß der eingegebene Betrag anspruchsgemäß aufgerundet werde, sei nur eine von zwei naheliegende Alternativen, nämlich Auf- und Abrunden, die der Fachmann wählen würde, ohne erfinderisch tätig werden zu müssen.

Er würde daher anhand des allgemeinen Fachwissens aus der Datenverarbeitung, wie es in der Entgegenhaltung E5 dargestellt sei, zu dem beanspruchten Gegenstand gelangen.

Außerdem sei in der Entgegenhaltung E1 offenbart (s. Spalte 15, Zeile 67 bis Spalte 16, Zeile 7 und Abbildungen 13 und 15), daß ein spezieller Bit-Code benutzt werde, um anzuzeigen, ob ein Betrag in Dollar oder in Cent ausgedrückt sei; dies setze die Verwendung von zwei verschiedenen Tabellen voraus, deren jeweilige Werte sich durch den Faktor hundert voneinander unterschieden.

Ob bei höheren Beträgen 1, 2 oder 3 Stellen weggelassen würden, sei eine willkürliche Entscheidung, die der Fachmann entsprechend den Umständen träfe. Das zusätzliche Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags – nämlich, daß die beiden letzten Stellen weggelassen würden – trage nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit bei.

VII. Das Vorbringen der Patentinhaberin läßt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Verspätet eingereichte Dokumente

Die Entgegenhaltungen E3, E4 und E5 seien erstmals in der Beschwerdebegründung genannt worden, ohne daß Gründe für diese verspätete Einreichung angegeben worden seien. Entsprechend der Entscheidung T 212/91 sollten neue Tatsachen und insbesondere neue Beweismittel, die über die in der Einspruchsschrift angegebenen “Tatsachen und Beweismittel” hinausgingen, nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen zum Verfahren zugelassen werden, und dies auch nur, wenn sie auf den ersten Blick hochrelevant seien. Im vorliegenden Fall sei keines der verspätet eingereichten Dokumente besonders relevant, so daß sie für unzulässig erachtet werden sollten.

b) Erfinderische Tätigkeit

Die Entgegenhaltung E1 offenbare eine Vorrichtung zur Portoberechnung entsprechend dem Oberbegriff des Anspruch 1, enthalte jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß eine andere Referenztabelle (oder ein Referenzbereich) verwendet werde, wenn ein über einen vorgegebenen Wert hinausgehender Betrag eingegeben werde. Bei der erfindungsgemäßen Vorrichtung könne der Bereich der eingegebenen Beträge durch einfache Verdoppelung des erforderlichen Speicherraums auf das Hundertfache erweitert werden.

In der Entgegenhaltung E3 seien alte manuelle Rechengeräte beschrieben. Der Fachmann auf dem Gebiet der elektronischen Frankiermaschinen würde deshalb dort nicht nach Lösungen auf seinem Fachgebiet suchen.

In der Entgegenhaltung E4 werde der Begriff “Skalierungsfaktor” erläutert, der bei Analog- und Digitalrechnern verwendet werde, wenn die Ein- und Ausgabedaten zu lang seien, um von der Rechenmaschine angezeigt zu werden. Referenztabellen seien dort nicht erwähnt, so daß dieses Dokument für den Fachmann keine Hilfe wäre, der sich vor das Problem gestellt sehe, daß die Tabelle im Umfang beschränkt sei.

Die Entgegenhaltung E5 lehre, daß bei einem System mit einer festen Wortlänge Zahlen mit mehr Ziffern so abgeschnitten werden müßten, daß die niedrigsten Stellen wegfielen. Würde man die Lehre der Entgegenhaltung E5 auf eine Frankiermaschine nach der Entgegenhaltung E1 anwenden, so gelangte man zu einer einzigen Referenztabelle, die nur für jede zehnte oder hundertste Eingabezahl Einträge aufwiese. Dies entspreche nicht der vorliegenden Erfindung, bei der zwei getrennte Referenztabellen (-bereiche) benutzt würden. Die vorliegende Erfindung beinhalte daher sehr viel mehr als nur das Weglassen von Stellen und die Verwendung eines Skalierungfaktors.

