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European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2007:T043906.20070131
Datum der Entscheidung: 31 Januar 2007
Aktenzeichen: T 0439/06
Anmeldenummer: 96942546.1
IPC-Klasse: G06F 17/60
Verfahrenssprache: EN
Verteilung: A
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung:
Name des Anmelders: REUTERS LIMITED
Name des Einsprechenden: HSBC Bank plc et al.
Kammer: 3.5.01
Leitsatz: I. Gemäß Artikel 122 (1) EPÜ kann ein Patentinhaber nur dann wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden, wenn er alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hat. Die gebotene Sorgfalt hängt somit von den jeweiligen Umständen im Einzelfall ab. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die persönlichen Umstände der betreffenden Person, sondern auch die Art der einzuhaltenden Frist und die Rechtsfolgen einer Fristversäumung.
II. Die letzte Verantwortung trägt der Vertreter. Da eine Versäumung der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung schwerwiegende Rechtsfolgen nach sich zieht, erfordert es die gebotene Sorgfalt unter diesen Umständen, dass der Vertreter die von seiner Verwaltungsabteilung berechnete Frist noch einmal überprüft, wenn ihm die Akte zur Bearbeitung vorgelegt wird. Er kann sich nicht einfach darauf verlassen, dass er diese Aufgabe ein für alle Mal seiner Verwaltungsabteilung übertragen hat (s. Nummern 8 und 10 der Entscheidungsgründe).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 108
European Patent Convention 1973 Art 122
European Patent Convention 1973 R 65(1)
European Patent Convention 1973 R 78(2)
European Patent Convention 1973 R 83(2)
European Patent Convention 1973 R 83(4)
Schlagwörter: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (verneint)
Beachtung aller gebotenen Sorgfalt des Vertreters (verneint)
Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (verneint)
Orientierungssatz:

Angeführte Entscheidungen:
J 0005/80
T 0309/88
T 0043/96
T 0719/03
T 1401/05
T 1561/05
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0001/07
J 0002/07
J 0003/07
T 0178/07
T 0473/07
T 0592/11
T 1149/11
T 1663/12
T 1022/14

Sachverhalt und Anträge

I. Die Entscheidung über den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 873 549 (Anmeldenummer: 96 942 546.1) wurde am 30. Januar 2006 zur Post gegeben. Am 27. März 2006 legte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) unter Entrichtung der entsprechenden Gebühr Beschwerde ein.

II. Am 13. Juni 2006 wurde die Beschwerdebegründung zusammen mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingereicht. Die Wiedereinsetzungsgebühr wurde am selben Tag entrichtet. Als Beweismittel vorgelegt wurden u. a. Zeugenerklärungen des bevollmächtigten Vertreters der Beschwerdeführerin sowie von Herrn H., dem Leiter der Abteilung für Aktenverwaltung in der Kanzlei des Vertreters, sowie das Deckblatt der angefochtenen Entscheidung aus der Akte des Vertreters. Die Zeugenerklärungen wurden später in Form eidesstattlicher Versicherungen eingereicht. Die Antragsbegründung lässt sich wie folgt zusammenfassen:

III. In der Kanzlei des Vertreters würden Fristen in ein Computersystem namens COMUS eingegeben, das von mehreren britischen Patentanwaltskanzleien verwendet werde. Herr H. sei seit 18 Jahren für dieses Fristenüberwachungssystem verantwortlich. Zu seinen Aufgaben gehörten die Betreuung des Systems und die Beaufsichtigung mehrerer Angestellter zur Gewährleistung einer zuverlässigen Funktion des Systems. Als die mit der Beschwerde angefochtene Entscheidung vom 30. Januar 2006 eingegangen sei, habe Herr C., einer der für die Einträge im Fristenüberwachungssystem zuständigen Angestellten, dieses Datum in COMUS eingegeben. Das Programm habe daraufhin den 30. März 2006 als Frist für die Einlegung der Beschwerde und den 30. Mai 2006 als Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung errechnet. Herr C. habe diese Daten auf dem Deckblatt der Entscheidung vermerkt. Herr H. habe die Arbeit von Herrn C. gegengeprüft und festgestellt, dass Herr C. die “10-Tage-Regel” nicht angewendet hatte. Deshalb habe er die Daten auf der Entscheidung mit Korrekturflüssigkeit “gelöscht” und mit den falschen Daten 15. April 2006 und 15. Juni 2006 überschrieben. Anschließend habe er die entsprechenden Einträge in COMUS korrigiert. Infolgedessen seien in sämtlichen Erinnerungsschreiben an die Mandantin, den zuständigen Vertreter und andere Mitarbeiter die falschen Daten angegeben gewesen. Er wisse sehr wohl, wie die 10 Tage zu berechnen seien, und habe in seiner ganzen beruflichen Laufbahn noch nie eine Frist durch falsche Anwendung der 10-Tage-Regel versäumt. Im vorliegenden Fall habe er statt 10 Tagen 16 Tage hinzugerechnet, ihm sei jedoch unverständlich, wie und warum dies geschehen konnte.

