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European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2004:T102003.20041029 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 29 October 2004 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1020/03 | ||||||||
Anmeldenummer: | 96915698.3 | ||||||||
IPC-Klasse: | A61K 38/30 A61K 38/55 |
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Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
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Bezeichnung der Anmeldung: | – | ||||||||
Name des Anmelders: | GENENTECH, INC. | ||||||||
Name des Einsprechenden: | – | ||||||||
Kammer: | 3.3.04 | ||||||||
Leitsatz: | Bei jeder unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ fallenden Verwendung eines Stoffgemisches, das bereits für eine therapeutische Anwendung vorgeschlagen wurde, ist ein Anspruch für eine zweite medizinische Verwendung, der auf die Herstellung des Stoffgemisches für diese zweite medizinische Verwendung gerichtet ist, unabhängig davon gewährbar, wie ausführlich diese Verwendung beschrieben wird, sofern sie neu und erfinderisch ist. Für die Neuheit ist auch nach Artikel 54 (5) EPÜ maßgeblich, ob die therapeutische Anwendung neu ist, und zwar unabhängig davon, wie ausführlich die Therapie im Anspruch dargelegt ist. | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Artikel 52 (4) EPÜ erfüllt (bejaht) – Abkehr von den Entscheidungen T 317/95, T 56/97, T 584/97, T 4/98 und T 485/99, da im Widerspruch zu G 1/8 Artikel 54 (5) EPÜ anwendbar (bejaht) – Abkehr von Entscheidung T 4/98 |
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Orientierungssatz: |
– |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 13. Mai 2003 über die Zurückweisung der als WO 96/37216 veröffentlichten europäischen Patentanmeldung Nr. 96 915 698.3 gemäß Artikel 97 (1) EPÜ. Diese Zurückweisung wurde gestützt auf die Ansprüche 1 bis 24 des am 3. November 1997 eingereichten Hauptantrags sowie auf die Ansprüche der nacheinander eingereichten Hilfsanträge eins bis fünf.
II. Die von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Ansprüche des Hauptantrags sind identisch mit den Ansprüchen des Hauptantrags, wie er der Kammer vorliegt. Dessen Ansprüche 1 und 13 lauten wie folgt:
“1. Verwendung des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1) zur Herstellung eines Arzneimittels für die Verabreichung an ein Säugetier, um dessen Immunreaktion bei der Behandlung einer chronischen Erkrankung aufrechtzuerhalten, wobei das Verabreichungsmuster des Arzneimittels darin besteht, dem Säugetier eine therapeutisch wirksame Menge von IGF-1 so zu verabreichen, dass eine Exposition mit IGF-1 anhaltend oder zumindest einmal täglich über einen Zeitraum von mehreren Tagen erfolgt, um die maximale Immunreaktion des Säugetiers hervorzurufen, dann diese Verabreichung durch eine anhaltende Nichtbehandlung oder eine Nichtbehandlung über einen Zeitraum von mehreren Tagen zu unterbrechen, der ebenso lang wie oder kürzer als der Zeitraum ist, während dessen IGF-1 zuvor verabreicht wurde, dann dem Säugetier eine therapeutisch wirksame Menge von IGF-1 so zu verabreichen, dass eine Exposition mit IGF-1 anhaltend oder zumindest einmal täglich über einen Zeitraum von mehreren Tagen erfolgt, um die maximale Immunreaktion des Säugetiers hervorzurufen, dann diese Verabreichung durch eine anhaltende Nichtbehandlung oder eine Nichtbehandlung über einen Zeitraum von mehreren Tagen zu unterbrechen, der ebenso lang wie oder kürzer als der Zeitraum ist, während dessen IGF-1 unmittelbar zuvor verabreicht wurde, und das Muster von Verabreichung und Unterbrechung der Verabreichung so lange zu wiederholen, wie es nötig ist, um eine anhaltende Immunreaktion des Säugetiers hervorzurufen oder aufrechtzuerhalten.”
“13. Verwendung des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1) zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung der chronischen Niereninsuffizienz eines Säugetiers, wobei das Verabreichungsmuster des Arzneimittels darin besteht, dem Säugetier eine therapeutisch wirksame Menge des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1) so zu verabreichen, dass eine Exposition mit IGF-1 über etwa drei bis zwölf Tage erfolgt, dann diese Verabreichung für etwa zwei bis sieben Tage zu unterbrechen, dann dem Säugetier eine therapeutisch wirksame Menge von IGF-1 so zu verabreichen, dass eine Exposition mit IGF-1 über etwa drei bis zwölf Tage erfolgt, dann diese Verabreichung für etwa zwei bis sieben Tage zu unterbrechen, und das Muster von Verabreichung und Unterbrechung der Verabreichung so lange zu wiederholen, wie es nötig ist, um eine anhaltende Nierenfunktion des Säugetiers hervorzurufen oder aufrechtzuerhalten, wobei die Zeiträume der Unterbrechung der Verabreichung ebenso lang wie oder kürzer als die Zeiträume sind, während deren IGF-1 unmittelbar zuvor verabreicht wurde.”
Die Ansprüche 2 bis 12 und 14 bis 24 bezogen sich auf besondere Ausführungsarten der Verwendung nach Anspruch 1 bzw. 13.
III. Die Prüfungsabteilung begründete ihre Zurückweisung des Hauptantrags wie folgt:
“I) Wie von der Kammer in der Sache T 317/95, Nummer 4.5 der Entscheidungsgründe, festgestellt wurde, scheint die Festlegung des optimalen individuellen Behandlungsplans und insbesondere das Verordnen der Verabreichungsweise eines bestimmten Arzneimittels sowie deren Änderung, um den besonderen Bedürfnissen eines Patienten gerecht zu werden, zu den typischen Tätigkeiten und Pflichten des behandelnden Arztes bei der Ausübung seiner Heilkunst zu gehören, d. h. der Heilung, Vorbeugung oder Linderung der Symptome von Leiden und Krankheit. Dies sind typische nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeiten auf dem Gebiet der Medizin, die Artikel 52 (4) EPÜ von patentrechtlichen Beschränkungen freihalten soll.
Ähnlich wird in T 584/97, Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe, und in T 56/97, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe, argumentiert.
Nach Meinung der Prüfungsabteilung weist die Verwendung von Formulierungen wie “ eine anhaltende Immunreaktion des Säugetiers hervorzurufen oder aufrechtzuerhalten” in Anspruch 1 des Hauptantrags darauf hin, dass die Dosierung – vermutlich durch das behandelnde medizinisch geschulte Personal – speziell auf den einzelnen Patienten zugeschnitten wird.
Aus diesem Grund hält die Prüfungsabteilung den Anspruch 1 nach Artikel 52 (4) EPÜ für nicht gewährbar; dies wird durch die vorstehend angeführten Kammerentscheidungen auch nahe gelegt.
II) Obgleich die Kammer in den vorstehend angeführten Fällen ihre Entscheidung nicht mit Artikel 52 (4) EPÜ begründete, sieht die Prüfungsabteilung keine Veranlassung, von dieser bei drei verschiedenen Anlässen getroffenen Feststellung abzuweichen.
Klar ist auch, dass die Kammer ihre Feststellungen in voller Kenntnis der Entscheidung G 1/83 und vieler der von der Beschwerdeführerin genannten Entscheidungen getroffen hat.
III) Im Falle der Entscheidung, in der es um die “Art der Verabreichung” ging, läge es am Arzt, über die optimale Behandlung des Patienten zu entscheiden und dann das bereits hergestellte Arzneimittel auszuwählen und zu verabreichen. Der Anspruch soll die Herstellung und Verteilung des Erzeugnisses bis zu dem Punkt abdecken, an dem es dem medizinisch geschulten Personal zur Verfügung steht. Die eigentliche Verabreichung liegt außerhalb des Schutzumfangs der Ansprüche.
Im vorliegenden Fall berührt die therapeutische Anwendung der beanspruchten zweiten medizinischen Verwendung den Entscheidungs- und Behandlungsprozess des Arztes. Auch wenn der Anspruch Hinweise gibt, die vorher möglicherweise nicht bekannt oder nahe liegend waren, müsste der Arzt in diesem Fall immer noch die “maximale Immunreaktion” bestimmen und dann über das optimale Vorgehen entscheiden. Auch sind die weiteren Behandlungsentscheidungen und -schritte unterschiedlich und davon abhängig, wie lange das Arzneimittel zuvor verabreicht wurde, so dass Entscheidungen und Handlungen des medizinisch geschulten Personals erforderlich sind. Auf diese Entscheidungen und Handlungen erstrecken sich die Ansprüche.
Im vorliegenden Fall geht es offenbar nicht um eine neue “Art der Verabreichung”, Dosierung oder zu behandelnde Krankheit. Das neue und erfinderische Merkmal der vorliegenden Anmeldung besteht im Verfahren der Behandlung von Patienten in einer zyklischen Abfolge mit Unterbrechungen.
Anders als in den von der Anmelderin angeführten Entscheidungen müsste sich der Arzt in diesem Fall nach den Bestimmungen der Ansprüche richten, nachdem die Behandlung bereits begonnen hat. Dies wird im Hinblick auf Artikel 52 (4) EPÜ als inakzeptabel erachtet.
Dies gilt unabhängig davon, ob auf Grund der vorliegenden Anmeldung eine neue Patientengruppe behandelt werden könnte.”
Mit der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen wurden auch der geänderte erste, zweite, dritte und fünfte Hilfsantrag wegen Verstoßes gegen Artikel 123 (2) EPÜ und der geänderte vierte Hilfsantrag, weil er Ansprüche enthielt, die gegen Artikel 52 (4) EPÜ verstießen (gleicher Zurückweisungsgrund wie beim Hauptantrag).
IV. Es erging ein Bescheid, in dem die Kammer ihre vorläufige Auffassung mitteilte. Die mündliche Verhandlung fand am 29. Oktober 2004 statt.
V. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich, soweit sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind, wie folgt zusammenfassen:
– Die vorliegende Anmeldung beruhe auf der Erkenntnis, dass bei Patienten mit chronischen Erkrankungen wie chronischer Niereninsuffizienz anstelle einer fortlaufenden Behandlung mit IGF-1, die mit der Zeit wirkungslos werde, Behandlungszyklen (eine “intermittierende” Behandlung) mit IGF-1 eine anhaltend positive Wirkung haben könnten.
– Die Ansprüche seien als auf eine zweite medizinische Verwendung gerichtete Ansprüche gemäß der Entscheidung G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) abgefasst worden, wo das Merkmal, das den Ansprüchen Neuheit verliehen habe, eine medizinische Tätigkeit gewesen sei, die ausdrücklich eine nicht patentierbare, nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeit sei. Die Formulierung als Anspruch, der auf eine “erste” oder “zweite” medizinische Indikation gerichtet sei, gewährleiste die Patentierbarkeit, wenn der neue und erfinderische Aspekt des Anspruchs in einem Merkmal begründet liege, das an sich nicht patentierbar sei.
– Den Entscheidungen G 1/83 (s. o.) und T 19/86 (ABl. EPA 1989, 25) zufolge sei der Ausdruck “therapeutische Anwendung” breit auszulegen, und zwar im Sinne jeder Behandlung oder Therapie, die nach Artikel 52 (4) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossen sei.
– Es sei nicht logisch, auf therapeutische Anwendungen gerichtete Ansprüche zu gewähren, wenn es sich dabei um einen neuen Verabreichungsweg (s. Entscheidung T 51/93 vom 8. Juni 1994) oder um eine neue Gruppe von Subjekten (T 19/86, s. o.) handle, dann aber einen Anspruch für eine therapeutische Anwendung zurückzuweisen, die in einem neuen Verabreichungsmuster bestehe, das den behandelten Patienten beträchtlichen Nutzen bringe.
Da die vorliegenden Ansprüche in der in G 1/83 (s. o.) zugelassenen Form abgefasst seien, müsste die Patentierbarkeit der vorliegenden Erfindung vielmehr davon abhängen, ob die beanspruchte Verabreichungsweise von IGF-1 eine neue und erfinderische Verwendung dieses Arzneimittels sei. Dies sei zu bejahen, weil in keiner Vorveröffentlichung die Behandlung mit IGF-1 über mehrere Tage, gefolgt von einer Unterbrechung und der Wiederholung dieser Behandlung, offenbart worden sei, und diese Behandlungsweise zudem eine langfristige Therapie mit geringeren Nebenwirkungen ermögliche; dies gehe aus den Beispielen I bis III der Anmeldung hervor, die zu Vergleichszwecken auch aufzeige, dass die frühere “anhaltende” Verabreichung von IGF-1 nicht erfolgreich gewesen sei.
– Diese Erkenntnis bedeute eine potenzielle Erweiterung des Marktes für IGF-1. Eine wichtige Auswirkung der vorliegenden Erfindung bestehe darin, dass sie die gewerbliche Anwendbarkeit und Vermarktbarkeit von IGF-1 enorm gesteigert habe, weil sie die Behandlung vieler verschiedener Patiententypen mit IGF-1 ermögliche. Bei der herkömmlichen Verabreichungsweise könnten viele Patientengruppen mit bestimmten chronischen Erkrankungen nicht mit IGF-1 behandelt werden, weil die kurzfristig erzielte positive Wirkung langfristig nachlasse und/oder es gehäuft zu Nebenwirkungen komme.
– Der beanspruchte Gegenstand berühre nicht die klinische Freiheit des Arztes, der das neue Merkmal der Ansprüche ausführe. Gewiss sei jede medizinische Tätigkeit, die unter Artikel 52 (4) EPÜ falle, vom Patentschutz ausgeschlossen, weil sonst die Freiheit des Arztes bei der Behandlung eines Patienten beeinträchtigt würde. Anspruch 1 sei jedoch auf das Verfahren zur Herstellung eines Arzneimittels gerichtet, auch wenn einem Anspruch auf eine weitere medizinische Verwendung Neuheit durch die medizinische Tätigkeit selbst verliehen werde. Dies habe die Große Beschwerdekammer als besonderen “Grundsatz der Beurteilung der Neuheit” bezeichnet. Dass die unter Artikel 52 (4) EPÜ fallende Verwendung im Anspruch genannt sei, könne nicht als Einwand gegen einen Anspruch für eine weitere medizinische Verwendung vorgebracht werden. Mithin erstrecke sich der Anspruch nicht auf die typischen Aufgaben und Pflichten eines Arztes bei der Ausübung seiner Heilkunst und daher nicht auf eine medizinische Tätigkeit, die nach Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen sei. Dies gelte unabhängig davon, ob bei der medizinischen Tätigkeit eine bekannte Verbindung zur Behandlung einer anderen Krankheit oder aber zur Behandlung derselben Krankheit über einen anderen Verabreichungsweg verwendet werde.