Außerdem würden in der Entgegenhaltung E5 die eingegebenen Werte abgerundet. Bei der vorliegenden Erfindung hingegen würden die niedrigsten Stellen weggelassen und die eingegebenen Beträge aufgerundet. Außerdem sei es nicht richtig, daß es nur zwei Alternativen gebe, nämlich Auf- und Abrunden, wenn ein einzugebender Betrag einen festgelegten Wert übersteige. Beispielsweise könnte die Entscheidung zur Aufrundung (oder Abrundung) eines Betrags davon abhängen, in welchem Fall der so eingegebene Betrag dem ursprünglichen Betrag am nächsten komme. Aufrunden sei zudem schwieriger als Abrunden, da in diesem Fall der den weggelassenen Stellen nächstliegenden Stelle eine eins hinzugefügt werden müsse.

Bei der von der Einsprechenden aus der Entgegenhaltung E1 zitierten Passage (s. Spalte 15, Zeile 67 bis Spalte 16, Zeile 7) hänge die Verwendung eines Skalierungsfaktors davon ab, ob es sich um Cents oder um Dollar handle. Diese Textpassage habe deshalb mit Referenztabellen nichts zu tun.

Keines der angeführten Dokumente würde deshalb den Fachmann zu der beanspruchten Lösung führen.

Entsprechend dem Hilfsantrag würden die eingegebenen Beträge auf ein Vielfaches von hundert aufgerundet und die letzten zwei Stellen auch dann weggelassen, wenn der eingegebene Betrag die vorgegebene Stellenzahl nur um eine Stelle überschreite. Dieses Merkmal stelle einen besonderen Vorteil der Erfindung dar, das sich im entgegengehaltenen Stand der Technik nirgendwo finde.

VIII. In einer Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Beteiligten mit, daß sie die verspätet eingereichten Dokumente nach einer ersten Prüfung für hinreichend relevant halte, so daß sie vorbehaltlich des Vorbringens der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zum Verfahren zugelassen werden könnten.

IX. Die mündliche Verhandlung fand am 17. Oktober 1996 statt. Am Ende der Verhandlung wurde der Widerruf des Patents verkündet.

Entscheidungsgründe

1. Zulässigkeit der verspätet eingereichten Beweismittel

1.1 Im Zusammenhang mit den Entgegenhaltungen E3, E4 und E5, die erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, behauptete die Einsprechende (Beschwerdeführerin) unter Berufung auf die Entscheidung T 379/88 vom 15. Januar 1991, daß ein verspätet eingereichtes Dokument, aus dem das allgemeine Fachwissen auf dem betreffenden technischen Gebiet hervorgehe, nicht aufgrund des Artikels 114 (2) EPÜ als verspätet eingereicht unberücksichtigt bleiben dürfe, weil es lediglich allgemein bekannte Sachverhalte bestätige.

Nach Auffassung der Kammer verstößt jedoch die obige Behauptung, die den Beschwerdekammern kein Ermessen lasse, verspätet eingereichte Dokumente zum allgemeinen Fachwissen nicht zu berücksichtigen, gegen den in den Entscheidungen G 9/91 und G 10/91, ABl. EPA 1993, 408 und 420, aufgestellten und in den Entscheidungen T 1002/92 (ABl. EPA 1995, 605, Nr. 3.4) und T 212/91 (s. oben) weiter ausgeführten Rechtsgrundsatz, wonach es Hauptzweck des Beschwerdeverfahrens sei, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten, was voraussetze, daß sich der rechtliche und faktische Rahmen des Verfahrens nach Erlaß der erstinstanzlichen Entscheidung nicht ändere.

