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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2004:T111003.20041004
Datum der Entscheidung: 04 October 2004
Aktenzeichen: T 1110/03
Anmeldenummer: 92908256.8
IPC-Klasse: H02P 9/00
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: GENERAL ELECTRIC COMPANY
Name des Einsprechenden: I. Vestas Wind Systems A/S
II. NEC MICON A/S
III. Flygtekniska Försöksanstalten
IV. ENERCON GmbH
V. Lagerwey Windturbine BV
VI. ALSTOM UK Ltd
VII. SEG Schaltanlagen-Elektronik-Geräte GmbH & Co. KG
VIII. WEIER Elektromotorenwerke GmbH & Co. KG
IX. Südwind Energiesysteme GmbH
X. Pro + Pro Energiesysteme GmbH & Co. KG
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: I. Bei der Würdigung von Beweismitteln zu Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit ist zu unterscheiden zwischen einer Druckschrift, die als Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ vorgelegt wird – in dem Sinne, daß sie selbst dem zugeordnet wird, was der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Streitpatents zugänglich gemacht wurde -, und einer Druckschrift, die selbst nicht zum Stand der Technik gehört, aber als Beweismittel für den Stand der Technik oder zur Stützung einer anderen Tatsachenbehauptung in bezug auf Neuheit oder erfinderische Tätigkeit vorgelegt wird.
II. Im ersten Fall ist die Druckschrift ein direktes Beweismittel aus dem Stand der Technik und kann in ihrer Eigenschaft als Teil des Stands der Technik in der Regel nur bezüglich ihrer Echtheit in Frage gestellt werden. Im zweiten Fall ist die Druckschrift ebenfalls ein Beweismittel, aber nur auf indirekte Weise, weil sie die Grundlage für eine Schlußfolgerung – z. B. zum Stand der Technik, zum allgemeinen Fachwissen, zur Frage der Auslegung oder zum Vorliegen eines technischen Vorurteils – bildet, die bezüglich ihrer Plausibilität in Frage gestellt werden kann.
III. Nur eine Druckschrift der ersten Kategorie kann allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, daß sie eine Nachveröffentlichung ist; bei Druckschriften der zweiten Kategorie ist der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung – auch wenn es um Neuheit oder erfinderische Tätigkeit geht – dafür nicht das entscheidende Kriterium.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 117(1)
Schlagwörter: Als Beweismittel für ein technisches Vorurteil vorgelegte und von der Einspruchsabteilung nicht berücksichtigte Nachveröffentlichungen – wesentlicher Verfahrensmangel – Zurückverweisung
Computergenerierte Diavorführung in der mündlichen Verhandlung – Gefahr einer unfairen Behandlung
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
T 1122/01
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0023/02
T 0021/04
T 0555/06
T 0601/06
T 1556/06
T 1625/06
T 0277/07
T 0608/07
T 1098/07
T 0545/08
T 0777/08
T 0379/10
T 2436/10
T 0419/12
T 2294/12
T 1271/15

Sachverhalt und Anträge

I. Die vorliegende Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen den Widerruf des europäischen Patents Nr. 569 556 durch die Einspruchsabteilung. Der Widerruf wurde damit begründet, daß der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung nicht neu sei, Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags eine unzulässige Änderung enthalte und die Ansprüche 1 der verbleibenden vier Hilfsanträge nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhten.

II. Die Begründung der angefochtenen Entscheidung stützt sich auf folgende Vorveröffentlichungen:

P5: A variable speed wind generating system and its test results. Matsuzaka et al. European Wind Energy Conference and Exhibition, 10. – 13. Juli 1989 (gemäß der angefochtenen Entscheidung neuheitsschädlich für Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung)

P20: Doppeltgespeister Drehstromgenerator mit Spannungszwischenkreisumrichter im Rotorkreis für Windkraftanlagen, D. Arsudis, Dissertation Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig, 1989 (gemäß der angefochtenen Entscheidung nicht neuheitsschädlich für Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags)

P13: Power Electronics: Converters, Applications, and Design. N. Mohan. J. Wiley & Sons, Inc. 1989 (auszugsweise präsentiert als computergenerierte Diavorführung in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, wie im Protokoll der Verhandlung dokumentiert, und gemäß der angefochtenen Entscheidung zur Begründung mangelnder erfinderischer Tätigkeit der Ansprüche 1 des zweiten, dritten, vierten und fünften Hilfsantrags herangezogen) III. Die Patentinhaberin hatte zusammen mit ihrer Einspruchserwiderung vom 28. September 2000 15 Druckschriften (in der angefochtenen Entscheidung P43 bis P57) als Beweismittel dafür eingereicht, daß das allgemeine Fachwissen “bis zum und auch nach dem Prioritätstag des Patents” von der dem Patent zugrundeliegenden Erfindung wegführe. Die Mehrzahl dieser Druckschriften war nach dem Prioritätstag des Streitpatents veröffentlicht worden. Wie auf Seite 11 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt wird, hatte die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Meinung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung (Mitteilung vom 12. März 2003) erklärt, daß “dadurch, daß die Priorität gültig in Anspruch genommen wird, die nach dem Prioritätstag eingereichten (sic) Druckschriften bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit unberücksichtigt bleiben.”

IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) brachte unter anderem folgendes vor:

Das Vorgehen der Einspruchsabteilung, die Druckschriften P43 bis P50, P52, P54 und P55 – die fristgerecht vorgelegt worden seien und deren Relevanz rechtzeitig nachgewiesen worden sei – nur deshalb nicht zu berücksichtigen, weil sie nach dem Prioritätstag des angefochtenen Patents veröffentlicht worden seien, verstoße gegen die grundlegenden Rechte der Patentinhaberin auf freie Wahl der Beweismittel und auf rechtliches Gehör gemäß den Artikeln 117 (1) und 113 (1) EPÜ.

Darüber hinaus habe die Einspruchsabteilung gegen das Recht der Patentinhaberin auf eine faire Durchführung der mündlichen Verhandlung verstoßen, als sie der Einsprechenden VI am zweiten Verhandlungstag eine einstündige computergenerierte Diavorführung mit zahlreichen höchst komplexen Folien erlaubt habe. Der Patentinhaberin sei es nicht zuzumuten gewesen, im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf eine solch umfassende und komplexe “Aufbereitung” zu reagieren, die auf einer rückschauenden Auslegung von P13 beruhte, zumal sie von dieser “Aufbereitung” erstmals in der mündlichen Verhandlung Kenntnis erhielt.

V. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) I brachte unter anderem folgendes vor:

Die nach dem Prioritätstag veröffentlichten Druckschriften könnten nicht zur Auslegung von Druckschriften herangezogen werden, die vor dem Prioritätstag veröffentlicht worden seien. Der strenge Grundsatz, bei der Beurteilung der Patentfähigkeit nur Dokumente zu berücksichtigen, die vor dem Prioritätstag veröffentlicht worden seien, müsse eingehalten werden, sofern keine älteren Rechte betroffen seien.

VI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) VI brachte unter anderem folgendes vor:

a) Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) versuche, die nach dem Prioritätstag veröffentlichten Druckschriften zum Nachweis eines technischen Vorurteils heranzuziehen. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA müsse das Vorurteil am Prioritätstag bestanden haben und in der Regel unter Bezugnahme auf die Literatur oder auf Enzyklopädien nachgewiesen werden. Ein zu einem späteren Zeitpunkt entstandenes Vorurteil sei für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit unerheblich (vgl. T 341/94, T 531/95 und T 452/96).

b) Die Behauptung der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin), die computergenerierte Diavorführung komme der Vorlage eines nach dem Prioritätstag veröffentlichten Dokuments gleich, sei nicht haltbar. Diese Vorführung beruhe vollständig und unmittelbar auf der Vorveröffentlichung P13, die frühzeitig in das Verfahren eingeführt worden sei und auf deren relevante Teile – einschließlich der Querverweise, die in der Vorführung in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung angeführt worden seien – bereits im Schreiben der Einsprechenden VI vom 30. September 1999 hingewiesen worden sei. Es liege in der Natur des Einspruchsverfahrens, daß Auslegung und Argumentation nach dem Prioritätstag des Streitpatents erfolgten. Die Vorführung habe keineswegs einen Überraschungseffekt enthalten, der eine unfaire Behandlung darstelle; sie sei höchstens als ein verspätet vorgebrachtes Argument zu sehen, das ein Einsprechender gemäß G 4/92 jederzeit einführen könne. Vor der mündlichen Verhandlung habe man der Patentinhaberin keine Kopie der Unterlagen zur computergenerierten Diavorführung zukommen lassen können, da diese erst am zweiten Verhandlungstag kurz vor 9.00 Uhr in ihrer endgültigen Form vorgelegen habe.

VII. Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechenden) VII und X machten Ausführungen zur Sache, äußerten sich aber nicht zu den oben angeführten Verfahrensfragen. Zwei Einsprechende (II und IV) nahmen ihre Einsprüche im Laufe des Beschwerdeverfahrens zurück. Die anderen Beschwerdegegnerinnen (Einsprechenden) machten keine Ausführungen.

VIII. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte in ihrem Hauptantrag die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz.