– Die Entscheidung T 317/95 (s. o.) sei nicht relevant, da die dort behandelte Verabreichungsweise im Gegensatz zur Verabreichungsweise im vorliegenden Anspruch 1 als nahe liegend erachtet worden sei.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 24 des am 3. November 1997 eingereichten Hauptantrags oder eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 6.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 1/83, G 5/83 und G 6/83
2. Die Frage, inwieweit die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers patentierbar ist, wenn die Verwendung dieses Gemisches für eine Form einer solchen Behandlung bereits bekannt ist, wurde von der Großen Beschwerdekammer in sieben gleich lautenden parallelen Entscheidungen vom 5. Dezember 1984 entschieden; davon wurden die Entscheidungen G 1/83 (Bayer), G 5/83 (Eisai) und G 6/83 (Pharmuka) in deutscher, englischer bzw. französischer Sprache im ABl. EPA 1985, 60, 64 bzw. 67 veröffentlicht. Diese Entscheidungen werden in der englischen Originalfassung der jetzigen Entscheidung ausschließlich unter Bezugnahme auf die Entscheidung G 5/83 zitiert, die in der jetzigen Verfahrenssprache – Englisch – veröffentlicht wurde. (Anmerkung der Übersetzer: In der vorliegenden Übersetzung wird aus der in Deutsch veröffentlichten Entscheidung G 1/83 zitiert.) Nach Auffassung der Kammer haben ihre Anmerkungen allerdings unabhängig von der Sprachfassung, auf die Bezug genommen wird, Gültigkeit. Der Kürze halber wird im Folgenden außer in direkten Zitaten “Stoffgemisch” als Kurzform für “Stoff oder Stoffgemisch” gebraucht, weil es hier auf etwaige Unterschiede zwischen einem Stoff und einem Stoffgemisch nicht ankommt.
3. Nach Auffassung der Kammer ist die Entscheidung in der vorliegenden Frage maßgeblich davon abhängig, wie die Große Beschwerdekammer seinerzeit in Bezug auf die Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ befunden hat; deshalb wird zunächst ausführlich darauf eingegangen. Die Entscheidungsformel der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 1/83 lautet wie folgt:
“1. Ein europäisches Patent kann nicht mit Patentansprüchen erteilt werden, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers gerichtet sind.
2. Ein europäisches Patent kann mit Patentansprüchen erteilt werden, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet sind.”
4. Die Begründung der Großen Beschwerdekammer, die zu diesen Schlussfolgerungen führte, ist in den Nummern 11 bis 16 der Entscheidungsgründe enthalten und lautet wie folgt:
“11. Das Europäische Patentübereinkommen lässt generell sowohl Verfahrensansprüche als auch Verwendungsansprüche zu. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist es meist nur eine Frage der individuellen Wahl, ob der Anmelder eine Tätigkeit als Verfahren zur Ausführung der Tätigkeit unter Angabe verschiedener Verfahrensschritte beansprucht oder ob er diese Tätigkeit, zu der naturgemäß eine Folge von Verfahrensschritten gehören kann, als Anwendung oder Verwendung einer Sache für einen bestimmten Zweck in einem Anspruch geschützt erhalten will. Die Große Beschwerdekammer sieht hierin keinen sachlichen Unterschied.
Auf den vorliegenden Fall bezogen, nämlich die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung, bedeutet dies, dass es nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer nicht gerechtfertigt ist, einen Unterschied zwischen Verfahrensansprüchen und Verwendungsansprüchen zu konstruieren, wie dies von einem Beschwerdeführer getan wird. Es kann auf Grund der Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens nicht etwa gesagt werden, dass ein Verwendungsanspruch die Herstellung eines pharmazeutischen Erzeugnisses mit Anweisungen zu seinem Gebrauch bei der Behandlung einer Krankheit (die “augenfällige Herrichtung”) mit einschließe, ein Verfahrensanspruch jedoch nicht. In beiden Fällen muss der für die therapeutische Behandlung aktive Stoff (oder das Stoffgemisch) in einem Zustand sein, in dem er seine therapeutische Wirkung entfalten kann, was notwendigerweise voraussetzt, dass das aktive Material formuliert und dosiert wurde.
12. Wie dargelegt, bestehen keinerlei Einwendungen gegen die Gewährung von “Verwendungsansprüchen” im Allgemeinen. Die Bedenken gegen ein Patent mit Ansprüchen, die auf die “Verwendung von Stoffen oder Stoffgemischen für die therapeutische Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers” gerichtet sind, bestehen darin, dass diese Ansprüche nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer den Bestimmungen des Artikels 52 (4) EPÜ widersprechen, wonach “Verfahren zur … therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers … nicht als gewerblich anwendbare Erfindungen” im Sinne des Artikels 52 (1) EPÜ gelten.
13. Nach der bereits dargelegten Meinung der Großen Beschwerdekammer ist ein Patentanspruch, der auf die “Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers” gerichtet ist, seinem eigentlichen Inhalt nach in keiner Weise verschieden von einem Anspruch auf ein “Verfahren zur … therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers” mit dem Stoff oder Stoffgemisch. Der Unterschied beider Ansprüche besteht im Grunde nur in der Fassung; die zweite Fassung des Anspruchs widerspricht aber offensichtlich dem Artikel 52 (4) EPÜ. Aus diesem Grund kann kein europäisches Patent mit Ansprüchen weder auf ein solches Verfahren noch auf eine solche Verwendung erteilt werden (Artikel 97 (1) EPÜ).
14. Andererseits sind Ansprüche auf Stoffe oder Stoffgemische zur Verwendung bei der therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ohne Frage auf Erfindungen gerichtet, die nach Artikel 52 (1) EPÜ gewerblich anwendbar sind. Dies ist nicht nur ausdrücklich in Artikel 52 (4), letzter Satz, EPÜ klargestellt, sondern kann auch der in Artikel 57 EPÜ festgelegten Definition der gewerblichen Anwendbarkeit entnommen werden, wonach der Gegenstand der Erfindung “auf irgendeinem gewerblichen Gebiet einschließlich der Landwirtschaft hergestellt oder benutzt werden kann”. Der letzte Satz des Artikels 52 (4) EPÜ scheint der Großen Beschwerdekammer etwas Selbstverständliches auszusagen; er dürfte auf das Bemühen zurückzuführen sein, die Rechtslage eindeutig klarzustellen.
15. Darüber hinaus sieht Artikel 54 (5) EPÜ vor, dass die allgemeinen Bestimmungen über die Neuheit (Artikel 54 (1) bis (4) EPÜ) die Patentfähigkeit von Stoffen und Stoffgemischen, die zum Stand der Technik gehören, für eine Anwendung in einem der in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Verfahren nicht ausschließen sollen, wenn ihre Anwendung in einem solchen Verfahren nicht zum Stand der Technik gehört. Auf diese Weise kann der Erfinder einer “ersten medizinischen Indikation” einen zweckgebundenen Stoffschutz für bekannte Stoffe oder Stoffgemische erhalten, ohne auf Stoffe oder Stoffgemische beschränkt zu sein, die für eine bestimmte therapeutische Anwendung in eine entsprechende Darreichungsform gebracht wurden. Er kommt also durch den zweckgebundenen Stoffanspruch in den Genuss eines sehr weiten Schutzes. Hinsichtlich der gewerblichen Anwendbarkeit nach Artikel 57 ergeben sich keine Probleme bei diesen Patentansprüchen.
16. Patentansprüche, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels gerichtet sind, betreffen ebenfalls eindeutig nach Artikel 57 EPÜ gewerblich anwendbare Erfindungen.”
5. Der Unterschied zwischen der Anspruchsart, die die Große Beschwerdekammer für nicht gewährbar befand, und derjenigen, die sie als gewährbar erachtete, besteht im ausdrücklich bezeichneten Anspruchsgegenstand. Mit einem auf die “Verwendung eines Stoffgemisches für die therapeutische Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers” (oder auf ein “Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers mit dem Stoffgemisch”) gerichteten Anspruch wird ein Gegenstand beansprucht, der nach Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ ausdrücklich nicht als gewerblich anwendbare Erfindung gilt. Dagegen wird mit einem Anspruch, der auf die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels gerichtet ist, ebenso eindeutig eine Erfindung beansprucht, die im Sinne des Artikels 57 EPÜ gewerblich anwendbar ist, so dass ein solcher Anspruch auf Grund seines Gegenstands nicht unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ fällt.
6. Die Große Beschwerdekammer befand weiter, dass in dem besonderen Fall, in dem der beabsichtigte Zweck der Herstellung des Stoffgemisches darin besteht, dieses Stoffgemisch anschließend für die therapeutische Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers zu verwenden, der Herstellung des Stoffgemisches durch Artikel 54 (5) EPÜ eine fiktive Neuheit zugebilligt wird, selbst wenn sich das sich aus der beanspruchten Verwendung ergebende Arzneimittel in keiner Weise von einem bekannten Arzneimittel unterscheidet (G 1/83, Nrn. 20 und 21 der Entscheidungsgründe). Dies steht im Widerspruch zur üblichen Position im Patentrecht, wonach die Tatsache, dass ein Stoffgemisch für eine beabsichtigte neue Verwendung hergestellt wird, die Herstellung des Stoffgemisches nicht zu etwas Neuem macht, wenn das Stoffgemisch und seine Herstellung dieselben sind wie bei anderen, bekannten Verwendungen. In solchen anderen Fällen wäre aber die neue beabsichtigte Verwendung selbst potenziell patentierbar, was bei therapeutischen Behandlungen nicht der Fall ist. Da in Artikel 56 EPÜ zur erfinderischen Tätigkeit darauf verwiesen wird, was für die Zwecke des Artikels 54 EPÜ zum Stand der Technik gehört, gestattet es die nach Artikel 54 (5) EPÜ aus der beabsichtigten Verwendung eines Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung ableitbare fiktive Neuheit auch, die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit der Herstellung des Stoffgemisches davon abzuleiten, dass die beabsichtigte Therapie nicht nahe liegend ist.
7. In der Entscheidung G 1/83 war die Große Beschwerdekammer mit einer zweiten (oder weiteren) medizinischen Verwendung in Fällen befasst, in denen eine erste medizinische Verwendung bereits bekannt war. Wenn die Große Beschwerdekammer also in Nummer 2 der Entscheidungsformel festgestellt hat, dass “ein europäisches Patent mit Patentansprüchen erteilt werden kann, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet sind”, wurde der Begriff “bestimmte” (im Englischen “specified”, im Französischen “déterminée”) nach Auffassung der jetzigen Kammer lediglich in Abgrenzung zu der in einem Anspruch für eine erste medizinische Verwendung zulässigen unbestimmten Therapie und nicht im Sinne der Auferlegung bestimmter Bedingungen verwendet, die eine weitere medizinische Verwendung erfüllen müsste. Vielmehr wäre bei jeder unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ fallenden Verwendung (siehe Nr. 1 der Entscheidungsformel der Großen Beschwerdekammer) eines Stoffgemisches, das bereits für eine therapeutische Anwendung vorgeschlagen wurde, ein Anspruch für eine weitere medizinische Verwendung, der auf die Herstellung des Stoffgemisches für diese weitere medizinische Verwendung gerichtet ist, unabhängig davon gewährbar, wie ausführlich diese Verwendung beschrieben wird, sofern sie neu und erfinderisch ist.
8. Damit eine Verwendung als neu gilt, muss sie auf das beschränkt sein, was neu ist, und darf nicht lediglich auf die Nutzung einer physiologischen/pharmakologischen Wirkung oder Wirkungsweise gerichtet sein, die einer früheren therapeutischen Verwendung zu Grunde lag, dort aber nicht als solche benannt war. Beispiele für solche Fälle sind die Entscheidungen T 254/93-3.3.2 vom 14. Mai 1997 (Anspruch auf die Verwendung eines Retinoids zur Herstellung eines topisch anzuwendenden Arzneimittels zur Verhütung von kortikosteroid-induzierter Hautatrophie, der lediglich als Beitrag weiterer Informationen über die bekannte Verwendung erachtet wurde, d. h. als Erklärung der Wirkungsweise, auf der die frühere Verwendung beruhte, ohne dass sich aus dieser Wirkung ein neuer Zweck ergeben hätte) und die Entscheidungen T 189/95-3.3.2 vom 29. Februar 2000 (s. Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe) und T 486/01-3.3.4 (s. Nr. 12 der Entscheidungsgründe). Die Kammer stellt fest, dass die in diesen drei Fällen genannten physiologischen/pharmakologischen Wirkungen nicht zu einer wirklich neuen nützlichen Anwendung geführt haben, so etwa zur Eröffnung eines neuen klinischen Anwendungsbereichs, zur Heilung eines anderen Krankheitsbilds oder klinischen Befunds, zur Bildung einer spezifischen Gruppe von Subjekten (Endnutzern oder Patienten) oder zur Bereitstellung neuer Mittel/Maßnahmen für die Ausübung der neuen Verwendung. Anders ausgedrückt war keine Ausweitung der “gewerblichen Tätigkeit” über die bekannte Verwendung hinaus erkennbar.
Weitere zu prüfende Erfordernisse des EPÜ
9. Selbstverständlich müsste ein auf eine weitere medizinische Verwendung gerichteter Anspruch daraufhin geprüft werden, ob er die übrigen Patentierungserfordernisse des Europäischen Patentübereinkommens erfüllt, so etwa Artikel 82 EPÜ über die Einheitlichkeit der Erfindung, nachdem ja eine erste Verwendung bekannt war, Artikel 83 EPÜ, wonach die Erfindung so deutlich und vollständig zu offenbaren ist, dass sie ausgeführt werden kann, und Artikel 84 EPÜ, demzufolge die Ansprüche deutlich und knapp gefasst sein müssen. Dass die Große Beschwerdekammer diese Artikel nicht anführte, ist allein darauf zurückzuführen, dass sie mit der Frage befasst war, was nach den Artikeln 52 (4) und 54 (5) EPÜ gewährbar ist und was nicht. Dies kann nicht so ausgelegt werden, als müsse die im Falle einer solchen weiteren medizinischen Verwendung zulässige Anspruchsform nicht auch diesen weiteren Erfordernissen des EPÜ genügen.
10. Nach Artikel 84 EPÜ müssen die Ansprüche zudem von der Beschreibung gestützt sein. Bei der Durchsicht der vorbereitenden Unterlagen zu den zahlreichen Sitzungen und Konferenzen, die zum Abschluss des Europäischen Patentübereinkommens im Jahr 1973 führten, zeigt sich allerdings, dass das Erfordernis der Stützung der Ansprüche während der in den verschiedenen Entwürfen wiedergegebenen Beratungen eher als eine formale Frage betrachtet wurde, mit der ein einheitlicher Umfang von Beschreibung und Ansprüchen sichergestellt werden sollte. Waren Ansprüche ursprünglich breiter gefasst, so wurde es als zulässig angesehen, die Beschreibung zu ändern, um die Diskrepanz zu beseitigen. Dieser Mangel wurde nicht als sachlicher Grund für die Zurückweisung von Ansprüchen wegen mangelnder Nützlichkeit in dem Sinne angesehen, dass die Ansprüche zu breit seien, um irgendeinen sinnvollen Zweck zu erfüllen, der ihrem Gegenstand in der Beschreibung zugeschrieben wird. Diese formale Betrachtung des Erfordernisses der Stützung erklärt auch, warum es nicht als Einspruchsgrund aufgenommen wurde; auf der Diplomatischen Konferenz von 2000 zur Revision des EPÜ wurde diese Sichtweise bekräftigt. Mit diesen Anmerkungen will die Kammer lediglich darauf hinweisen, dass Artikel 84 EPÜ nicht herangezogen werden kann, um einen Anmelder zu zwingen, den Umfang seiner auf eine erste oder weitere medizinische Verwendung gerichteten Ansprüche einzuschränken, wenn diese im Vergleich zu der in der Beschreibung offenbarten Verwendung für zu breit erachtet werden.