Gemäß den oben genannten Grundsätzen wurde in der Entscheidung T 1002/92 (siehe Nr. 3.4, Absatz 8) die Auffassung vertreten, daß im Verfahren vor den Beschwerdekammern neue Tatsachen, Beweismittel und diesbezügliche Argumente, die über die in der Einspruchsschrift zur Stützung der Einspruchsgründe angegebenen “Tatsachen und Beweismittel” hinausgingen, in pflichtgemäßer Ausübung des Ermessens der Kammer nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen und nur dann zum Verfahren zugelassen würden, wenn die neuen Unterlagen prima facie insofern hochrelevant seien, als sie höchstwahrscheinlich der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents entgegenstünden. Dabei sollten auch andere für den jeweiligen Fall relevante Faktoren berücksichtigt werden, so insbesondere, ob – und mit welcher Begründung – der Patentinhaber den neuen Unterlagen die Zulässigkeit abspreche und inwieweit eine Zulassung zu verfahrensrechtlichen Komplikationen führen würde.

In der Entscheidung G 4/95 (ABl. EPA 1996, 412, Nr. 4) wird ferner folgendes festgestellt: “Nach der in der Mitteilung ‘Einspruchsverfahren im EPA’ (ABl. EPA 1989, 417) erläuterten Praxis der Einspruchsabteilungen sollten Tatsachen und Beweismittel in einer frühen Phase des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung vorgebracht werden – siehe insbesondere die Nummern 8 bis 13. Ein Einsprechender sollte Beweismaterial zur Begründung seines Einspruchs in der Regel innerhalb der neunmonatigen Einspruchsfrist oder innerhalb einer kurzen Nachfrist (zwei Monate) einreichen; der Patentinhaber muß seine Gegenbeweise innerhalb eines bestimmten Zeitraums danach vorlegen.

Grundlage für die Prüfung einer Beschwerde und die anschließend ergehende Entscheidung sind in der Regel die im Verfahren vor der Einspruchsabteilung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel.

Während die Einreichung von Tatsachen und Beweismitteln durch die am Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren Beteiligten in keiner Phase dieser Verfahren ausgeschlossen ist, liegt die Zulassung von Tatsachen und Beweismitteln, die in einer fortgeschrittenen Verfahrensphase vorgebracht werden, stets im Ermessen des EPA (siehe Art. 114 (2) EPÜ).”

Infolgedessen trägt im Einspruchsverfahren der Einsprechende die Beweislast und muß alle zur Stützung seines Einspruchs dienenden Beweismittel möglichst frühzeitig im Verfahren vor der Einspruchsabteilung einreichen. In jedem Fall sollten alle diese Beweismittel noch während des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung eingereicht werden. Alle im anschließenden Beschwerdeverfahren eingereichten Beweismittel können unter Umständen unberücksichtigt bleiben.

Im vorliegenden Fall werden die verspätet eingereichten Unterlagen als Beweis für das allgemeine Fachwissen auf dem betreffenden technischen Gebiet ins Feld geführt, um die von der Beschwerdeführerin in der Einspruchsschrift aufgestellte Behauptung zu erhärten, daß das Merkmal, durch das sich die im angefochtenen Patent beanspruchte Erfindung vom nächstliegenden Stand der Technik (Entgegenhaltung E1) unterscheide, zum allgemeinen Wissensstand des Fachmanns gehöre. Die neuen Entgegenhaltungen ändern zwar am Ansatz der Argumentation nichts, aber sie führen neue Tatsachen ein, durch die sich der faktische Rahmen gegenüber dem Verfahren vor der Einspruchsabteilung ändert. Entgegen der Behauptung der Einsprechenden ist die Kammer deshalb sehr wohl berechtigt, von dem ihr nach Artikel 114 (2) EPÜ eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen und diese Unterlagen unberücksichtigt zu lassen, obwohl sie den allgemeinen Wissensstand auf dem betreffenden technischen Gebiet aufzeigen.

1.2 Die Kammer muß sich also mit der Frage befassen, ob die Umstände im vorliegenden Fall die Zulassung der verspätet eingereichten Unterlagen zum Beschwerdeverfahren gemäß Artikel 114 (2) EPÜ rechtfertigen.