IV. Der Vertreter erklärte, Herr H. sei der zuverlässigste, fähigste und gewissenhafteste Patentanwaltsangestellte, den er jemals getroffen habe. Dank seiner Erfahrung mit dem Computersystem COMUS und seiner Kenntnis der europäischen und anderer Patentverfahren sei er ein herausragender Mitarbeiter, dem er Routinetätigkeiten wie die Eingabe von Fristen samt etwaiger Anwendung der 10-Tage-Regel jederzeit anvertrauen könne. Am 12. Juni 2006 habe er als Vertreter schließlich eine E-Mail vom Vertreter der Einsprechenden erhalten, in der dieser sich erkundigt habe, ob eine Beschwerdebegründung eingereicht worden sei. Die Formulierung des Schreibens habe erkennen lassen, dass die Frist bereits abgelaufen gewesen sei. Erst zu diesem Zeitpunkt sei der Fehler bemerkt worden.

V. Der Vertreter führte des Weiteren aus, dass er und seine Kanzlei im Laufe der Jahre Hunderte von europäischen Patentanmeldungen, Einsprüchen und Beschwerden eingereicht hätten und mit der 10-Tage-Regel nach Regel 78 (2) EPÜ vertraut seien. In 20 Jahren Berufspraxis sei dies das erste Mal, dass er Wiedereinsetzung beantragen müsse. Der Fehler bei der Berechnung der Frist sei ein einmaliges Versehen in einem ansonsten zuverlässigen System.

VI. In Erwiderung auf eine der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügte Mitteilung der Kammer reichte die Beschwerdeführerin eine zweite eidesstattliche Versicherung ihres Vertreters ein, in der dieser die Organisation der Büroabläufe ausführlicher darstellt. In der mündlichen Verhandlung betonte die Beschwerdeführerin noch einmal, dass in der Kanzlei ein wirksames Fristenüberwachungssystem bestehe. Der Rechtsprechung zufolge müsse es zumindest in größeren Kanzleien einen Kontrollmechanismus geben. Es sei aber nicht vorgeschrieben, dass die Kontrolle vom zugelassenen Vertreter vorzunehmen sei. In J 5/80 sei bestätigt worden, dass Routinearbeiten wie die Überwachung von Fristen Hilfspersonen übertragen werden könnten. In einem solchen Fall bestehe die dem Vertreter auferlegte Sorgfaltspflicht darin, dass er eine für diese Tätigkeit entsprechend qualifizierte Person auswähle, dass er sie mit ihren Aufgaben vertraut mache und dass er die Ausführung ihrer Arbeiten in vernünftigem Umfang überwache. Sie erfordere aber nicht, dass er selbst die Fristen im Rahmen eines dritten Kontrollschritts erneut berechne. Wenn das System zufriedenstellend arbeite, dürfe sich der Vertreter darauf verlassen.

VII. Die Beschwerdeführerin machte ferner geltend, dass die Frist um nur 2 Werktage versäumt worden sei und die Kammer – zumindest wenn sie die Sache als Grenzfall ansehe – den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen müsse.