IX. Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechenden) beantragten die Zurückweisung der Beschwerde. Zudem beantragte die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) I die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für den Fall, daß die Kammer das Patent in irgendeiner Form aufrechtzuerhalten gedenke.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Nichtberücksichtigung fristgerecht vorgelegter Beweismittel

2.1 Im Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung führte, hat die Einspruchsabteilung offenbar nicht zwischen zwei Kategorien von Druckschriften unterschieden, nämlich zwischen einer Druckschrift, die als Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ vorgelegt wird – in dem Sinne, daß sie selbst dem zugeordnet wird, was der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Streitpatents zugänglich gemacht wurde -, und einer Druckschrift, die selbst nicht zum Stand der Technik gehört, aber als Beweismittel für den Stand der Technik oder zur Stützung einer anderen Tatsachenbehauptung in bezug auf Neuheit oder erfinderische Tätigkeit vorgelegt wird. Im ersten Fall ist die Druckschrift ein direktes Beweismittel aus dem Stand der Technik und kann in ihrer Eigenschaft als Teil des Stands der Technik in der Regel nur bezüglich ihrer Echtheit in Frage gestellt werden. Im zweiten Fall ist die Druckschrift ebenfalls ein Beweismittel, aber nur auf indirekte Weise, weil sie die Grundlage für eine Schlußfolgerung – z. B. zum Stand der Technik, zum allgemeinen Fachwissen, zur Frage der Auslegung oder zum Vorliegen eines technischen Vorurteils – bildet, die natürlich bezüglich ihrer Plausibilität in Frage gestellt werden kann.

2.2 Nur eine Druckschrift der ersten Kategorie kann allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, daß sie eine Nachveröffentlichung ist, weil sie dann auf den ersten Blick nicht das ist, was sie angeblich sein soll, und damit offensichtlich irrelevant für die Behauptung ist, die sie stützen soll. Selbst dann muß der Beteiligten, die die Druckschrift vorlegt, Gelegenheit für den Nachweis gegeben werden, daß das tatsächliche Veröffentlichungsdatum ein anderes ist, z. B. indem sie stichhaltige Beweise dafür vorlegt, daß ein Druckfehler vorliegt.

2.3 Bei Dokumenten der zweiten Kategorie ist der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung – auch wenn es um Neuheit oder erfinderische Tätigkeit geht – nicht das entscheidende Kriterium. So ist ein Wörterbuch definitionsgemäß eine Wiedergabe der Bedeutungen von Wörtern, die bereits – mitunter Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende – vor der Veröffentlichung des Wörterbuchs existierten, und könnte daher relevant für die Auslegung und damit die Frage der Neuheit sein. Gleichermaßen ist ein technischer Übersichtsartikel definitionsgemäß ein Bericht über das allgemeine Fachwissen vor dem Datum seiner Veröffentlichung, der sich unter anderem auf die ausreichende Offenbarung einer Vorveröffentlichung und damit auf die Neuheit des beanspruchten Gegenstands auswirken könnte. Ebenso ließe sich die Behauptung, ein angebliches technisches Vorurteil sei lange vor dem Prioritätstag einer Patentanmeldung überwunden worden, am besten durch die Vorlage von Beweismitteln dafür entkräften, daß das Vorurteil weit über diesen Prioritätstag hinaus noch bestanden habe – je später, desto besser. Der Nachweis des kommerziellen Erfolgs einer Erfindung, der sich auf ihre technischen Eigenschaften zurückführen läßt und als sekundäres Anzeichen für das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit gelten kann, gehört ebenfalls zu diesen Post-factum-Beweismitteln.

2.4 Abgesehen davon, daß es unlogisch ist, indirekte Beweismittel zu Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil es sich dabei um Nachveröffentlichungen handelt, werden dem betroffenen Beteiligten grundlegende verfahrensrechtliche Ansprüche vorenthalten, die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannt und in den Artikeln 117 (1) und 113 (1) EPÜ verankert sind, nämlich das Recht, – insbesondere durch die Vorlegung von Urkunden – geeignete Beweise zu erbringen (Artikel 117 (1) c) EPÜ), sowie der Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Beschwerdekammern des EPA haben in ihren Entscheidungen wiederholt betont, daß der Anspruch auf rechtliches Gehör ein hohes Rechtsgut ist und ein gravierender Verstoß gegen diesen Anspruch einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt.

2.5 Daher hält es die Beschwerdekammer für angemessen, dem Antrag der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) auf Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung stattzugeben, damit die erste Instanz die unberücksichtigt gelassenen Beweismittel und die darauf gestützte Begründung prüfen kann.

2.6 Da die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall Beschwerde einlegen mußte, um einen verfahrensrechtlichen Anspruch durchzusetzen, wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Regel 67 EPÜ für billig erachtet.