Aus der anschließenden Bewertung der verspätet eingereichten Entgegenhaltung E5 ergibt sich, daß das Dokument insofern hochrelevant ist, als es die Aufrechterhaltung des Patents in Frage stellt. Auch akzeptiert die Kammer die Behauptung der Einsprechenden, daß diese Unterlagen nicht früher auffindbar waren. Somit lag nach Ansicht der Kammer ihrer verspäteten Einreichung keine Absicht zugrunde, so daß kein Verfahrensmißbrauch vorliegt (s. T 534/89, ABl. EPA 1994, 464). Da außerdem die Entgegenhaltungen E3 bis E5 in der Beschwerdebegründung von Anfang an angegeben worden waren und die von der Einspechenden angezogene Offenbarung der Entgegenhaltung E5 relativ kurz und leicht faßlich ist, wäre ihre Zulassung zum Beschwerdeverfahren nach Ansicht der Kammer der Patentinhaberin gegenüber nicht unfair und zöge auch keine verfahrensrechtlichen Komplikationen nach sich.

Eingedenk dessen hat die Kammer beschlossen, das Dokument E5 in das Verfahren einzuführen. Die übrigen verspätet eingereichten Unterlagen sind nicht relevant und werden deshalb nicht zugelassen.

1.3 Die Patentinhaberin hat keinen Antrag auf Kostenverteilung als Entschädigung für die verspätete Einreichung gestellt. Außerdem hält die Kammer den für die Prüfung der Entgegenhaltung E5 nötigen zusätzlichen Zeitaufwand im Rahmen des gesamten Beschwerdeverfahrens für minimal.

2. Erfinderische Tätigkeit

Anspruch 1 (Hauptantrag)

2.1 Nächstliegender Stand der Technik ist die Entgegenhaltung E1, die eine Vorrichtung zur Bestimmung der Portogebühren der im Oberbegriff des streitigen Anspruchs 1 beschriebenen Art offenbart.

Die erfindungsgemäße Vorrichtung unterscheidet sich somit vom nächstliegenden Stand der Technik durch die Merkmale d und e im kennzeichnenden Teil des Anspruchs.

Im Hinblick auf diese Unterscheidungsmerkmale besteht die erfindungsgemäße Aufgabenstellung – wie dem angefochtenen Patent, Seite 2, Zeilen 28 bis 31 zu entnehmen ist – objektiv gesehen darin, durch nur minimale Änderungen am System eine Vorrichtung bereitzustellen, die in der Lage ist, spezielle Gebühren für Beträge zu bestimmen, die höher sind als der Höchstbetrag, der mit der in der bekannten Vorrichtung nach der Entgegenhaltung E1 verfügbaren Anzahl von Stellen ausgedrückt werden kann.

2.2 Wie im Streitpatent (s. Seite 2, Zeilen 20 bis 22) festgestellt wird, kommt es bei Frankiermaschinen vor, daß Poststücke in Höhe eines Betrags von mehr als z. B. 1 000 000 USD versichert werden müssen, so daß nach Ansicht der Kammer davon ausgegangen werden muß, daß dem Fachmann die Grenzen der bekannten Vorrichtung bei der Verarbeitung derart hoher Beträge bewußt waren. Der Fachmann hätte deshalb daran gedacht, die bekannte Vorrichtung entsprechend zu verbessern, und aus wirtschaftlichen Gründen sowie eingedenk der Zuverlässigkeit der bekannten Vorrichtung nur die unbedingt notwendigen Veränderungen vorgenommen. Somit hält die Kammer den beanspruchten Gegenstand in Anbetracht der objektiv festgestellten Aufgabenstellung nicht für erfinderisch.

2.3 Moderne Frankiermaschinen wie die in der Entgegenhaltung E1 offenbarte Vorrichtung schließen Mittel zur elektronischen Verarbeitung der eingegebenen Beträge ein, so daß der Durchschnittsfachmann auf dem Gebiet der Frankiermaschinen auch auf dem Gebiet der Datenverarbeitung bewandert sein muß; es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß ihm das einschlägige allgemeine Fachwissen bekannt ist.