VIII. Die Beschwerdegegnerinnen (gemeinsamen Einsprechenden) brachten vor, der Vertreter der Beschwerdeführerin habe nicht alle gebotene Sorgfalt beachtet. Offensichtlich habe er die Fristen nicht überprüft, obwohl er mehrmals Gelegenheit gehabt hätte, die Fristenlage selbst einzuschätzen. Er habe seiner Mandantin die Entscheidung mit der falschen Angabe übermittelt, dass die Frist für die Einreichung der Beschwerdeschrift am 15. April 2006 ablaufe. Anscheinend habe er zur Angabe der Daten den handschriftlichen Vermerk auf der Entscheidung herangezogen. Auf der Entscheidung sei aber auch das eigentliche Entscheidungsdatum abgedruckt. Hätte er, wie es von einem seiner Sorgfaltspflicht nachkommenden zugelassenen Vertreter zu erwarten gewesen wäre, die handschriftlichen Daten mit dem Datumsaufdruck der Entscheidung verglichen, hätte er sofort festgestellt, dass die handschriftlich angegebenen Daten 15. April und 15. Juni 2006 nicht stimmen konnten. Bei der Einreichung der Beschwerdeschrift habe der Vertreter die Entscheidung noch einmal durchsehen müssen und hätte somit erneut Gelegenheit gehabt, die Fristen zu überprüfen. Im Gegensatz beispielsweise zur routinemäßigen Eintragung von Fristen für die Reaktion auf Amtsbescheide, für die gegebenenfalls eine Weiterbehandlung beantragt werden könne, sei die Eintragung der Frist für die Einlegung einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Widerruf eines europäischen Patents sowie der Beschwerdebegründungsfrist keine Routineaufgabe. Ein System, das keine Kontrolle durch den bevollmächtigten Vertreter vorsehe, könne nicht als zufriedenstellendes Überwachungssystem eingestuft werden.

IX. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer ihre Entscheidung.

Entscheidungsgründe

1. Nach Artikel 108 Satz 3 EPÜ ist die Beschwerde innerhalb von 4 Monaten nach Zustellung der Entscheidung schriftlich zu begründen. Im vorliegenden Fall ist diese Frist am 9. Juni 2006 abgelaufen (R. 78 (2), R. 83 (2), (4) EPÜ). Die Beschwerdebegründung ist unstreitig am 13. Juni 2006 eingegangen. Die Beschwerde ist daher gemäß Regel 65 (1) EPÜ als unzulässig zu verwerfen, sofern nicht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann.

2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entspricht den Formerfordernissen des Artikels 122 (2) und (3) EPÜ und ist daher zulässig. Das Hindernis ist am 12. Juni 2006 weggefallen, dem Tag, an dem der Vertreter der Beschwerdeführerin vom Vertreter der Einsprechenden eine E-Mail-Anfrage erhalten hat, ob eine Beschwerdebegründung eingereicht worden sei. Innerhalb von 2 Monaten ab diesem Datum, nämlich am 13. Juni 2006 wurde ein Wiedereinsetzungsantrag mit Begründung eingereicht, die Wiedereinsetzungsgebühr entrichtet und die versäumte Handlung, d. h. die Einreichung der Beschwerdebegründung, nachgeholt.

3. Der Inhaber eines europäischen Patents kann nach Artikel 122 (1) EPÜ nur dann wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden, wenn er trotz Beachtung aller nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt verhindert worden ist, eine Frist einzuhalten.

4. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern soll die Wiedereinsetzung sicherstellen, dass ein einmaliges Versehen in einem ansonsten gut funktionierenden System nicht schon zu einem endgültigen Rechtsverlust führt (s. Nachweise in “Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts”, 4. Auflage 2001, VI.E.5.1). In J 5/80 (ABl. EPA 1981, 343), einer der Grundsatzentscheidungen zur Sorgfaltspflicht, befand die Kammer, dass ein Vertreter Routinearbeiten, wozu das Notieren und Überwachen von Fristen im Regelfall zu rechnen ist, einer Hilfsperson übertragen kann. In einem solchen Fall werden an die Sorgfalt der Hilfsperson nicht die gleichen strengen Anforderungen wie an die des Vertreters gestellt (Leitsatz II). Außerdem wird nach ständiger Rechtsprechung (s. oben genannter Rechtsprechungsbericht, VI.E.5.1.2 c)) einer großen Kanzlei, in der eine beträchtliche Anzahl von Terminen überwacht werden muss, nur dann ein normalerweise gut funktionierendes System zugesprochen, wenn mindestens ein wirksamer Kontrollmechanismus in das System eingebaut ist.