11. Ein auf eine weitere medizinische Verwendung gerichteter Anspruch, der in der zulässigen Form (oder in der gleichwertigen Form eines auf ein Verfahren zur Herstellung des Arzneimittels unter Verwendung des Stoffes gerichteten Anspruchs, vgl. T 958/94-3.3.2, ABl. EPA 1997, 241) abgefasst ist, genügt auf jeden Fall den Erfordernissen von Artikel 52 (4) EPÜ, und zwar unabhängig davon, wie ausführlich die Therapie darin beschrieben ist. Die gegenteilige Ansicht widerspräche der Begründung der Entscheidung G 1/83, wie sie insbesondere in den Nummern 16 und 19 der Entscheidungsgründe enthalten ist. In der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer sind die Verwendungen, die unter Artikel 52 (4) EPÜ fallen, weit gefasst (s. Nr. 1 der Entscheidungsformel). Für jede Therapie, die unter diese weit gefassten Verwendungen fällt und nicht die erste bekannte Therapie ist, bei der das Stoffgemisch verwendet wird, ist ein Anspruch in der zulässigen Form gewährbar, der auf die Herstellung eines Präparats für diese weitere Verwendung gerichtet ist und dadurch einen Verstoß gegen Artikel 52 (4) EPÜ vermeidet. Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer enthält keinen gegenteiligen Hinweis und schon gar keine Überlegungen darüber, welche Bedingungen ein auf eine weitere medizinische Verwendung gerichteter Anspruch neben der Neuheit womöglich zu erfüllen hätte, um nicht gegen Artikel 52 (4) EPÜ zu verstoßen und nach Artikel 54 (5) EPÜ berücksichtigt zu werden. Es liegt in der Natur eines Patentanspruchs, dass darin eine Erfindung auf eine Weise bezeichnet wird, die viele mögliche Varianten abdeckt. Eine therapeutische Verwendung kann in einem Patentanspruch mehr oder weniger ausführlich dargelegt werden, wird aber nie so konkret sein wie die Therapie, die einem bestimmten Patienten zu einem gegebenen Zeitpunkt von einem bestimmten Arzt verordnet wird. Im EPÜ findet sich kein Hinweis darauf, wie ausführlich eine Therapie in einem Anspruch beschrieben sein muss, der auf die Verwendung eines Stoffgemisches für eine weitere medizinische Indikation gerichtet ist. Wie vorstehend unter Nummer 7 festgestellt, kann die Kammer die Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer nur dahingehend auslegen, dass dort zwischen einer ersten und einer zweiten medizinischen Indikation unterschieden wird. Die Große Beschwerdekammer gibt in ihrer Entscheidung jedenfalls keinen Anhaltspunkt dazu, wie genau die Therapie für eine weitere medizinische Indikation dargelegt sein muss, und unterscheidet bei ihrer Begründung, warum ein auf die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels gerichteter Anspruch ungeachtet des Artikels 52 (4) EPÜ gewährbar ist, nicht nach dem Grad der Ausführlichkeit, mit der eine Therapie beschrieben ist.
Beeinträchtigt eine breite Auslegung der Gewährbarkeit von Ansprüchen für die Verwendung eines Stoffes die ärztliche Freiheit?
12. Die Beschwerdekammern sind für Fragen der Patentverletzung nicht zuständig; angesichts der in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Aussage, der zurückgewiesene Anspruch beeinträchtige den Arzt auf eine gemäß Artikel 52 (4) EPÜ nicht hinnehmbare Weise, wird die Kammer aber darlegen, warum ihrer Auffassung nach ein Anspruch, der in der von der Großen Beschwerdekammer in G 1/83 zugelassenen Form abgefasst ist, prima facie nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 52 (4) EPÜ führt, dessen Zweck es – wie dort unter Nummer 22 der Entscheidungsgründe festgestellt – ist, die nicht-kommerziellen und nicht-industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Human- und Veterinärmedizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten.
13. Da alle EPÜ-Vertragsstaaten mit Ausnahme Monacos auch Mitglieder des TRIPS-Übereinkommens sind, lässt sich die Frage, welche Rechte aus einem Anspruch erwachsen, bequem unter Verweis auf die Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens behandeln, denen die nationalen Vorschriften der Vertragsstaaten ja genügen müssen, so dass es sich erübrigt, auf die Situation in jedem einzelnen Vertragsstaat einzugehen.
14. Die einschlägigen Artikel in Abschnitt 5, Patente, lauten wie folgt:
“Artikel 27 – Patentfähige Gegenstände
(1) Vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 ist vorzusehen, dass Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erhältlich sind, sowohl für Erzeugnisse als auch für Verfahren, vorausgesetzt, dass sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind (*). Vorbehaltlich des Artikels 65 Absatz 4, des Artikels 70 Absatz 8 und des Absatzes 3 dieses Artikels sind Patente erhältlich und können Patentrechte ausgeübt werden, ohne dass hinsichtlich des Ortes der Erfindung, des Gebiets der Technik oder danach, ob die Erzeugnisse eingeführt oder im Land hergestellt werden, diskriminiert werden darf.
(2) Die Mitglieder können Erfindungen von der Patentierbarkeit ausschließen, wenn die Verhinderung ihrer gewerblichen Verwertung innerhalb ihres Hoheitsgebiets zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder der guten Sitten einschließlich des Schutzes des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder zur Vermeidung einer ernsten Schädigung der Umwelt notwendig ist, vorausgesetzt, dass ein solcher Ausschluss nicht nur deshalb vorgenommen wird, weil die Verwertung durch ihr Recht verboten ist.
(3) Die Mitglieder können von der Patentierbarkeit auch ausschließen
a) diagnostische, therapeutische und chirurgische Verfahren für die Behandlung von Menschen oder Tieren;
(*) Im Sinne dieses Artikels kann ein Mitglied die Begriffe “erfinderische Tätigkeit” und “gewerblich anwendbar” als Synonyme der Begriffe “nicht nahe liegend” beziehungsweise “nützlich” auffassen.
Artikel 28 – Rechte aus dem Patent
(1) Ein Patent gewährt seinem Inhaber die folgenden ausschließlichen Rechte:
a) wenn der Gegenstand des Patents ein Erzeugnis ist, es Dritten zu verbieten, ohne die Zustimmung des Inhabers folgende Handlungen vorzunehmen: Herstellung, Gebrauch, Anbieten zum Verkauf, Verkauf oder diesen Zwecken dienende Einfuhr (*) dieses Erzeugnisses;
b) wenn der Gegenstand des Patents ein Verfahren ist, es Dritten zu verbieten, ohne die Zustimmung des Inhabers das Verfahren anzuwenden und folgende Handlungen vorzunehmen: Gebrauch, Anbieten zum Verkauf, Verkauf oder Einfuhr zu diesen Zwecken zumindest in Bezug auf das unmittelbar durch dieses Verfahren gewonnene Erzeugnis.
(*) Dieses Recht unterliegt ebenso wie alle sonstigen nach diesem Übereinkommen gewährten Rechte in Bezug auf Gebrauch, Verkauf, Einfuhr oder sonstigen Vertrieb von Waren Artikel 6.
Artikel 30 – Ausnahmen von den Rechten aus dem Patent
Die Mitglieder können begrenzte Ausnahmen von den ausschließlichen Rechten aus einem Patent vorsehen, sofern solche Ausnahmen nicht unangemessen im Widerspruch zur normalen Verwertung des Patents stehen und die berechtigten Interessen des Inhabers des Patents nicht unangemessen beeinträchtigen, wobei auch die berechtigten Interessen Dritter zu berücksichtigen sind.”
15. So sieht das TRIPS-Übereinkommen zwar keine ausdrücklichen Ausnahmen bezüglich der Verletzung von Rechten vor, wie etwa die im nationalen Recht gebräuchlichen Bestimmungen zum Ausschluss von Handlungen, die im privaten Bereich zu nichtgewerblichen Zwecken vorgenommen werden, oder von Handlungen zu Versuchszwecken, die sich auf den Gegenstand der Erfindung beziehen; doch kann davon ausgegangen werden, dass derartige Bestimmungen nach Artikel 30 TRIPS zulässig sind.
16. Wenn nun jeder EPÜ-Vertragsstaat aus Gründen der öffentlichen Gesundheit Verfahren zur therapeutischen Behandlung von Menschen oder Tieren von der Patentierbarkeit ausschließen will, so ist dies nach Artikel 27 (3) TRIPS zulässig und wird auch von Artikel 52 (4) EPÜ bezweckt. Dann muss es in allen EPÜ-Vertragsstaaten auch eine Vorschrift geben, die unter Verweis auf Artikel 52 (4) EPÜ, auf eine entsprechende nationale Rechtsvorschrift oder auf einen entsprechenden Rechtsgrundsatz zur Patentverletzung die üblichen Rechte (s. o. Artikel 28 TRIPS) des Patentinhabers so einschränkt, dass dieser es Dritten nicht verbieten kann, ein patentiertes Stoffgemisch oder ein durch ein patentiertes Verfahren hergestelltes Erzeugnis ohne seine Zustimmung für therapeutische Zwecke zu verwenden bzw. andere dazu zu veranlassen. Falls die Vertragsstaaten über derartige Vorschriften verfügen – was mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, da nur so verhindert werden kann, dass Ärzte, weil sie ein Stoffgemisch im Rahmen einer Therapie verordnet haben, oder Pflegekräfte, weil sie ein solches Stoffgemisch verabreicht haben, wegen Patentverletzung verklagt werden (wobei ein Patient, der das Stoffgemisch für eine solche Therapie selbst anwendet, wahrscheinlich bereits auf Grund einer Bestimmung zum Ausschluss von Handlungen geschützt wäre, die im privaten Bereich zu nichtgewerblichen Zwecken vorgenommen werden) – kann der Patentinhaber weder im Falle einer ersten noch im Falle einer weiteren medizinischen Indikation den Arzt oder die Pflegekraft verklagen, wohl aber Personen, die gewerbsmäßig mit der Bereitstellung (sei es durch Herstellung, Import oder Vermarktung) eines solchen Stoffgemisches für die weitere medizinische Verwendung befasst sind.
17. Die in der angefochtenen Entscheidung angeführte Begründung, dass die Freiheit des Arztes beeinträchtigt würde, zu verordnen, was er für sinnvoll erachtet, so dass gegen Artikel 52 (4) EPÜ verstoßen würde, lässt völlig außer Acht, warum die Große Beschwerdekammer in G 1/83 zu dem Schluss kam, dass es keinen Konflikt mit Artikel 52 (4) EPÜ gibt: weil nämlich dem Patentinhaber nur Rechtsmittel gegen den Hersteller oder den Händler des Stoffgemisches zur Verfügung stünden. Wenn es eine anerkannte (patentierte oder nicht mehr patentgeschützte) andere therapeutische Verwendung des Stoffgemisches gibt, wird der Patentinhaber Schwierigkeiten haben, einen Verletzer zu finden, den er verklagen kann, denn die konkurrierenden Hersteller und Händler würden es wirklich nur für die bestehende, keine Rechte verletzende Verwendung herstellen oder verkaufen, und ein Arzt, der es für die patentierte zweite medizinische Indikation verordnet, wäre auf der Grundlage der Annahmen zu nationalen Verletzungsvorschriften trotz patentgemäßen Verhaltens kein Patentverletzer. Etwaige Probleme hätte allenfalls der Inhaber des Patents auf die zweite medizinische Indikation, nicht aber der Arzt, die Pflegekraft oder der Patient.
Angefochtene Entscheidung
18. Aus diesen Gründen ist die Kammer in Anlehnung an die Entscheidung G 1/83 der Auffassung, dass ein Anspruch, der wie die vorliegenden unabhängigen Ansprüche 1 und 13 auf die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung gerichtet ist, einen Verstoß gegen Artikel 52 (4) EPÜ vermeidet, und zwar unabhängig davon, wie ausführlich diese therapeutische Anwendung darin beschrieben ist. Nachdem Artikel 16 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) Folgendes vorsieht: “Will eine Kammer von einer Auslegung oder Erläuterung des Übereinkommens, die in einer Stellungnahme oder Entscheidung der Großen Beschwerdekammer enthalten ist, abweichen, so befasst sie die Große Beschwerdekammer mit der Frage”, wäre die Kammer nicht befugt, die von der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer abweichende angefochtene Entscheidung aufrechtzuerhalten, ohne zuvor die Große Beschwerdekammer mit der Frage zu befassen.
19. In der angefochtenen Entscheidung wird die Zurückweisung der fraglichen Ansprüche gemäß Artikel 52 (4) EPÜ nicht auf die Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer selbst gestützt, obwohl die Anmelderin (nunmehr Beschwerdeführerin) sich auf diese Entscheidung berief, sondern es wird auf drei Beschwerdekammerentscheidungen verwiesen, nämlich auf T 317/95-3.3.2 vom 26. Februar 1999, T 56/97-3.3.2 vom 30. August 2001 und T 584/97-3.3.2 vom 5. Dezember 2001, wenngleich in der angefochtenen Entscheidung eingeräumt wird, dass die Kammer ihre Entscheidungen in diesen drei Fällen nicht mit Artikel 52 (4) EPÜ begründet hatte. Die jetzige Kammer ist auf zwei weitere Entscheidungen gestoßen, in denen ähnliche Ansichten über die Anwendung des Artikels 52 (4) EPÜ vertreten werden, nämlich T 4/98-3.3.2 vom 9. August 2001 (ABl. EPA 2002, 139) (insbesondere Nr. 8.1 der Entscheidungsgründe) und T 485/99-3.3.2 vom 29. April 2004. Nach Meinung der jetzigen Kammer entbehren die in diesen fünf Entscheidungen vertretenen Auffassungen zu Artikel 52 (4) EPÜ jeglicher Rechtsgrundlage im EPÜ und stehen im Widerspruch zur Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer; daher ist sie nicht bereit, sich diesen Auffassungen anzuschließen. Auch wenn es gemäß Artikel 15 (1) VOBK – “Hält es eine Kammer für notwendig, von einer Auslegung oder Erläuterung des Übereinkommens abzuweichen, die in einer früheren Entscheidung einer Kammer enthalten ist, so ist dies zu begründen, es sei denn, dass diese Begründung mit einer früheren Stellungnahme oder der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in Einklang steht. Der Präsident des Europäischen Patentamts wird hierüber unterrichtet.” – in Anbetracht der bestehenden Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer nicht unbedingt erforderlich wäre, diese fünf Entscheidungen zu behandeln, hält es die Kammer im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung für hilfreich, ausführlich auf diejenigen Aspekte der fünf Entscheidungen einzugehen, denen sie sich nicht anschließt.
Entscheidung T 317/95
20. Im Fall T 317/95 ging es um eine Beschwerde gegen eine Entscheidung der Einspruchsabteilung, die befunden hatte, dass der unabhängige Anspruch 1 für ein pharmazeutisches Erzeugnis und der unabhängige Anspruch 10 für eine zweite medizinische Verwendung neu seien und dass Anspruch 10 den Erfordernissen des Artikels 52 (4) EPÜ genüge, aber beide Ansprüche nicht erfinderisch seien. In der Begründung der Entscheidung T 317/95 heißt es:
“4.5. Bei der Prüfung, ob die in Anspruch 10 enthaltene Anweisung zur konkreten Gabe der beiden bekannten Arzneimittel (d. h. die vorgeschriebene Verabreichungsweise) für die Behandlung von Magen-Darm-Störungen als weitere medizinische Indikation gelten kann, sollte im Blick behalten werden, aus welchen Gründen die Große Beschwerdekammer Ansprüche auf eine zweite oder weitere medizinische Indikation analog zur Neuheitsfiktion für die erste medizinische Indikation in Artikel 54 (5) EPÜ zugelassen hat. Der Großen Beschwerdekammer zufolge wird mit dem Ausschluss medizinischer Behandlungen von der Patentierbarkeit in Artikel 52 (4) EPÜ bezweckt, die nicht-kommerziellen und nicht-industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Human- und Veterinärmedizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten. Damit sich die Ausnahmeregel in Artikel 52 (4) EPÜ nicht über ihren Zweck hinaus auswirke, erscheine es angebracht, den Begriff des Stands der Technik bei zweiten und weiteren medizinischen Indikationen in besonderer Weise zu sehen. Mit der Zulassung von Ansprüchen, die auf eine weitere medizinische Indikation gerichtet waren, wollte die Große Beschwerdekammer offenbar einen gewissen Ausgleich für die sich aus Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ ergebende Beschränkung des Patentschutzes für den industriellen und kommerziellen Bereich schaffen (s. G 1/83, insbesondere Nr. 22 der Entscheidungsgründe).