3. Computergenerierte Diavorführung in der mündlichen Verhandlung

3.1 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) machte auch Einwände gegen die Art und Weise geltend, wie die Einsprechende VI in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ihren Standpunkt mittels einer einstündigen computergenerierten Diavorführung mit zahlreichen komplexen Folien darlegen durfte. Die entsprechenden Unterlagen sind im Protokoll der mündlichen Verhandlung dokumentiert und haben die Einspruchsabteilung laut der angefochtenen Entscheidung davon überzeugt, daß Anspruch 1 des ihr vorgelegten dritten Hilfsantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhte.

3.2 In der Entscheidung T 1122/01 vom 6. Mai 2004 entschied die Beschwerdekammer 3.4.2 des EPA, daß eine computergenerierte Diavorführung im Wesentlichen eine schriftliche Präsentation von Informationen darstellt, die strenggenommen nicht in die mündliche Verhandlung gehört, sondern unter das schriftliche Verfahren fällt (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe). Der Einsatz visueller Hilfsmittel wie einfacher Zeichnungen auf Flip-Charts und Folien oder auch kurzer Filme, mit denen die Arbeitsweise einer Maschine veranschaulicht wird, sind in der Regel nicht zu beanstanden; allerdings schließt sich die mit der vorliegenden Sache befaßte Kammer der in der genannten Entscheidung vertretenen Auffassung an, daß der uneingeschränkte Einsatz computergenerierter Diavorführungen in mündlichen Verhandlungen mit dem Risiko einer unfairen Behandlung behaftet ist. Allein die Fülle und Dichte von visuellem Material kann die Art der Darstellung eines Arguments dahin gehend beeinflussen, daß vom eigentlichen Zweck der mündlichen Verhandlung abgewichen wird, nämlich den Beteiligten Gelegenheit zu geben, die wesentlichen Aspekte ihrer Argumente mündlich vorzutragen. Es liegt in der Natur einer mündlichen Präsentation, daß die Geschwindigkeit, mit der die Informationen vorgetragen werden, beschränkt ist; eine gute Präsentation läßt sowohl den Beteiligten als auch der Abteilung bzw. der Kammer genügend Zeit für die Aufnahme der Informationen sowie für Notizen, auf die später zurückgekommen werden kann. Ist dies nicht gewährleistet, so greift der Vorsitzende ein und bittet den Vortragenden, sein Sprechtempo zu drosseln, und dies insbesondere dann, wenn simultan gedolmetscht wird. Dieses natürlich vorgegebene Tempo zwingt den Vortragenden auch, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

3.3 Dagegen verschiebt sich bei der Präsentation von schon vorbereitetem graphischem Material das Gleichgewicht leicht zugunsten des Vortragenden. Da die Lesegeschwindigkeit die Sprechgeschwindigkeit bei weitem übersteigt (bei geübten schnellen Lesern kann der Unterschied bis zum Faktor 10 betragen), hat der zuhörende Beteiligte letztlich weniger Zeit zum Nachdenken und Festhalten von Notizen pro vermittelter Informationseinheit, weil er unter dem psychischen Druck steht, nicht als langsamer Leser aufzufallen. Der Vortragende wird versucht sein, das hohe Tempo zu nutzen, um mehr Stoff unterzubringen. Wie in der obengenannten Entscheidung ebenfalls ausgeführt, läßt sich diese potenzielle Ungerechtigkeit dadurch verringern, daß den anderen Beteiligten und der Abteilung bzw. der Kammer rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung Kopien der präsentierten Unterlagen zur Verfügung gestellt werden. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß derartige Unterlagen deutlich dem schriftlichen Verfahren zuzuordnen sind; gleichzeitig wird aber auch die Frage aufgeworfen, ob es dann zweckmäßig ist, diese Unterlagen in der mündlichen Verhandlung nochmals aufzugreifen. Wenn simultan gedolmetscht wird, erscheint eine solche computergenerierte Diavorführung so gut wie unmöglich.

3.4 Da die Sache zurückverwiesen und die Beschwerdegebühr gemäß den obigen Ausführungen der Kammer zurückgezahlt wird, kann die Frage offen bleiben, ob ein (weiterer) wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt, weil die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung, die zu der angefochtenen Entscheidung führte, die computergenerierte Diavorführung zugelassen hat. Die Kammer möchte damit keineswegs behaupten, daß solche Vorführungen per se einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen. Sie stellt lediglich fest, daß die Einspruchsabteilung darauf achten muß, daß der grundlegend mündliche Charakter der Verhandlung bestehen bleibt und dem lesenden und zuhörenden Beteiligten nicht ungerechterweise ein Nachteil entsteht. Im vorliegenden Fall wird der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) durch die Zurückverweisung die Möglichkeit gegeben, vor der ersten Instanz eine wohlüberlegte Erwiderung auf die auf P13 beruhende computergenerierte Diavorführung vorzutragen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.