5. Im vorliegenden Fall werden die Fristen in der Kanzlei des Vertreters von Angestellten überwacht, die die entsprechenden Daten in ein Computersystem eingeben und gleichzeitig auf dem Deckblatt der vom EPA übermittelten Entscheidung notieren. Ein zweiter Mitarbeiter kontrolliert die Angaben. Aus den vorgelegten Beweismitteln ergibt sich, dass die zwei involvierten Angestellten allem Anschein nach ausreichend qualifiziert waren. Den entscheidenden Fehler beging jedoch der Mitarbeiter, der als Zweiter die Kontrolle vornahm und bei der Anwendung von Regel 78 (2) EPÜ auf die Fristberechnung statt 10 Tagen 16 Tage hinzuzählte. Herr H. gibt in seiner eidesstattlichen Versicherung an, seines Wissens habe er in seiner gesamten 25-jährigen Berufspraxis noch niemals eine Frist durch falsche Anwendung der 10-Tage-Regel versäumt. Der Fehler könnte somit als einmaliges Versehen angesehen werden.

6. In J 5/80 entschied die Kammer jedoch darüber hinaus, dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Falle der Vertretung des Anmelders durch einen zugelassenen Vertreter nur dann gewährt werden kann, wenn auch der Vertreter die in Artikel 122 (1) EPÜ vom Anmelder oder Patentinhaber verlangte Sorgfalt beachtet hat (Leitsatz I). Es gilt also zu ermitteln, was das Sorgfaltsgebot von einem Vertreter verlangt, der die Fristüberwachung seinen Angestellten übertragen hat. In J 5/80 heißt es, dass dem Vertreter ein Fehlverhalten einer Hilfsperson bei der Ausführung von Routinearbeiten nur dann nicht angelastet wird, wenn er in Bezug auf diese Hilfsperson die vorgeschriebene Sorgfalt beachtet hat. Hierzu gehört, dass er eine für diese Tätigkeit entsprechend qualifizierte Person auswählt, dass er sie mit ihren Aufgaben vertraut macht und dass er die Ausführung ihrer Arbeiten in vernünftigem Umfang überwacht (Leitsatz III). Den vorgelegten Beweismitteln nach waren diese Bedingungen im vorliegenden Fall wohl erfüllt.

7. Die Erfüllung dieser Anforderungen bedeutet jedoch lediglich, dass der Fehler des Angestellten bei der Ausführung der ihm übertragenen Aufgabe nicht dem Vertreter zur Last gelegt werden kann. Es folgt daraus nicht, dass sich die Verantwortung des Vertreters in der richtigen Auswahl, Unterweisung und Überwachung des Angestellten erschöpft und sich jede weitere Sorgfalt in Bezug auf die delegierte Aufgabe erübrigt.

8. Gemäß Artikel 122 (1) EPÜ kann ein Patentinhaber nur dann wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden, wenn er alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hat. Die gebotene Sorgfalt hängt somit von den jeweiligen Umständen im Einzelfall ab. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die persönlichen Umstände der betreffenden Person, sondern auch die Art der einzuhaltenden Frist und die Rechtsfolgen einer Fristversäumung. Aus dem Übereinkommen ergibt sich eindeutig, dass nicht alle Fristen die gleiche Aufmerksamkeit verlangen. Wenn eine Weiterbehandlung möglich ist, mag es ausreichend sein, die Überwachung der entsprechenden Frist vollständig den Angestellten zu überlassen, da kein unwiderruflicher Rechtsverlust droht. Die in Artikel 108 EPÜ festgelegten Fristen für die Einlegung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung über den Widerruf eines Patents sind dagegen höchst kritisch, da es im Falle einer Versäumung beim Widerruf bleibt und es kein weiteres ordentliches Rechtsmittel gibt. Sie verlangen daher besonderes Augenmerk.

9. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass nach der bisherigen Rechtsprechung beim Notieren von Fristen lediglich eine Gegenprüfung vorausgesetzt werde, nicht aber eine dritte Kontrolle durch den Vertreter. Wie oben dargelegt, hängt dies nach Auffassung der Kammer stark von den Umständen im Einzelfall ab. Eine Drittkontrolle ist nicht gleich am Anfang erforderlich, wenn die Entscheidung in der Kanzlei des Vertreters eingeht und die diesbezüglichen Fristen notiert werden. Dies gehört noch zur administrativen Bearbeitung der Akte, an der der Vertreter nicht beteiligt sein muss, sofern seine Kanzlei über ein gut funktionierendes System verfügt.