Daher erscheint es bei der Bestimmung der möglichen Grenzen dessen, was tatsächlich als weitere medizinische Indikation (neue therapeutische Anwendung) im Sinne der Entscheidung G 1/83 gelten kann, angebracht zu prüfen, ob das einzige unterscheidende Merkmal, das in den auf eine weitere medizinische Verwendung gerichteten Anspruch eingeführt wurde, um den beanspruchten Gegenstand vom Stand der Technik abzugrenzen, nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeiten auf dem Gebiet der Medizin betrifft.
Die Kammer hat keinen Anlass, das Vorbringen der Beschwerdeführerin in Frage zu stellen, wonach auch die Pharmaindustrie daran arbeite, den Einsatz von Arzneimitteln durch die Suche nach der besten Verabreichungsweise zu optimieren, um eine maximale therapeutische Wirkung zu erzielen. Ungeachtet dessen scheint in erster Linie die Festlegung des optimalen individuellen Behandlungsplans und insbesondere das Verordnen der Verabreichungsweise eines bestimmten Arzneimittels sowie deren Änderung, um den besonderen Bedürfnissen eines Patienten gerecht zu werden, zu den typischen Tätigkeiten und Pflichten des behandelnden Arztes bei der Ausübung seiner Heilkunst zu gehören, d. h. der Heilung, Vorbeugung oder Linderung der Symptome von Leiden und Krankheit. Dies sind jedoch typische nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeiten auf dem Gebiet der Medizin, die Artikel 52 (4) EPÜ von patentrechtlichen Beschränkungen freihalten soll.
Jedenfalls war dem Arzt im vorliegenden Fall vor dem Prioritätstag des Streitpatents die Möglichkeit bekannt, Magen-Darm-Störungen mit der in Anspruch 10 beschriebenen besonderen Kombination von Arzneimitteln zu behandeln. Ebenso war er in der Lage, eine wirksame Verabreichungsweise zu verordnen, um jeden Patienten gemäß seinen individuellen Bedürfnissen zu behandeln (s. Entgegenhaltung 1/6, a. a. O.).
Angesichts dieser Ausführungen erscheint es der Kammer fraglich, ob das Merkmal im letzten Teilsatz des Anspruchs 10, das die Verordnung einer bestimmten Verabreichungsweise für eine prinzipiell bekannte medizinische Behandlung betrifft, genauer gesagt die gleichzeitige Verabreichung des Wismut enthaltenden Wirkstoffs und des H2-Rezeptorenblockers zur Behandlung von Magen-Darm-Störungen, tatsächlich als eine weitere medizinische Indikation betrachtet werden kann, von der auf der Grundlage der in der Entscheidung G 1/83 dargelegten Grundsätze Neuheit abgeleitet werden könnte.
Fraglich erscheint auch, ob es sich bei diesem Merkmal tatsächlich, wie von der Beschwerdeführerin behauptet, um eine medizinische Tätigkeit im industriellen und kommerziellen Bereich handelt, die nicht nach Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
4.6. Da der Hauptantrag ebenso wie die Hilfsanträge ohnehin aus den unter der Nummer 5 dargelegten Gründen zurückzuweisen sind, erübrigt sich eine Entscheidung über die Einwände mangelnder Neuheit und mangelnder Patentfähigkeit gemäß Artikel 52 (4) EPÜ, die von den Beschwerdegegnern gegen Anspruch 10 erhoben wurden.
21. Die Feststellung im letzten Satz der Nummer 4.5 Absatz 1 der Entscheidung T 317/95, der mit den Worten “Mit der Zulassung von Ansprüchen, die auf eine weitere medizinische Indikation gerichtet waren, wollte die Große Beschwerdekammer offenbar ” beginnt, verkennt die von der Großen Beschwerdekammer getroffene klare Unterscheidung zwischen einem nicht gewährbaren Anspruch auf die Verwendung eines Stoffes zur Behandlung einer medizinischen Indikation einerseits und gewährbaren Ansprüchen auf die Verwendung eines Stoffes zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung andererseits, also die Unterscheidung anhand des Gegenstands, auf den diese beiden Arten von Ansprüchen gerichtet sind. In beiden Fällen ist das neue und erfinderische Merkmal die neue Behandlung, doch erstreckt sich der gewährbare Anspruch nur auf die Herstellung des Stoffgemisches und nicht auf dessen Verwendung für therapeutische Zwecke. Unberücksichtigt bleibt in T 317/95 auch, dass die Große Beschwerdekammer zu ihren Schlussfolgerungen auf Grund des Wortlauts von Artikel 52 (4) EPÜ letzter Satz sowie von Artikel 54 (5) EPÜ gelangte, in dem ausdrücklich die Patentfähigkeit von Stoffen oder Stoffgemischen bestätigt wird, die zum Stand der Technik gehören, sofern sie zur Anwendung in einem der in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Verfahren bestimmt sind und diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört. In beiden Artikeln wird nicht unterschieden zwischen der Anwendung im Rahmen einer ersten medizinischen Indikation und der Anwendung im Rahmen einer weiteren medizinischen Indikation. Der Grund, warum Ansprüche auf die Verwendung eines Stoffes zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung einer weiteren medizinischen Indikation stärkeren Einschränkungen unterliegen müssen als entsprechende Ansprüche auf eine erste medizinische Indikation, ist die ex hypothesi bestehende erste medizinische Indikation und keine womöglich durch Artikel 52 (4) oder 54 (5) EPÜ vorgegebene Beschränkung.
22. Wenn die Kammer in Nummer 4.5 Absatz 2 der Entscheidung T 317/95 auf die Bestimmung der möglichen Grenzen dessen abhebt, was als weitere medizinische Indikation im Sinne der Entscheidung G 1/83 gelten kann, und es als angebracht bezeichnet, zu prüfen, ob das einzige unterscheidende Merkmal nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeiten auf dem Gebiet der Medizin betrifft, so geht sie damit einer Fragestellung nach, die sich bei Anlehnung an die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erübrigt hätte. So hatte die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass ein Patentinhaber im Falle einer neuen und erfinderischen therapeutischen Anwendung Patentschutz für die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels erlangen kann, das bei dieser Therapie angewandt werden soll, selbst wenn das einzige neue Merkmal in der Therapie besteht, die selbst eine nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeit auf dem Gebiet der Medizin ist.
23. In Nummer 4.5 Absatz 3 der Entscheidung T 317/95 werden als typische Tätigkeiten eines Arztes lediglich die Festlegung des optimalen individuellen Behandlungsplans und insbesondere das Verordnen der Verabreichungsweise eines bestimmten Arzneimittels sowie deren Änderung herausgegriffen, womit völlig außer Acht gelassen wird, dass zu den Aufgaben eines Arztes ebenso die Auswahl dieses bestimmten Arzneimittels gehört. Patienten wären sicherlich überrascht darüber, dass dies nicht in die Zuständigkeit ihres Arztes fallen sollte, denn wer sonst könnte diese wichtige Entscheidung treffen? Dennoch könnte die Herstellung des Arzneimittels patentiert werden, weil seine Zusammensetzung, seine therapeutische Anwendung zu einem bestimmten Zweck oder sein Herstellungsverfahren neu ist. Allerdings lässt das EPÜ (s. Nr. 1 der Entscheidungsformel der Großen Beschwerdekammer) nicht einmal dann einen Anspruch auf das Therapieverfahren selbst zu, damit der Arzt (ebenso wie das Pflegepersonal) in seinem eigenen Tätigkeitsfeld unbeeinträchtigt bleibt, während der Patentschutz für die Herstellung nicht dem ausgeschlossenen Bereich zugerechnet wird. Gerade heutzutage gehört es nicht zu den üblichen Tätigkeiten eines Arztes, seine eigenen Arzneimittel herzustellen; diese werden im Handel bezogen. Die Große Beschwerdekammer lässt in ihrer Entscheidung lediglich auf die Herstellung eines Arzneimittels für eine weitere medizinische Verwendung ein Patent zu. Der Patentinhaber kann ein solches Patent zwar gegen einen konkurrierenden Hersteller oder Händler durchsetzen, wenn er nachweist, dass das Arzneimittel zur Verwendung für die weitere medizinische Indikation hergestellt wurde; allerdings berechtigt das Patent seinen Inhaber ebenso wenig wie im Falle einer ersten medizinischen Indikation dazu, in den vom Patentschutz ausgeschlossenen Bereich der medizinischen Behandlung selbst einzugreifen.
24. Wie unter Nummer 4.6 Absatz 1 der Entscheidung T 317/95 deutlich festgestellt, wurde in dieser Sache nicht auf der Grundlage des Tatbestands der vorstehend erörterten mangelnden Patentfähigkeit gemäß Artikel 52 (4) EPÜ entschieden. Vielmehr beruhte die Entscheidung auf mangelnder erfinderischer Tätigkeit, also einem Rechtsgrund, der mit der Entscheidung G 1/83 in Einklang steht und gegen den die mit dem vorliegenden Fall befasste Kammer nichts einzuwenden gehabt hätte. Da jedoch die in T 317/95 vorgebrachten Nichtgründe, die sich auf Artikel 52 (4) EPÜ beziehen, in der angefochtenen Entscheidung herangezogen wurden und auch auf Seite 105 der “Rechtsprechung der Beschwerdekammern” (4. Auflage 2001) angeführt werden, galt es im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung, auf diesen Aspekt der Entscheidung einzugehen.
Entscheidung T 56/97
25. Die Entscheidung T 56/97 betrifft einen Fall, in dem die Einspruchsabteilung das Patent auf der Grundlage des auf eine zweite medizinische Verwendung gerichteten Anspruchs 1 in geänderter Form aufrechterhalten hatte. Die Passagen dieser Entscheidung, die nach Auffassung der jetzigen Kammer dem Artikel 52 (4) EPÜ und dem Tenor der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer zuwiderlaufen, sind in den Nummern 2.4 bis 2.6 der Entscheidung T 56/97 enthalten und lauten wie folgt:
“2.4 Angesichts der vorstehenden Überlegungen drängt sich die Frage auf, ob Anspruch 1 mit Artikel 52 (4) EPÜ in Einklang steht. Dieser Artikel schließt Arzneimittel und ihre Herstellung nicht vom Patentschutz aus, sondern soll gewährleisten, dass die konkrete Anwendung von Verfahren zur medizinischen Behandlung durch Ärzte an ihren Patienten nicht durch Ausschließungsrechte behindert oder eingeschränkt werden soll, die durch Patente verliehen werden. In ihrer Entscheidung G 1/83 (a a. O., s. insbesondere Nr. 22 der Entscheidungsgründe) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass der Zweck von Artikel 52 (4) EPÜ darin besteht, die nicht-kommerziellen und nicht-industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Human- und Veterinärmedizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten. Somit lautet im vorliegenden Fall die entscheidende Frage, ob Anspruch 1 auf ein Behandlungsverfahren oder aber auf einen für die Behandlung bereitgestellten Gegenstand gerichtet ist.
2.5. Zur Beantwortung dieser Frage muss die Kammer die Merkmale prüfen, die tatsächlich den Kern der beanspruchten angeblichen Erfindung bilden. Diese Merkmale betreffen die Verabreichung bekannter Arzneimittel, d. h. Thiazid-Diuretika, in einer bestimmten vorgeschriebenen Verabreichungsweise oder einer bestimmten Dosierungseinheit zur bekannten Behandlung der Hypertension, ohne zugleich eine effektive Diurese zu bewirken. Sie gehen auf die Entdeckung zurück, dass eine gezielt gewählte Behandlungsweise, die die vorherige Bestimmung des diuretisch wirksamen Dosierungsbereichs jedes verwendeten Thiazid-Diuretikums durch den Arzt erfordert (s. Beispiel 1), das gewünschte Ergebnis hervorbringt. Die im Einzelfall zu verabreichende Menge des Thiazid-Diuretikums wird dann ebenso wie Zeitpunkt und Zeitplan der Verabreichung auf herkömmliche Weise vom Arzt ausgewählt (s. Beispiel 1: Die Einheitsdosis wird in 4 bis 8 stündlichen Dosen ein bis zweimal täglich verabreicht).
Jedoch bedarf es zur Festlegung des optimalen individuellen Behandlungsplans und insbesondere zum Verordnen der Dosierungsweise eines bestimmten Arzneimittels sowie zu deren Änderung, um den besonderen Bedürfnissen eines Patienten gerecht zu werden und bei ihm das gewünschte Behandlungsergebnis zu bewirken, in erster Linie eines Arztes, der seine Heilkunst ausübt, d. h. die Heilung, Vorbeugung oder Linderung der Symptome von Leiden und Krankheit. Dies sind typische nicht-kommerzielle und nicht-industrielle Tätigkeiten auf dem Gebiet der Medizin, die Artikel 52 (4) EPÜ von patentrechtlichen Beschränkungen freihalten soll. Vor diesem Hintergrund fällt es der Kammer schwer, in Anspruch 1 etwas anderes als einen erfolglosen Versuch zu sehen, Patentschutz für ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers zu erlangen, indem auf die schweizerische Anspruchsform zurückgegriffen wird (s. auch T 317/95 vom 26. Februar 1999, nicht im ABl. EPA veröffentlicht).
2.6. Da der Hauptantrag der Beschwerdeführerin/Patentinhaberin ohnehin aus den nachstehend ausgeführten Gründen zurückzuweisen ist, erübrigt sich hier eine abschließende Entscheidung über die vorstehenden Fragen.”
26. Die jetzige Kammer ist schon mit der Darstellung der Entscheidung G 1/83 in Nummer 2.4 der Entscheidung T 56/97 nicht einverstanden. Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ, wonach Verfahren zur therapeutischen Behandlung nicht als Erfindungen gelten, wird durch Artikel 52 (4) Satz 2 EPÜ eingeschränkt, demzufolge dies nicht für Stoffe oder Stoffgemische zur Anwendung in derartigen Verfahren gilt. Dieser zweite Satz des Artikels 52 (4) EPÜ hat die Große Beschwerdekammer zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass ein Anspruch, der auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine therapeutische Anwendung gerichtet ist, nach den Bestimmungen des Artikel 52 (4) EPÜ insgesamt zulässig ist; dieser Aspekt bleibt in Nummer 2.4 der Entscheidung T 56/97 aber außer Betracht. Der letzte Satz der Nummer 2.4 – “Somit lautet im vorliegenden Fall die entscheidende Frage, ob Anspruch 1 auf ein Behandlungsverfahren oder aber auf einen für die Behandlung bereitgestellten Gegenstand gerichtet ist” – zeigt, dass in T 56/97 dem Tenor der Entscheidung G 1/83 nicht gefolgt wurde. Der strittige Anspruch in der Sache T 56/97 war in der in G 1/83 zugelassenen Form abgefasst und hätte deshalb als potenziell gewährbar behandelt werden sollen, weil er in den nach Artikel 52 (4) Satz 2 EPÜ zulässigen Bereich fällt und nicht in den nach Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ ausgeschlossenen Bereich. Gemäß G 1/83 besteht die entscheidende Frage also darin, ob das beabsichtigte Behandlungsverfahren, für das das Arzneimittel hergestellt wurde, neu und erfinderisch ist, und nicht in sonstigen Erwägungen im Zusammenhang mit Artikel 52 (4) EPÜ.