Wie unter Nummer 2.1 erwähnt, ist die Entgegenhaltung E5 ein Standardwerk zur Einführung in die Datenverarbeitung und stellt daher den einschlägigen allgemeinen Wissensstand dar. In Abschnitt “2.2.1 Begrenzte Stellenzahl” (siehe auch S. 98, Abs. 3) wird ausgeführt, daß eine in eine Vorrichtung einzugebende Zahl, deren Stellenzahl die für die Vorrichtung festgelegte übersteigt, dennoch eingegeben werden kann, wenn man die überzähligen Stellen abschneidet, also die niedrigsten Stellen wegläßt.

2.4 Die Patentinhaberin behauptete, daß man durch bloße Einbeziehung der Lehre der Entgegenhaltung E5, d. h. Weglassen der niedrigsten überzähligen Stellen, in die Vorrichtung nach der Entgegenhaltung E1 nicht zu der erfindungsgemäßen Vorrichtung gelangen würde, da keine dieser beiden Entgegenhaltungen die folgenden Erfindungsmerkmale offenbare:

i) Aufrunden des eingegebenen Betrags, wenn dieser einen vorgegebenen Wert (d. h. eine vorgegebene Stellenzahl) übersteigt,

ii) Bereitstellung eines oberen Bereichs der zweiten Tabelle, in dem spezielle Gebührentarife für diejenigen eingegebenen Beträge aufgelistet sind, die oberhalb eines vorgegebenen Werts liegen und eine höhere als die vorgegebene Zahl von Stellen aufweisen, und

iii) Auswahl einer dem eingegebenen Betrag zugeordneten speziellen Gebühr aus dem oberen oder dem unteren Tabellenbereich, je nachdem, ob der eingegebene Betrag den vorgegebenen Wert übersteigt oder nicht, wobei

iv) die Auswahl einer speziellen Gebühr aus dem oberen Bereich erst erfolgt, nachdem der eingegebene Betrag in der unter Ziffer i angegebenen Weise aufgerundet worden ist.

2.5 Die Kammer stimmt der Patentinhaberin zwar darin zu, daß die oben genannten Merkmale weder in der Entgegenhaltung E1 noch in der Entgegenhaltung E5 offenbart werden, vertritt jedoch die Auffassung, daß diese Merkmale für einen Fachmann aus den folgenden Gründen naheliegend wären:

Bei der Vorrichtung nach der Entgegenhaltung E1 wird eine zweite Tabelle mit nur einem Bereich (der dem unteren Bereich der zweiten Tabelle nach der erfindungsgemäßen Vorrichtung entspricht) bereitgestellt, und den Beträgen bis zu einem vorgegebenen Wert einschließlich sind spezielle Gebühren zugeordnet. Bei der Vorrichtung nach der Entgegenhaltung E1 gibt es mit anderen Worten keine feste funktionelle Beziehung zwischen dem Gebührenwert und dem Betrag, so daß diese Vorrichtung die Möglichkeit bietet, einem eingegebenen Betrag, beispielsweise einem Versicherungswert für das zu versendende Poststück, einen beliebigen Gebührenwert zuzuordnen. Außerdem wählt der Prozessor nach der Entgegenhaltung E1 aus der Tabelle einen dem eingegebenen Betrag entsprechenden Gebührenwert aus.

Für den Fachmann, der sich vor das obengenannte objektive Problem gestellt sähe, läge es auf der Hand, daß hohe Beträge, die den vorgegebenen Wert übersteigen, in der zweiten Tabelle von den bis zu diesem vorgegebenen Wert einschließlich reichenden Beträgen getrennt werden müssen, die höheren Beträge also nicht einfach abgeschnitten werden können wie in der Entgegenhaltung E5. Er würde außerdem erkennen, daß er in der zweiten Tabelle neben dem Bereich für die bis zu einem vorgegebenen Wert reichenden Beträge einen weiteren Bereich für höhere Beträge bereitstellen muß, wenn er sich die in der zweiten Tabelle der Vorrichtung nach E1 gegebene Möglichkeit erhalten will, einem Betrag einen beliebigen Gebührenwert zuzuordnen.