27. In Nummer 2.5 der Entscheidung T 56/97 wird die nach Ansicht der jetzigen Kammer falsche Sicht des Artikels 52 (4) EPÜ erneut deutlich; dort hebt die Kammer auf den unbestimmten Begriff der “Merkmale, die tatsächlich der Kern der beanspruchten angeblichen Erfindung bilden” ab, anstatt zu untersuchen, ob der Gegenstand des Anspruchs in der gewählten Formulierung nach Artikel 52 (4) EPÜ zulässig ist. Die in der Entscheidung T 56/97 angestellten Überlegungen über den Artikel 52 (4) EPÜ waren – wie aus deren Nummer 2.6 ersichtlich ist – überflüssig: Danach erging keine abschließende Entscheidung in dieser Frage, weil über den Fall auf der Grundlage mangelnder Neuheit bzw. des Verstoßes der verschiedenen Anträge gegen Artikel 123 (2) EPÜ abschließend entschieden wurde. Allerdings ist diese Feststellung, auch wenn sie für die damalige Entscheidung ohne Belang war, doch zu beanstanden, weil sie in späteren Fällen – so auch in der angefochtenen Entscheidung – Schwierigkeiten verursachte.
Entscheidung T 584/97
28. In der angefochtenen Entscheidung verwies die Prüfungsabteilung zur Stützung ihres Standpunkts auf Nummer 2.6 der Entscheidung T 584/97. Dort ging es um einen Anspruch folgenden Wortlauts:
“1. Verwendung von Nikotin zur Herstellung eines Kits mit getrennten Einheiten von Nikotin verschiedener Konzentration, so dass mindestens eine Einheit eine subtherapeutische Dosis Nikotin und mindestens eine Einheit eine therapeutische Dosis Nikotin zur Behandlung von Krankheitszuständen enthält, die auf eine Therapie mit Nikotin ansprechen, die die getrennte oder stufenweise Verabreichung zunehmender Dosen von Nikotin umfasst.”
29. Neben Nummer 2.6 der Entscheidung T 584/97 sind auch die Nummern 2.3 und 2.4 hinreichend relevant in Bezug auf Artikel 52 (4) EPÜ, um hier angeführt zu werden, während Nummer 2.5, in der es um “kit-of-parts”-Ansprüche geht, so stark vom Thema abweicht, dass sie nicht der Erörterung bedarf. Die Nummern 2.3, 2.4 und 2.6 der Entscheidung T 594/97 lauten wie folgt:
“2.3 Daher ist zu entscheiden, ob der Anspruch 1 des Streitpatents Merkmale enthält, die gegenüber der Offenbarung der Entgegenhaltung 1 als neu zu betrachten sind.
In diesem Zusammenhang stellt die Kammer fest, dass dieser Anspruch, wie von der Beschwerdeführerin betont, in der von der Großen Beschwerdekammer in G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) zugelassenen schweizerischen Anspruchsform abgefasst ist, um den Erfordernissen von Artikel 52 (4) EPÜ zu genügen.
Wenn also der Anspruch 1 mit der Offenbarung der Entgegenhaltung 1 verglichen werden soll, muss er entsprechend dieser Entscheidung ausgelegt werden.
Die richtige Auslegung dieses Verwendungsanspruchs lautet wie folgt:
“Verwendung eines Stoffes (Nikotin) zur Herstellung eines Arzneimittels (Kit mit subtherapeutischen und therapeutischen Einheiten) für eine therapeutische Anwendung (Behandlung von Krankheitszuständen, die auf eine Therapie mit Nikotin ansprechen, die die getrennte oder stufenweise Verabreichung zunehmender Dosen von Nikotin umfasst).”
Im Grunde genommen betrifft dieser Anspruch unabhängig von seinem Wortlaut, der durch die Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer vorgegeben ist, lediglich die Verwendung von Nikotin zur Behandlung von Krankheitszuständen, die auf eine Therapie mit Nikotin ansprechen.
Mit anderen Worten: Tatsächlich beansprucht wird hier die Verwendung von Nikotin zur Herstellung eines Arzneimittels, ohne dass von einer weiteren medizinischen Indikation die Rede ist. Wäre Nikotin nie zuvor in einem therapeutischen Zusammenhang offenbart worden, hätte ein solcher Gegenstand nach Artikel 54 (5) als Arzneimittel (erste medizinische Indikation) beansprucht werden können. In Anbetracht der Offenbarung der Entgegenhaltung 1 war dies hier jedoch nicht möglich, so dass sich die Beschwerdeführerin gegen diese Anspruchsform entschieden hat.
So hat die Beschwerdeführerin ihren Anspruch in der Form abgefasst, die von der Großen Beschwerdekammer nahe gelegt wurde, als sie sich insbesondere mit der so genannten zweiten medizinischen Indikation (s. G 1/83, Nr. 9 der Entscheidungsgründe, ABl. EPA 1985, 60) befasste, d. h. mit Fällen, in denen sich das sich aus der beanspruchten Verwendung ergebende Arzneimittel in keiner Weise von einem bekannten Arzneimittel unterscheidet.
Sofern das Arzneimittel für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung vorgesehen ist, gestand die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung zu, dass “die erforderliche Neuheit des Arzneimittels, das Gegenstand des [auf eine zweite medizinische Verwendung gerichteten] Patentanspruchs ist, von der neuen pharmazeutischen Verwendung abgeleitet wird” (G 1/83, Nrn. 21 bis 23 der Entscheidungsgründe).
Im vorliegenden Fall ist keine derartige neue pharmazeutische Verwendung gegenüber der Entgegenhaltung 1 zu erkennen.
Auch bei Heranziehung der Beschreibung oder der abhängigen Ansprüche des Streitpatents, in denen bestimmte Krankheiten genannt werden (z. B. Alzheimer-Krankheit in Anspruch 6, Colitis ulcerosa in Anspruch 7), zeigt sich, dass diese Indikationen bereits in der Entgegenhaltung 1 offenbart sind. Zudem hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zwar dahingehend argumentiert, aber keinen Versuch unternommen, Anspruch 1 entsprechend zu ändern.
2.4 Im Übrigen wurde der Begriff der zweiten medizinischen Indikation in der späteren Rechtsprechung der Beschwerdekammern auf bestimmte Sachverhalte erweitert; so kann u. a. die Behandlung derselben Krankheit mit demselben Stoff als neue therapeutische Anwendung gelten, wenn sie an einer neuen Gruppe von Subjekten vorgenommen wird, die sich von der früheren Gruppe unterscheidet (z. B. T 19/86, ABl. EPA 1989, 24).
In der Verhandlung wies die Beschwerdeführerin auf das Ausbleiben von Nebenwirkungen hin, das die Therapie gemäß Anspruch 1 des Streitpatents erreiche. Dazu stellt die Kammer stellt fest, dass diese Wirkung hauptsächlich erzielt wird, wenn die zu behandelnden Patienten im Wesentlichen Nichtraucher sind, bei denen das Problem der mit der Verabreichung von Nikotin verbundenen Toxizität auftritt. Anspruch 1 ist jedoch nicht auf eine solche Gruppe von Subjekten beschränkt. Daher kann dieser Aspekt bei der Prüfung der Neuheit des Anspruchs 1 nicht berücksichtigt werden.
2.6 Zutreffend ist auch, dass die Entgegenhaltung 1 die konkrete Verabreichungsweise nach dem Streitpatent nicht offenbart, bei der zunehmende Dosen von Nikotin von subtherapeutischen bis zu therapeutischen Dosen verabreicht werden.
Wie bereits angeführt, soll mit der Verabreichungsweise u. a. eine Toleranz aufgebaut werden, um die mit der Verabreichung von Nikotin an Nichtraucher verbundene Toxizität abzumildern. Entgegen der nicht belegten Behauptungen der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung kann die Kammer nicht gelten lassen, dass diese Wirkung beim gesamten Patientenspektrum und insbesondere bei starken Rauchern erzielt wird.
Fraglich erscheint auch, ob es sich bei diesem Merkmal tatsächlich um eine medizinische Tätigkeit im industriellen und kommerziellen Bereich handelt, die nicht nach Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
Dieses Merkmal des Anspruchs, das lediglich die Verordnung einer bestimmten Verabreichungsweise für prinzipiell bekannte medizinische Behandlungen betrifft, kann jedoch nicht als eine weitere medizinische Indikation betrachtet werden, von der auf der Grundlage der in der Entscheidung G 1/83 dargelegten Grundsätze Neuheit abgeleitet werden könnte (s. Nr. 2.2).
Vor diesem Hintergrund gelangt die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 den Erfordernissen der Neuheit nach Artikel 54 EPÜ nicht genügt.
Damit ist es nicht erforderlich, auf den Gegenstand der übrigen Ansprüche oder auf die anderen Einspruchsgründe einzugehen.”
30. In der Entscheidung T 584/97 wird zwar ausdrücklich der Schluss gezogen, dass der Gegenstand von Anspruch 1 nicht den Erfordernissen der Neuheit genügt; allerdings geht nicht klar daraus hervor, ob dies daran liegt, dass die Behandlung mit zunehmenden Dosen von Nikotin nicht als neu erachtet wird, oder daran, dass sie aus nicht weiter erläuterten Gründen gemäß Artikel 52 (4) EPÜ oder möglicherweise Artikel 54 (5) EPÜ als Anspruchsmerkmal außer Betracht bleiben muss. Falls Letzteres zutrifft, steht die Entscheidung T 584/97 nach Auffassung der jetzigen Kammer im Widerspruch zu G 1/83, wonach die Neuheit der Therapie selbst zu prüfen ist. Des weiteren hält die Kammer die Umdeutung des Anspruchs in Nummer 2.3 der Entscheidungsgründe (vgl. die Feststellung: “Im Grunde genommen betrifft dieser Anspruch lediglich die Verwendung von Nikotin zur Behandlung von Krankheitszuständen, die auf eine Therapie mit Nikotin ansprechen ”), die den eigentlichen Wortlaut und Gegenstand des Anspruchs außer Acht lässt, für ein Vorgehen, das jeder Grundlage im EPÜ entbehrt, da insbesondere die Artikel 84 und 113 (2) EPÜ vorsehen, dass der Anspruch und sein Gegenstand in der vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegten Fassung zu prüfen sind.
Entscheidung T 4/98
31. In dem der Entscheidung T 4/98 (ABl. EPA 2002, 139) zu Grunde liegenden Fall hatte die Einspruchsabteilung das Patent auf der Grundlage eines geänderten Anspruchs 1 aufrechterhalten, der wie folgt lautet:
“Verwendung einer Liposomenzusammensetzung, mit der die Wirksamkeit eines therapeutischen Mittels, das in einer therapeutisch wirksamen Menge intravenös verabreicht werden kann und in freier Form mit einer Halbwertzeit von weniger als ca. 4 Stunden aus der Blutbahn eliminiert wird, auf mindestens 24 Stunden verlängert werden kann und die Liposomen, die (i) aus vesikelbildenden Lipiden und zu 1 – 20 Molprozent aus einem mit einem Polyethylenglykol derivatisierten vesikelbildenden Lipid bestehen und (ii) einen ausgewählten durchschnittlichen Teilchendurchmesser im Größenbereich von ca. 0,1 bis 0,4 mym aufweisen, und das Mittel in liposomal verkapselter Form umfasst, zur Herstellung eines Stoffgemischs für die intravenöse Verabreichung, wobei die Dosis der Zusammensetzung eine Menge des liposomal verkapselten Mittels enthält, die mindestens dreimal so hoch ist wie die therapeutisch wirksame Menge.”
32. In T 4/98 wurde entschieden, dass der Anspruch 1 nicht als neuer, auf eine zweite medizinische Verwendung gerichteter Anspruch gelten kann (s. die nachstehend angeführte Nr. 8.1 der Entscheidungsgründe), wohl aber als neuer Verfahrensanspruch, der auf die Herstellung einer Liposomenzusammensetzung gerichtet ist (Nrn. 8.2 bis 10.3 der Entscheidung T 4/98). Für den vorliegenden Fall sind nur die Nummern 8.1 und 8.2 von Belang, die wie folgt lauten:
“8.1 Die Begriffe “Therapie” oder “therapeutische Anwendung” schließen nach allgemeinem Verständnis die Behandlung einer konkreten Krankheit mit einem bestimmten chemischen Stoff oder Stoffgemisch bei einem bestimmten menschlichen oder tierischen Individuum ein, das dieser Behandlung bedarf. Im Vergleich dazu lässt das Merkmal der “Dreifach- bzw. Zehnfachdosis” jegliche Angaben zumindest darüber vermissen, (i) welche Krankheit behandelt oder welchen Beschwerden abgeholfen werden soll, (ii) welcher Art das für die Behandlung oder Heilung der Krankheit eingesetzte therapeutische Mittel ist und (iii) welches Individuum behandelt werden soll. Wenn keiner dieser Parameter (i) bis (iii) feststeht, bezieht sich das Merkmal der “Dreifach- bzw. Zehnfachdosis” auf die intravenöse bzw. subkutane Verabreichung eines unbestimmten von einer Liposomenhülle umschlossenen therapeutischen Mittels in einer Menge, die mindestens dem Dreifachen bzw. Zehnfachen der therapeutisch wirksamen Menge dieses unbestimmten therapeutischen Mittels entspricht, zur Behandlung einer unbestimmten Krankheit bei einem nicht näher bezeichneten Patienten oder anderen menschlichen oder tierischen Individuum. Vor diesem Hintergrund erschließt sich der Kammer nicht, wie dieses Merkmal als Angabe einer bestimmten Behandlungsmethode oder therapeutischen Anwendung im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ verstanden werden könnte. Nach Maßgabe der in G 1/83 aufgestellten Grundsätze (s. insbesondere Ende der Ausführungen unter Nr. 21 der Entscheidungsgründe) und der umfassenden Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu dieser Frage (s. beispielsweise “Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts”, 3. Auflage, 1998, I. C. 6.2, S. 110 – 116) kann das Konzept der “zweiten (weiteren) medizinischen Verwendung” nur auf Ansprüche angewendet werden, die sich auf die Verwendung eines Stoffs oder Stoffgemischs (hier: der durch die Ansprüche definierten Liposomenzusammensetzungen) zur Herstellung eines Arzneimittels beziehen, das zur Anwendung in einem in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Verfahren bestimmt ist. Aus den vorstehenden Gründen ist dies hier eindeutig nicht der Fall.
8.2 Ausgehend von den obigen Überlegungen ist der Gegenstand der fraglichen unabhängigen Ansprüche somit als nichttherapeutische technische Tätigkeit (Verfahren) zu interpretieren. Das Merkmal der “Dreifach- bzw. Zehnfachdosis” kann dann nur als eines der Verfahrensmerkmale verstanden werden, die das beanspruchte Verfahren kennzeichnen.”