Außerdem verlangen die Datenverarbeitungstechnik und die Verfahren zur Berechnung von Portogebühren routinemäßig logische Entscheidungen. So wird beispielsweise bei der Vorrichtung nach der Entgegenhaltung E1 ein dem speziellen Gebührentarif entsprechender Portowert errechnet, wenn die vorliegende Information darauf hindeutet, daß dieser spezielle Tarif zu verwenden ist (s. z. B. Spalte 3, Zeilen 23 bis 30). Nach Ansicht der Kammer lag es daher für den Fachmann auf der Hand, den Prozessor nach der Entgegenhaltung E1 so einzustellen, daß je nachdem, ob der eingegebene Betrag einen vorgegebenen Wert übersteigt oder nicht, ein Gebührenwert aus dem oberen oder aus dem unteren Bereich der zweiten Tabelle ausgewählt wird.

Was das Merkmal i anbelangt, so stimmt die Kammer mit der Patentinhaberin darin überein, daß bei der Entgegenhaltung E5 die niedrigsten Stellen, die eine bestimmte Zahl verfügbarer Stellen übersteigen, einfach abgeschnitten werden, die eingegebene Zahl also abgerundet wird. Bei Frankiermaschinen der in der Entgegenhaltung E1 beschriebenen Art würde bei der Bestimmung der speziellen Tarife z. B. zur Versicherung der zu versendenden Poststücke das Abrunden einer Zahl dazu führen, daß das Poststück unterversichert wäre. Da dies natürlich nicht erwünscht ist, wäre es nach Ansicht der Kammer für den Fachmann naheliegend gewesen, sich für eine Aufrundung des gekürzten Betrags zu entscheiden, obwohl dies einen weiteren Schritt erforderlich macht, nämlich die Erhöhung der verbleibenden letzten Stelle um eins.

Aus diesen Gründen wäre der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Auffassung der Kammer für den Fachmann naheliegend; er beruht daher nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

2.6 Anspruch 1 – Hilfsantrag

Nach Anspruch 1 des Hilfsantrags wird der eingegebene Betrag auf ein Vielfaches von hundert aufgerundet und die letzten zwei Nullstellen werden weggelassen, wenn der eingegebene Betrag die vorgegebene Stellenzahl um eine oder mehrere Stellen überschreitet.

Bei Frankiermaschinen hängt die Entscheidung, um wie viele Stellen ein vielstelliger Wert gekürzt wird, nach Erachten der Kammer von den gegebenen Umständen ab, wie nachstehend dargelegt wird.

Wenn – wie in der Patentbeschreibung ausgeführt wird (s. Seite 2, Zeilen 20 bis 24) – für höhere Beträge, die die mit der bekannten Vorrichtung darstellbare Stellenzahl um zwei oder mehr Stellen überschreiten, spezielle Tarife ermittelt werden müssen, dann wäre es für den Fachmann naheliegend, die letzten zwei Stellen fallenzulassen. Je nach Größe des zur Speicherung dieser höheren Beträge und der entsprechenden Gebührentarife zur Verfügung stehenden Speichers würde er den Betrag selbst dann auf ein Vielfaches von hundert aufrunden, wenn er nur eine Stelle mehr aufwiese. Dabei wäre es für den Fachmann naheliegend, den Betrag auf ein Vielfaches von zehn aufzurunden und eine Null am Ende wegzulassen, wenn der Betrag nur eine überzählige Stelle aufweist, weil im Vergleich zu dem bei Weglassen der letzten zwei Nullstellen notwendigen Speicherraum hierbei nur ein Zehnfaches des Speicherraums der zweiten Tabelle erforderlich ist.

Aus diesen Gründen ist nach Auffassung der Kammer dem Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags eine erfinderische Tätigkeit abzusprechen.

3. Da weder der Haupt- noch der Hilfsantrag die Anforderungen an die erfinderische Tätigkeit (Art. 52 (1) und 56 EPÜ) erfüllt, wird das Patent widerrufen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.

2. Das europäische Patent wird widerrufen.