33. In Nummer 8.1 Satz 1 der Entscheidung T 4/98 heißt es, dass eine Therapie etwas einschließt, das drei Kriterien entspricht, und in Satz 2 werden diese Kriterien genauer definiert. Mit Nummer 8.1 Satz 4 der Entscheidung T 4/98 wird dann offenbar ausgeschlossen, dass etwas, das diesen drei Kriterien nicht entspricht, als therapeutische Anwendung im Sinne des Artikel 52 (4) EPÜ betrachtet werden kann. Die genannten drei Kriterien entbehren jeder Grundlage im Wortlaut des EPÜ und erscheinen als Ausschlussdefinition des Begriffs “Therapie” recht willkürlich. Der jetzigen Kammer ist nicht klar, ob alle drei Kriterien zugleich erfüllt sein müssen oder ob die Erfüllung eines dieser Kriterien ausreicht (Letzteres legt der abweichend formulierte Leitsatz nahe).
34. Die Kammer hält jeden Versuch, den Begriff “Therapie” anhand bestimmter genauer Kriterien zu definieren, für müßig, da dies nach dem EPÜ nicht erforderlich ist und dazu ohne Anhaltspunkte im EPÜ kein allgemeiner Konsens erzielt werden kann; daher versucht sich die Kammer auch nicht an einer eigenen Definition. Der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer kann gefolgt werden, ohne dass es dazu einer genauen Definition der Therapie bedarf. Wie unter Nummer 7 der vorliegenden Entscheidung festgestellt, wurde die Formulierung “bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung” in Nummer 2 der Entscheidungsformel von G 1/83 lediglich in Abgrenzung zu der im Falle einer ersten therapeutischen Indikation zulässigen unbestimmten Therapie verwendet. Zur Unterscheidung von einer solchen ersten medizinischen Indikation muss die weitere medizinische Indikation im Anspruch mit einem gewissen Grad an Genauigkeit beschrieben sein. Jegliche Beschränkung der zulässigen Anspruchsbreite wäre jedoch in erster Linie anhand der Bestimmungen des Artikels 82 EPÜ über die Einheitlichkeit der Erfindung zu prüfen, da es für eine weitere medizinische Indikation außer der Therapie selbst, die ja bereits im Rahmen der vorgeschlagenen Verwendung für eine erste medizinische Indikation offenbart wurde, eine allgemeine erfinderische Idee geben muss. Wenn der Anspruchsgegenstand – wie bei der zulässigen schweizerischen Anspruchsform – das durch Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ ausgeschlossene Verfahren zur therapeutischen Behandlung umgeht, muss nicht weiter geprüft werden, ob diese Bestimmung beachtet wurde, und es darf daraus erst recht keine Beschränkung der Anspruchsbreite resultieren.
35. Hätte der Gesetzgeber beabsichtigt, dass die Herstellung eines Stoffgemisches zur Verwendung in einem weiteren therapeutischen Verfahren zwar patentierbar sein soll, die Ansprüche jedes einzelnen Patents aber besonderen Genauigkeitskriterien genügen müssten, dann hätte Artikel 82 EPÜ über die Einheitlichkeit der Erfindung als die einschlägige Rechtsvorschrift geändert werden müssen. Nach Auffassung der Kammer könnten nur präzise Definitionen durch den Gesetzgeber den erforderlichen allgemeinen Konsens herbeiführen, damit die Frage, wie genau die Ansprüche bestimmt sein müssen, um patentierbar zu sein, von einer Instanz des Europäischen Patentamts entschieden werden kann.
36. Nach Auffassung der Kammer gibt es hier keine Grauzone: Entweder ist ein Verfahren zur Verwendung eines Stoffgemisches keine therapeutische Behandlung, fällt somit nicht unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ und ist daher patentierbar, sofern es den übrigen Bestimmungen des EPÜ genügt, oder ein Verfahren ist eine therapeutische Behandlung, fällt damit unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ und ist also nicht an sich patentierbar; patentiert werden kann jedoch die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels, das im Rahmen einer solchen therapeutischen Behandlung angewandt wird, und zwar für eine unbestimmte Therapie als erste medizinische Indikation oder für eine bestimmte Therapie als weitere medizinische Indikation, sofern wiederum die übrigen Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind, insbesondere Neuheit und erfinderische Tätigkeit.
37. Folgt man der in Nummer 8.1 der Entscheidung T 4/98 vertretenen Auffassung, so stellt sich sogar die Frage, ob ein Verfahren zur quasi-therapeutischen Behandlung, das nicht mit der dort geforderten Genauigkeit dargelegt wurde und daher nicht als therapeutisches Verfahren gilt, dann als solches beansprucht werden könnte – nämlich als ein Verfahren, das nicht unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ fällt. Eine mögliche Analogie dazu könnte in der Entscheidung G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) gesehen werden, in der es um Ansprüche ging, die Pflanzensorten umfassen, aber nicht individuell angeben. Die jetzige Kammer hält einen solchen Schluss nicht für angebracht, da sie keine Analogie zwischen dem Ausschluss nach Artikel 53 b) EPÜ zur Verhinderung von Überschneidungen mit dem Sortenschutz für Pflanzen und der Vorschrift in Artikel 52 (4) EPÜ zur Verhinderung der Erteilung von Patenten für therapeutische Verfahren erkennt, und sieht dies als weiteren Grund, sich nicht den unter Nummer 8.1 der Entscheidung T 4/98 vertretenen Ansichten über die Bedeutung des Begriffs “Therapie” anzuschließen.
Entscheidung T 485/99
38. Diese Entscheidung betrifft die Verwendung eines bestimmten Stoffgemisches zur Herstellung einer immunstimulierenden präoperativen Kost zur postoperativen Stimulierung des Immunsystems von Operationspatienten. Die Prüfungsabteilung hatte den Anspruch wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit in Bezug auf eine Druckschrift zurückgewiesen, während die mit dem Fall befasste Beschwerdekammer die Sache an die erste Instanz zurückverwies, die die Neuheit eines leicht geänderten Anspruchs gegenüber einer weiteren, im Prüfungsverfahren bereits berücksichtigten Druckschrift prüfen sollte. Die Passage dieser Entscheidung, die hier kommentiert werden soll, lautet wie folgt:
“3.6. Was den Wortlaut des Anspruchs 1 anbelangt, so ist das einzige verbleibende Merkmal gegenüber der Druckschrift 1 die präoperative Aufnahme der Kost.
Deshalb ist zu untersuchen, ob sich die im Anspruch, der auch die postoperative Immunstimulierung nennt, angegebene präoperative Therapie von der in der Druckschrift 1 offenbarten Therapie durch eine andere medizinische (physiologische) Wirkung unterscheidet, die durch diese präoperative Verabreichung bedingt ist, und ob sie somit ein funktionelles Merkmal umfasst, das zu der therapeutischen Indikation im Sinne der Entscheidung G 1/83 führt, oder nicht.
Wenn nicht, könnte die auf diese Weise definierte Verwendung die ärztliche Behandlungsfreiheit einschränken (s. T 56/97, nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nrn. 2 – 2.5 der Entscheidungsgründe). Die prä- oder postoperative Verabreichung der Kost wäre dann ein Verfahren zur Behandlung des menschlichen Körpers und könnte somit nach Artikel 52 (4) EPÜ nicht als patentierbare Erfindung gelten.”
Die Kammer ist mit der Rechtsaussage in der angeführten Nummer 3.6 insofern nicht einverstanden, als damit die unter den Nummern 2.4 und 2.5 der Entscheidung T 56/97 vertretene Rechtsauffassung übernommen und bestätigt wird, die die Kammer aus den vorstehend unter den Nummern 26 und 27 dargelegten Gründen nicht teilt. In der Sache T 485/99 scheint dies zu einer Zurückverweisung zur Prüfung der Neuheit geführt zu haben, während die jetzige Kammer die Angelegenheit eher als eine Frage der erfinderischen Tätigkeit angesehen hätte, da die präoperative Immunstimulierung anerkanntermaßen nicht offenbart gewesen war.
40. Die jetzige Kammer sieht in den fünf vorstehend erörterten Entscheidungen keinen Anlass, ihren unter den Nummern 7 und 11 zusammengefassten Standpunkt zu revidieren, der auf der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer basiert.
Sonstige Erwägungen
41. Auch wenn die Kammer nicht ohnehin der Auffassung wäre, dass der Wortlaut der Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ und die Entscheidung G 1/83 eine solche umfassende Gewährbarkeit von Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung voraussetzten, sondern von einer Wahlmöglichkeit zwischen einer breiten und einer engeren Auslegung dieser Bestimmungen des EPÜ ausginge, hielte sie doch eine breite Auslegung für angebracht, die nicht den Bereich einschränkt, in dem Neuheit vorliegen kann.
42. Wertvolle neue klinische Anwendungsbereiche können sich auf eine neu ermittelte Gruppe von Subjekten (Endnutzern oder Patienten) oder auf neue Mittel/Maßnahmen zur Ausübung der neuen Verwendung erstrecken, wie beispielsweise in der Entscheidung T 51/93 vom 8. Juni 1994 (neue physische Mittel/Maßnahmen zur subkutanen Anwendung und neue Endnutzer (Selbstverabreichung)), oder aber auf neue Gruppen von Patienten wie in den Entscheidungen T 19/86 (ABl. EPA 1989, 24), T 893/90 vom 22. Juli 1993, T 290/86 (ABl. EPA 1992, 414) und T 836/01 vom 7. Oktober 2003. So kann die Bereitstellung eines neuen Wirkungsmechanismus für ein bekanntes Stoffgemisch die Behandlung einer weiteren Gruppe von Subjekten mit diesem Stoffgemisch ermöglichen. In derartigen Fällen muss der Anspruch natürlich mit Bedacht formuliert werden, um ihn auf die Subjekte zu beschränken, für die die Therapie neu ist.
43. Die Kammer sieht keinen Grund, warum jemandem, der eine neue Therapie entwickelt, indem er nach der effektivsten Verabreichungsweise eines bekannten Stoffgemisches forscht, a priori jede Berechtigung selbst auf den begrenzten Patentschutz in Form der zweiten medizinischen Verwendung abgesprochen werden sollte, ohne dass geprüft wird, ob die Therapie neu und erfinderisch ist.
44. Der Lehrbuchautor Bertschinger stellte dazu Folgendes fest (Bertschinger/Münch/Geiser in Handbücher für die Anwaltspraxis, Band VI, Schweizerisches und europäisches Patentrecht, Helbing & Lichtenhahn, Basel 2002, S. 119, Rdnr. 4.73): “Der praktische Nutzen der Möglichkeit, eine “Zweitindikation” schützen zu lassen, ist nicht auf Fälle beschränkt, in welchen für einen bereits etablierten und bewährten Arzneimittelwirkstoff eine neue therapeutische Anwendungsmöglichkeit gefunden wird. Von mindestens gleich hohem Nutzen ist diese Möglichkeit in den nicht seltenen Fällen, in welchen für eine Substanz in der Literatur – zuweilen nur eher beiläufig – therapeutische Eigenschaften beschrieben worden sind, ohne dass diese Substanz deswegen Eingang in den Arzneimittelschatz gefunden hätte; stellt man nun fest, dass diese Substanz zusätzliche, in der Literatur noch nicht beschriebene und damit neue therapeutische Eigenschaften besitzt, auf Grund welcher sie zu einem wertvollen Arzneimittelwirkstoff entwickelt werden kann, dann stellt die so gefundene “erste wirklich brauchbare Indikation” (die “wahre Indikation”) im patentrechtlichen Sinne gleichwohl eine “Zweitindikation” dar; eine solche Erfindung könnte ohne die hier zur Diskussion stehende Schutzmöglichkeit nicht patentiert werden.”
45. Dieses Argument lässt sich auch auf den Fall übertragen, dass eine erstmals beschriebene oder gar experimentell überprüfte Verwendung gezeigt hat, dass der Stoff derart nachteilige Nebenwirkungen hat oder bei anhaltender Verabreichung zu einem so raschen Rückgang der Immunreaktion (Tachyphylaxie) führt, dass die bekannte Behandlung in der Praxis ungeeignet ist. Stößt dann jemand auf eine Verabreichungsweise, bei der diese Nachteile vermieden werden, so ist er möglicherweise tatsächlich der erste, der eine wirklich brauchbare Therapie bereitstellt, und sollte den Schutz genießen können, der für ein Stoffgemisch zur Verfügung steht, das zur Herstellung eines Arzneimittels für die Anwendung in dieser neuen Behandlung verwendet wird.
46. Wenn in der Rechtsprechung eine Grundlage dafür geschaffen wird, dass Prüfer eine Anmeldung, die einen Anspruch in der schweizerischen Form enthält, mit der vagen Begründung zurückweisen können, dieser beeinträchtige dennoch entgegen Artikel 52 (4) EPÜ die ärztliche Freiheit, ohne prüfen zu müssen, ob die Therapie neu und erfinderisch ist, wird dies weder den Bedürfnissen der Anmelder gerecht, noch nützt es den Patienten in irgendeiner Weise. Ärzte lassen sich in der täglichen Praxis wohl weniger aus Furcht vor einer Patentverletzung von der Anwendung neuer Therapieverfahren abhalten als aus Furcht davor, bei einem Misslingen von einem Patienten wegen eines ärztlichen Kunstfehlers belangt zu werden oder sogar ihre Zulassung zu verlieren. Ärzte haben die höchst verantwortungsvolle Aufgabe, ihre Patienten nach dem besten in der Fachwelt bekannten Verfahren zu behandeln, und je etablierter ein Verfahren ist, umso sicherer kann sich der Arzt des Erfolgs dieses Verfahrens sein. Jedoch muss das Wissen über die besten Verfahren irgendwie gewonnen werden: aus In-vitro-Tests, aus In-vivo-Tests an Zellen und Tieren und aus klinischen Versuchen unter besonders überwachten Bedingungen. All das muss finanziert werden. Die Erteilung von Patenten für eine zweite medizinische Verwendung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die erforderlichen Forschungsarbeiten durchführt. Entfällt die Möglichkeit, finanziellen Profit zu erzielen, so wird es wahrscheinlich weniger Forschung geben.
Befassung der Großen Beschwerdekammer
47. Artikel 112 EPÜ besagt Folgendes:
“(1) Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt,
a) befasst die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält. Weist die Beschwerdekammer den Antrag zurück, so hat sie die Zurückweisung in der Endentscheidung zu begründen;
b) kann der Präsident des Europäischen Patentamts der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorlegen, wenn zwei Beschwerdekammern über diese Frage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen haben.”
48. Die Frage, für welche Therapien ein gewährbarer Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung erhoben werden könnte, ist schon angesichts der Zahl der Fälle, in denen sie sich stellt, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Nach Auffassung der Kammer lässt sie sich aber auf der Grundlage der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer (und der sechs weiteren gleichzeitig entschiedenen Fälle) damit beantworten, dass es jede neue und erfinderische Therapie potenziell gestattet, ein bekanntes Stoffgemisch zu beanspruchen, das zur Herstellung eines Arzneimittels für die Anwendung in einer solchen Therapie verwendet wird, und zwar allgemein im Rahmen einer (unbestimmten) Therapie, wenn das Stoffgemisch nie zuvor im therapeutischen Zusammenhang vorgeschlagen wurde, oder aber im Rahmen einer bestimmten weiteren Therapie, wobei der Begriff “bestimmt” nur besagt, dass die Therapie so beschränkt wird, dass sie gegenüber der bekannten Therapie, bei der dieses Stoffgemisch verwendet wird, neu und erfinderisch ist.
49. Auf der Diplomatischen Konferenz zur Revision des Europäischen Patentübereinkommens im November 2000 wurde die Entscheidung G 1/83 explizit gebilligt, und es wurden Änderungen des Übereinkommens vereinbart, die ausdrücklich eine fundiertere Rechtsgrundlage für die dort gezogenen rechtlichen Schlüsse schaffen sollten. So wurde zusätzlich zu den beiden in Artikel 53 a) und b) EPÜ bereits genannten Ausnahmen von der Patentierbarkeit auch der bisher in Artikel 52 (4) EPÜ verankerte Ausschluss von Behandlungs- und Diagnostizierverfahren als Absatz c in Artikel 53 EPÜ aufgenommen, um klarzustellen, dass diese aus Gründen des öffentlichen Gesundheitswesens von der Patentierbarkeit ausgenommen sind und nicht, weil ihnen die gewerbliche Anwendbarkeit abgesprochen würde (s. Konferenzdokument CA/100/00, S. 41). Außerdem erhielt Artikel 54 EPÜ die beiden folgenden Absätze:
“54 (4) Gehören Stoffe oder Stoffgemische zum Stand der Technik, so wird ihre Patentierbarkeit durch die Absätze 2 und 3 nicht ausgeschlossen, sofern sie zur Anwendung in einem in Artikel 53 c) genannten Verfahren bestimmt sind und ihre Anwendung in einem dieser Verfahren nicht zum Stand der Technik gehört.
54 (5) Ebenso wenig wird die Patentierbarkeit der in Absatz 4 genannten Stoffe oder Stoffgemische zur spezifischen Anwendung in einem in Artikel 53 c) genannten Verfahren durch die Absätze 2 und 3 ausgeschlossen, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört.”
50. Die Gründe für die Aufnahme des neuen Artikels 54 (5) EPÜ sind in den Erläuterungen zum entsprechenden Vorschlag der schweizerischen Delegation (MR/18/00) wie folgt dargelegt:
“Der neue Artikel 54 (5) EPÜ beseitigt jegliche Rechtsunsicherheit betreffend die Patentierbarkeit von weiteren medizinischen Indikationen. Zweckgebundener Produkteschutz wird so unzweifelhaft für jede weitere medizinische Anwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches gewährt, der oder das als Arzneimittel schon bekannt ist. Der Schutzumfang der weiteren Anwendung entspricht demjenigen der “schweizerischen Anspruchsform”. Im Gegensatz zum bisherigen Artikel 54 (5) EPÜ, jetzt Artikel 54 (4) EPÜ, der einen breiten (generellen) Schutz betreffend die Anwendung in medizinischen Verfahren für den Erfinder einer solchen erstmaligen Anwendung gewährt, wird dieser Schutz im neuen Artikel 54 (5) EPÜ explizit auf eine bestimmte Anwendung[ ] beschränkt. Diese Beschränkung hat das Ziel, dass der Schutzbereich so weit möglich demjenigen entspricht, wie er durch die “schweizerische Anspruchsform” definiert wird.”
51. Nach Auffassung der Kammer wird der Begriff “spezifischen” im vorgeschlagenen Artikel 54 (5) EPÜ (bzw. “specific” und “spécifique” in der englischen und französischen Fassung) nur verwendet, um den Gegensatz zur unspezifischen Anwendung hervorzuheben, die in einem auf eine erste medizinische Verwendung gerichteten Anspruch zulässig ist, und nicht in dem Sinne, dass genaue Kriterien zu erfüllen wären, damit eine Anwendung im Rahmen einer Therapie als spezifisch gelten kann. Es muss also nur eine Beschränkung zur Unterscheidung von der therapeutischen Anwendung im Allgemeinen vorgenommen werden. Jede andere Sichtweise würde die nicht beantwortbare Frage aufwerfen, wie ausführlich die Verwendung in einem Therapieverfahren beschrieben sein müsste, um als “spezifisch” im Sinne des vorgeschlagenen Artikels 54 (5) EPÜ zu gelten. Die unter den Nummern 7 und 31 bis 34 vorgebrachten Argumente zum Begriff “bestimmte” in der Entscheidungsformel der Entscheidung G 1/83 der Großen Beschwerdekammer gelten nach Ansicht der Kammer auch für den vorgeschlagenen Artikel 54 (5) EPÜ, wo der dort verwendete Begriff “spezifischen” nicht enger ausgelegt werden soll. Für die Kammer ist es also nicht von Belang, dass im vorgeschlagenen Artikel 54 (5) EPÜ die Begriffe “spezifischen”, “specific” bzw. “spécifique” verwendet werden und nicht die in der Entscheidungsformel der Großen Beschwerdekammer in G 1/83 zur Beschreibung der zulässigen weiteren therapeutischen Anwendung gebrauchten, leicht abweichenden Begriffe “bestimmte”, “specified” bzw. “déterminée”.
52. Die Kammer vertritt die Rechtsansicht, dass die Rechtslage nach den vorgeschlagenen Änderungen des Europäischen Patentübereinkommens dieselbe bleibt wie nach der geltenden Fassung. Das voraussichtliche Inkrafttreten der geänderten Fassung in zwei bis drei Jahren ist ein gewichtiger Grund, der gegen die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage zum derzeitigen Wortlaut des EPÜ spricht. Zudem könnte eine solche Befassung selbst Unsicherheiten schüren und dazu führen, dass laufende Verfahren ausgesetzt werden, bis die Große Beschwerdekammer zu einer Fassung der Rechtsvorschriften Stellung genommen hat, die bald geändert wird.
Befassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung
53. Als weiterer Grund für die Befassung der Großen Beschwerdekammer könnte in Anbetracht der in den Entscheidungen T 317/95, T 56/97-3.3.2, T 584/97, T 4/98 und T 485/99 vertretenen Auffassungen über die durch Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossenen Gegenstände und die Behandlung der Neuheit weiterer medizinischer Anwendungen nach Artikel 54 (5) EPÜ in der geltenden Fassung die Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung in Betracht kommen. Die Kammer hält die dort dargelegten Ansichten für nicht vertretbar, wenn dem Tenor der Entscheidung G 1/83 über den geltenden Artikel 52 (4) EPÜ gefolgt wird, und erst recht nicht, wenn diese Bestimmung, wie vorgeschlagen, durch den neuen Artikel 53 c) EPÜ ersetzt wird.
54. Die in Nummer 8.1 der Entscheidung T 4/98 getroffene Feststellung, dass es genauer Angaben zur Therapie bedürfe, könnte sich darauf auswirken, welche Therapie als neu im Sinne des geltenden Artikels 54 (5) EPÜ angesehen werden kann, und angesichts des im vorgeschlagenen neuen Artikel 54 (5) EPÜ enthaltenen Hinweises auf eine spezifische Anwendung auch nach diesem Artikel eine Rolle spielen. Aus den unter den Nummern 7, 31 bis 34 und 48 dargelegten Gründen hält die Kammer die in der Entscheidung T 4/98 vertretene restriktive Haltung nicht für angebracht. Weder die Kammer noch der einzige Beteiligte am jetzigen Beschwerdeverfahren bringt für diese restriktive Haltung Verständnis auf oder hält sie für begründet. Eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer in dieser Sache sollte aber nur dann erfolgen, wenn ein Beteiligter, eine Kammer oder der Präsident nach Artikel 112 (1) b) EPÜ eine Auffassung für begründet hält und dies mit stichhaltigen Argumenten untermauert.
55. Die Kammer hat auch die Ausführungen in den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt (Dezember 2003) und insbesondere in Teil C Kapitel IV über Ansprüche zu Rate gezogen, die auf eine zweite medizinische Indikation gerichtet sind; darin werden jedoch keine Auffassungen vertreten, die sie nicht teilt. Keine der fünf vorstehend genannten Entscheidungen, mit deren Rechtsansichten zu Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ die Kammer nicht einverstanden ist, wird in den Richtlinien angeführt. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung könnten die Verfasser der Richtlinien also die Richtlinien ergänzen, wenn sie der vorliegenden Entscheidung zustimmen, oder gemäß Artikel 112 (1) b) EPÜ der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorlegen, falls sie zu einer Rechtsansicht neigen sollten, die in einer dieser Entscheidungen geäußert wird und zu der in der jetzigen Entscheidung dargelegten Auffassung im Widerspruch steht.
Entscheidungen nationaler Gerichte
56. Der Kammer sind die so genannten “Taxol”-Fälle in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich bekannt, in denen es um die Verletzung des europäischen Patents 584 001 geht, dessen Anspruch 1 wie folgt lautet:
“Verwendung von Taxol und medizinischen Zusätzen in ausreichender Menge, um ernsthaften anaphylaktischen Reaktionen vorzubeugen, zur Herstellung eines Arzneimittels zur gleichzeitigen, getrennten oder aufeinander folgenden Anwendung für die Verabreichung von 135 mg/m2 bis zu 175 mg/m2 Taxol über einen Zeitraum von etwa 3 Stunden oder weniger als ein Mittel zur Behandlung von Krebs und zur gleichzeitigen Reduzierung von Neutropenie.”
57. Damit die verschiedenen Positionen zur Rechtsgültigkeit des Patents miteinander verglichen werden können, sei zunächst erwähnt, dass dasselbe Patent auch Gegenstand eines Verfahrens vor dem EPA war, wobei im Anschluss an die nationalen Entscheidungen, auf die hingewiesen worden war, eine mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung stattfand. Mit ihrer Entscheidung, deren schriftliche Begründung am 16. Mai 2002 veröffentlicht wurde, widerrief die Einspruchsabteilung das Patent wegen mangelnder Neuheit gegenüber der vorherigen Veröffentlichung der vorläufigen Ergebnisse klinischer Versuche, die von der Patentinhaberin selbst finanziert worden waren. Beweise für diese vorherige Veröffentlichung hatten der Prüfungsabteilung, die das Patent erteilt hatte, nicht vorgelegen, standen jedoch in den nationalen Verfahren zur Verfügung. Im Interesse eines insgesamt effizienten und zügigen Verfahrens erachtete die Einspruchsabteilung es für angebracht, zur erfinderischen Tätigkeit in Form eines obiter dictum Stellung zu nehmen, und stellte fest, dass die beanspruchte Lösung auch dann nahe liegend sei, wenn das Merkmal der Reduzierung von Neutropenie als neues technisches Merkmal anerkannt worden wäre. Allerdings genüge der Anspruch den Erfordernissen von Artikel 52 (4) EPÜ. Die Patentinhaberin focht diese Entscheidung nicht an. Die jetzige Kammer weist darauf hin, dass sie bei dieser Sachlage dieselben Schlüsse gezogen und dieselbe Rechtsauffassung vertreten hätte wie die Einspruchsabteilung.
58. Der High Court of Justice des Vereinigten Königreichs entschied im Fall Bristol-Myers Squibb Company ./. Baker Norton Pharmaceuticals ([1999] R.P.C. 253), dass der Anspruch weder neu noch erfinderisch sei. Der damalige Richter am High Court, Justice Jacob, ließ nicht gelten, dass der Anspruch lediglich ein Behandlungsverfahren betreffe, sondern befand, dass er auf die Herstellung der Arzneimittel gerichtet sei, die bei dieser Behandlung angewandt würden, und somit nicht gegen Artikel 52 (4) EPÜ oder dessen Pendant im britischen Recht (s. Nrn. 50 und 51 der Entscheidung) verstoße. Die Einspruchsabteilung des EPA kam zum selben Ergebnis.
59. Im Berufungsverfahren stimmte der britische Court of Appeal ([2001] R.P.C. 1) dem Richter der Vorinstanz zwar darin zu, dass der Anspruch weder neu noch erfinderisch sei, widersprach ihm aber in Bezug auf Artikel 52 (4) EPÜ, da die drei Berufungsrichter der Auffassung waren, dass der Anspruch auf ein Verfahren zur Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet sei (s. Nrn. 54 – 63, 90 – 94 und 107 – 112) und somit gegen Artikel 4 des Patentgesetzes des Vereinigten Königreichs von 1997, das britische Pendant zu Artikel 52 (4) EPÜ, verstoße. In der Frage der Neuheit kamen sie zu dem Schluss, dass “die Neuheit nicht in der Anwendungsweise bestehen kann, sondern im neuen therapeutischen Zweck, für den der Stoff verwendet wird”. Auf dieser Grundlage wurde entschieden, dass mit dem Patent keine Erfindung beansprucht werde, die nach der Auslegung der Entscheidung G 1/83 (Bayer) durch den Court of Appeal im Sinne des Artikels 54 EPÜ neu sei (s. Nrn. 87 und 88, 2001 R.P.C., S. 27). Weiter wies der Court of Appeal darauf hin, dass die neue Verwendung mit der oder den bekannten Verwendung(en) nicht zusammenhängen dürfe, und führte als Beispiele für eine neue Verwendung die Bekämpfung einer anderen Krankheit oder die Vorbeugung anstelle der Heilung an (s. Nrn. 85 und 86). So wurde die Neuheitsfrage zwar auf die gleiche Weise beantwortet wie vom High Court und von der Einspruchsabteilung des EPA, doch wurde eine unterschiedliche Auffassung darüber vertreten, was rechtlich Neuheit begründen kann.
60. Im niederländischen “Taxol”-Fall wies das Berufungsgericht in Den Haag (s. Bristol-Myers Squibb ./. Yew Tree Pharmaceuticals [Niederlande] (2000) ENPR 26) die Berufung mit der Begründung ab, es bestehe tatsächlich die Möglichkeit, dass das Patent wegen unzureichender Offenbarung und mangelnder Neuheit zumindest teilweise widerrufen und für nichtig erklärt werde. Das Haager Bezirksgericht (s. Nr. 5 des Urteils des Berufungsgerichts) hatte die Klage aus einem anderen Grund abgewiesen, nämlich da durchaus die ernsthafte Möglichkeit bestehe, dass das Patent widerrufen werde, weil es auf ein Verfahren zur medizinischen Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet sei und eine Erteilung somit schwerlich mit Artikel 52 (4) EPÜ in Verbindung mit Artikel 52 (1) EPÜ vereinbar wäre. Das Berufungsgericht in Den Haag begründete seine Entscheidung nicht mit der ernsthaften Möglichkeit eines Verstoßes gegen Artikel 52 (4) EPÜ.
61. Der jetzigen Kammer sind keine späteren Fälle aus den Niederlanden bekannt, in denen es um Artikel 52 (4) EPÜ geht. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob in den Niederlanden die Ansicht vorherrscht, dass ein Anspruch in der schweizerischen Anspruchsform gegen Artikel 52 (4) EPÜ verstößt.
62. Was Deutschland anbelangt, so sei daran erinnert, dass in der Entscheidung G 1/83 (Bayer) nicht nur die schweizerische Anspruchsform anerkannt, sondern auch die Gewährung von Ansprüchen abgelehnt wurde, die auf die “Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers” gerichtet sind (zur Erörterung der deutschen Praxis s. Nr. 1 der Entscheidungsformel sowie Nr. 17 der Entscheidungsgründe und insbesondere die “Hydropyridin”-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH GRUR 83, 729 und ABl. EPA 1984, 26)). Damit folgte die Große Beschwerdekammer nicht der deutschen Praxis, wonach ein Anspruch in dieser Form zulässig war (und ist). Etwas vereinfacht lässt sich die deutsche Praxis so beschreiben, dass ein derartiger Anspruch gewährt wird und es bei Verletzungsklagen den Gerichten überlassen bleibt, den Anspruch nicht gegen Tätigkeiten durchzusetzen, die ausschließlich in einem nicht-kommerziellen Bereich ausgeführt werden, sondern lediglich gegen Herstellung und Bereitstellung, die erwiesenermaßen für die beanspruchte Verwendung erfolgen.
Erörterung der nationalen Entscheidungen
63. Die Rechtsauffassung des britischen Court of Appeal zu Artikel 52 (4) EPÜ und zur Neuheit, die ihm zufolge nicht in der Anwendungsweise bestehen kann, sowie sein Verständnis von G 1/83 unterscheiden sich von der Rechtsansicht der mit dem vorliegenden Fall befassten Kammer. Daher ist zu erörtern, ob diese unterschiedlichen Auffassungen die Vorlage einer Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer angebracht erscheinen lassen, wobei auch die Haltung in anderen Vertragsstaaten zu berücksichtigen ist.
64. Seit der Entscheidung G 1/83 sind die Beschwerdekammern der überwiegenden Ansicht, dass durch die Ansprüche der schweizerischen Form, die unmittelbar auf die Herstellung gerichtet sind, jeder Verstoß gegen Artikel 52 (4) EPÜ vermieden wird. Jedenfalls wurden unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung G 1/83 die sieben Beschwerden, die zu den Vorlagen geführt hatten, dahingehend entschieden, dass mit Ansprüchen in der schweizerischen Form auf Grund ihres Gegenstands ein Verstoß gegen Artikel 52 (4) EPÜ umgangen wird. Dieser Ansicht wurde später gefolgt, wenn auch möglicherweise nicht in den in der vorliegenden Entscheidung erörterten Fällen.
65. Bei der Prüfung der oben angeführten Entscheidung des britischen Court of Appeal hat die Kammer auch das britische Pendant zu Artikel 52 (4) EPÜ betrachtet, nämlich Artikel 4 des Patentgesetzes des Vereinigten Königreichs (PatG (UK)) von 1977, dessen einschlägige Passagen wie folgt lauten:
“4 (2 Die Erfindung eines Verfahrens zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers oder zur Diagnose am menschlichen oder tierischen Körper gilt als nicht gewerblich anwendbar.
4 (3) Vorstehender Abs. 2 schließt nicht aus, dass ein aus einem Stoff oder Stoffgemisch bestehendes Erzeugnis trotzdem als gewerblich anwendbar gilt, obwohl es zur Anwendung in einem solchen Verfahren erfunden wurde.”
66. Artikel 130 PatG (UK) 1977 mit Begriffsbestimmungen enthält zwar in Absatz 7 eine Erklärung, wonach die Bestimmungen u. a. von Artikel 4 des Gesetzes “ so abgefasst sind, dass sie so weit wie möglich die gleiche Wirkung im Vereinigten Königreich wie die entsprechenden Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens haben”, doch ist festzustellen, dass die Bestimmung des Artikels 52 (4) EPÜ erheblich von ihrem britischen Pendant abweicht, und die Kammer möchte anmerken, dass ihr ihre Auslegung des Artikels 52 (4) EPÜ und der Entscheidung G 1/83 wesentlich problematischer erschienen wäre, wenn Artikel 52 (4) EPÜ in allen Amtssprachen genau wie Artikel 4 (2) und (3) PatG (UK) 1977 abgefasst wäre. Allerdings kann der Wortlaut dieser Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs von der Kammer nicht bei der Auslegung des Europäischen Patentübereinkommens berücksichtigt werden.
67. Im Vereinigten Königreich steht die Stellungnahme des House of Lords zu den Artikeln 52 (4) und 54 (5) EPÜ noch aus. In der Sache Merck & Co Inc’s Patents, [2003] F.S.R. 298, folgte der damalige Richter, Justice Jacob, nur widerwillig der Entscheidung des britischen Court of Appeal; dies geht aus folgender Formulierung unter Nummer 80 der Entscheidung hervor:
“Ich gelange zu dem Schluss, dass der Anspruch im Wesentlichen auf ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet ist. Dies tue ich ungern, denn Patente sollen die Forschung anregen. Wenn neue und nicht nahe liegende verbesserte Verfahren zur Verabreichung bekannter Arzneimittel für bekannte Krankheiten grundsätzlich nicht patentierbar sind – und nicht einmal in der schweizerischen Anspruchsform -, dann ist der Anreiz geringer, solche Verfahren zu erforschen. Eine sehr enge Auslegung dieser Ausnahmeregelung, wonach ein Präparat, das in einem derartigen Verfahren angewandt wird, nur mittels des künstlichen Konstrukts der schweizerischen Anspruchsform geschützt werden kann, würde die Forschung anregen. Ich muss jedoch der im Fall “Bristol-Meyers” festgelegten aktuellen Praxis für die Auslegung der Ausnahmeregelung folgen.”
68. Da es in den Vertragsstaaten keine einheitliche Spruchpraxis zur Auslegung des Artikels 52 (4) EPÜ gibt, würde nach Meinung der jetzigen Kammer eine Abkehr von der in der Entscheidung G 1/83 geäußerten Auffassung, wonach Ansprüche in der schweizerischen Form dieser Vorschrift genügen, nicht zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung in Europa beitragen, aber von der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern abweichen. Die Kammer kann daher keinen sinnvollen Zweck darin erkennen, der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 EPÜ eine Rechtsfrage zu Artikel 52 (4) EPÜ vorzulegen.
69. Um die in der vorliegenden Entscheidung vertretene Auffassung der Kammer zur Neuheit und zu Artikel 52 (4) EPÜ verständlich zu machen, ist es vielleicht angebracht, die grundsätzlichen Überlegungen zu erläutern, von denen sich die Kammer leiten ließ, nämlich, dass es sich bei jeder Erfindung auf dem Gebiet der Pharmazie im Grunde genommen um ein neues Verfahren zur Anwendung eines Stoffgemisches in einer therapeutischen Behandlung handelt und dass erfinderische chemische Entwicklungen dabei nur eine Nebenrolle spielen. In einer ausreichend niedrigen Dosierung hat die Anwendung eines Stoffgemisches wahrscheinlich nur geringfügige positive oder negative Auswirkungen, während sie in zu hoher Dosierung zu schweren Schädigungen oder gar zum Tode führen kann. Jede Erfindung besteht in der Ermittlung einer Verwendung (einschließlich Dosierung und Anwendungsform), bei der zumindest manche Patiententypen einen Nutzen aus der Anwendung des Stoffgemisches ziehen. Es gibt allerdings keine Gewähr dafür, dass eine solche nützliche Verwendung existiert.
70. Wesentliches Mitglied einer Forschungsgruppe auf dem Gebiet der Pharmazie ist ein Arzt, der bestimmt, wann genügend Erkenntnisse vorliegen, um die Aufnahme der ersten klinischen Versuche zu beantragen, und der diese klinischen Versuche überwacht sowie die gewonnenen Informationen zusammenträgt, um zu ermitteln, innerhalb welcher Grenzen ein Stoffgemisch im Allgemeinen als sicher und wirksam gelten kann. Klinische Ärzte haben bei solchen Versuchen die besonders heikle Aufgabe, Daten zu erheben und zugleich im besten Interesse ihrer Patienten zu handeln, auch wenn dies den Abbruch des Versuchs bedeutet. Sobald ein Erzeugnis die Marktzulassung für bestimmte Verwendungen erhalten hat, wird ein Arzt es einem Patienten (wenn überhaupt) in der Regel in der Dosierung und Anwendungsform verordnen, die er innerhalb der vom Hersteller als sicher angegebenen Grenzen als angemessen erachtet.
71. Da die Vermarktung von Arzneimitteln in den Vertragsstaaten durch die zuständigen Aufsichtsbehörden, darunter die Europäische Arzneimittelagentur für die EU, streng geregelt ist, lässt sich bei den meisten Arzneimitteln feststellen, für welche therapeutische(n) Behandlung(en) sie vermarktet werden. Dies macht die Erteilung von Patentrechten in der schweizerischen Anspruchsform praktikabel, die gegen Personen durchgesetzt werden können, die nachweislich einen bekannten Stoff für eine bestimmte neue therapeutische Anwendung bereitstellen, nicht aber gegen Personen, die für diese Anwendung letztlich verantwortlich sind, nämlich die Ärzte. Nach Ansicht der Kammer wird durch Ansprüche in der schweizerischen Form, selbst wenn sie sich auf von einem Arzt ausgeführte Schritte beziehen, nicht die ärztliche Freiheit geschmälert, zum Wohle des Patienten zu handeln, sondern lediglich der Zweck beschränkt, zu dem ein Erzeugnis frei vermarktet werden kann. Würde diese ärztliche Freiheit das Recht umfassen, Stoffe aus jeglicher Quelle zu beziehen, dann würde sie bei dieser breiten Auslegung selbst der Erteilung von Patenten für neue Stoffe im Wege stehen.
72. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen legt die Kammer die Entscheidung G 1/83 so aus, dass darin Patentansprüche in der schweizerischen Form zugelassen werden, die auf die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet sind, deren Neuheit auch lediglich in der jeweiligen Dosierung oder in der Anwendungsweise bestehen kann. Die mit dem vorliegenden Fall befasste Kammer hat einen solchen Anspruch, bei dem nur die Anwendungsweise neu war, bereits vor elf Jahren in der Entscheidung T 51/93 vom 8. Juni 1994 gewährt. Die Erörterung weiterer medizinischer Indikationen in der Entscheidung G 1/83 betraf zwar die Anwendung zur Behandlung einer neuen Krankheit; nach Ansicht der Kammer ist dies aber lediglich ein Zeichen dafür, dass sich die meisten auf eine weitere medizinische Verwendung gerichteten Ansprüche auf neue Krankheiten beziehen, weil in solchen Fällen mit höherer Wahrscheinlichkeit Neuheit und erfinderische Tätigkeit vorliegen als bei einer geringfügigen Veränderung der bekannten Behandlung einer bestehenden Krankheit. Die der Entscheidung G 1/83 zu Grunde liegende Logik, wonach Ansprüche auf weitere medizinische Verwendungen bekannter Stoffgemische zulässig sind, erscheint auf jede Verwendung eines solchen bekannten Stoffgemisches für eine neue und erfinderische Behandlung, die auf Grund von Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ nicht als solche beansprucht werden kann, gleichermaßen anwendbar.
73. Eine gewisse Unlogik in der Entscheidung G 1/83, wo die Neuheit nach Artikel 54 (5) EPÜ ausgerechnet durch ein Merkmal begründet wird, das nach Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ nicht gewerblich anwendbar ist, wurde in G 1/83 dadurch abgemildert, dass dies als reine Fiktion behandelt wurde, die die ärztliche Freiheit (nicht aber die Vermarktungsfreiheit) gewährleisten soll, und wird mit dem Inkrafttreten des revidierten EPÜ hoffentlich für alle Vertragsstaaten beseitigt.
74. Auch wenn die jetzige Kammer die enge Sicht der Neuheit nicht teilt, hat sie doch untersucht, welche praktischen Auswirkungen es hätte, wenn die Neuheit nicht in der Anwendungsweise, sondern nur im therapeutischen Zweck bestehen könnte, zu dem der Stoff verwendet wird. Eine Zeit lang, bis die Anmelder Gegenmaßnahmen wie etwa die Aufnahme eines vagen Merkmals in den Anspruch ergreifen würden, das dem Stoffgemisch zumindest unter Umständen Neuheit verleihen könnte, wären dadurch wahrscheinlich die Prüfung und Zurückweisung von Anmeldungen auf diesem Gebiet erleichtert, da der Prüfer mangelnde Neuheit feststellen könnte, indem er einfach das Stoffgemisch und die zu behandelnde(n) Krankheit(en) betrachtete und alle anderen Merkmale des beanspruchten Verfahrens außer Acht ließe. Allerdings ist nicht immer leicht auszumachen, ob sich ein Anspruch tatsächlich auf die Behandlung einer gegenüber dem Stand der Technik neuen Krankheit bezieht, und in solchen Fällen ginge die Möglichkeit verloren, Neuheit gegenüber reinen “Papier”-Veröffentlichungen durch Angabe der möglichen Dosierungsspanne oder einer neuen Verabreichungsform herzustellen. Da schon in einem kurzen Dokument Milliarden von Stoffgemischen zur Behandlung Hunderter von Krankheiten angegeben sein können, wäre die Abgrenzung vom Stand der Technik bei einer so engen Sicht der Neuheit viel problematischer als heute.
75. Ein Wechsel zu diesem engen Neuheitsbegriff wäre nicht im Interesse der Arzneimittelforschung. Er würde wahrscheinlich dazu führen, dass das Wissen über die möglichst wirksame Anwendung von Arzneimitteln langsamer zunähme. Auch könnte es zu Preissenkungen kommen, wobei dies gar nicht sicher wäre, wenn die Marketing- und Forschungsausgaben lediglich auf Erzeugnisse verlagert würden, für die Patentschutz erlangt werden kann.
76. Außerdem würde ein solcher Neuheitsbegriff eine künstliche Anspruchsauslegung mit sich bringen. Sollte der Gesetzgeber eine derart enge Sichtweise beabsichtigen, müsste dies nach Meinung der Kammer durch eine entsprechende ausdrückliche Änderung des Europäischen Patentübereinkommens vorgegeben werden. Im Europäischen Patentsystem ist keine Bindewirkung von Präzedenzfällen vorgesehen; beispielsweise ist diese Entscheidung nur für die Prüfungsabteilung bindend, an die die Angelegenheit zurückverwiesen wird. Wenn eine Beschwerdekammer den Rückschritt hin zu einem engen Neuheitsbegriff unternehmen soll, müsste sie von dessen Notwendigkeit wirklich überzeugt sein und über sehr schlagkräftige Argumente verfügen, damit andere ihr folgen. Nichts davon trifft auf die jetzige Kammer zu.
77. In Anbetracht der Tatsache, dass in einigen Jahren Änderungen des EPÜ in Kraft treten, mit denen die Bestimmungen des Artikels 54 EPÜ über die Neuheit neu gefasst werden, plädiert die Kammer dafür, nicht die Große Beschwerdekammer mit der Rechtsfrage zu befassen, ob der enge Neuheitsbegriff auf den bestehenden Wortlaut des EPÜ angewandt werden soll, sondern lieber abzuwarten, ob ein europäischer Konsens in dieser Frage entsteht und ob der Gesetzgeber tätig werden möchte.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
78. Daher hält die Kammer eine Befassung der Großen Beschwerdekammer in diesem Fall nicht für angebracht, begründet aber ihre Ansicht eingehend, um zur Klärung der Sachlage beizutragen.
79. Auf Grund dieser Überlegungen kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Ansprüche 1 und 13 des Hauptantrags auf einen potenziell patentfähigen Gegenstand gerichtet sind und das Patentierungsverbot von Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ umgehen, und verweist die Angelegenheit an die erste Instanz zurück; diese soll die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit unter Berücksichtigung der Frage prüfen, ob das Therapieverfahren selbst in Anbetracht aller im Anspruch enthaltenen Verwendungsmerkmale neu und erfinderisch ist, und untersuchen, ob die unter Nummer 9 genannten weiteren Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage des am 3. November 1997 eingereichten Hauptantrags an die erste Instanz zurückverwiesen.