10. Sobald die Akte jedoch dem Vertreter zur Bearbeitung vorgelegt wird, damit er fristgerecht tätig werden kann, geht die Verantwortung in jeder Hinsicht auf ihn über. Das Verwaltungssystem hat insofern gut funktioniert, als die Akte an den Vertreter weitergeleitet wurde. Nun da die Akte seinem Verantwortungsbereich unterliegt, hat er alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt walten zu lassen. Die letzte Verantwortung trägt der Vertreter. Da eine Versäumung der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung schwerwiegende Rechtsfolgen nach sich zieht, erfordert es die gebotene Sorgfalt unter diesen Umständen, dass der Vertreter die von seiner Verwaltungsabteilung berechnete Frist noch einmal überprüft, wenn ihm die Akte zur Bearbeitung vorgelegt wird. Er kann sich nicht einfach darauf verlassen, dass er diese Aufgabe ein für alle Mal seiner Verwaltungsabteilung übertragen hat. Im vorliegenden Fall enthielt das Deckblatt der Entscheidung neben den falsch vermerkten Fristen für die Einreichung der Beschwerdeschrift und -begründung, nämlich 15. April 2006 und 15. Juni 2006, auch das Datum der Entscheidung selbst, d. h. den 30. Januar 2006. Schon bei einer oberflächlichen Überprüfung hätte der Fehler somit auffallen müssen. Aus den eidesstattlichen Versicherungen des Vertreters geht hervor, dass er keine eigenen Berechnungen angestellt, sondern lediglich kontrolliert hat, ob die Fristen in das Computersystem eingetragen waren; auf ihre Richtigkeit hat er dabei nicht geachtet. Der Vertreter macht geltend, bei der Prüfung des Computersystems auf die entsprechenden Einträge würde er auch offensichtliche Fehler bemerken (zum Beispiel eine falsche Zahl von Monaten zwischen der Beschwerde- und der Beschwerdebegründungsfrist). In diesem Fall hat er sich aber offenbar kein eigenes Bild gemacht und daher den Irrtum nicht erkannt. Zudem hat der Vertreter seiner Mandantin die Entscheidung unter Angabe der falschen Daten zur Kenntnis gebracht und auch bei der Einreichung der Beschwerdeschrift nicht überprüft, ob die Fristen richtig berechnet waren.

11. In der Entscheidung T 1561/05 vom 17. Oktober 2006 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), der ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde liegt, vertrat die Kammer bezüglich der Anforderungen an die unter diesen Umständen gebotene Sorgfalt die gleiche Auffassung (s. insbesondere Nummern 2.2.1 und 2.2.2 der Entscheidungsgründe). So heißt es dort, dass es dem Vertreter zwar erlaubt sei, die Fristennotierung und -überwachung Hilfspersonen zu übertragen. Gehe jedoch eine Akte in seinen Herrschaftsbereich über, indem sie ihm zur Bearbeitung vorgelegt werde, dürfe er sich nicht mehr darauf verlassen, dass sein Hilfspersonal bisher allen ihm übertragenen Pflichten in zuverlässiger Weise genügt habe. Vielmehr gebiete es seine berufliche Sorgfalt, nicht nur stichprobenartige Kontrollen der Fristbücher vorzunehmen, sondern erst recht dann die Fristenberechnung zu überprüfen, wenn ihm die Akte zur Bearbeitung übergeben worden sei. Dies gehöre zu seiner eigenen Sorgfaltspflicht, deren Beachtung undelegierbar ihm selbst obliege.

12. Die obigen Feststellungen sind zwar im Hinblick auf den Wegfall des Hindernisses getroffen worden, die Kammer kann jedoch der Argumentation der Beschwerdeführerin nicht folgen, dass bei der Prüfung der Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags strengere Anforderungen an die Sorgfaltspflicht zu stellen seien als bei der Beurteilung seiner Begründetheit. Für die Anwendung verschiedener Sorgfaltsmaßstäbe in diesen beiden Fällen besteht keine Grundlage.

13. Auch in der Entscheidung T 719/03 vom 14. Oktober 2004 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) hat die Beschwerdekammer einen Wiedereinsetzungsantrag wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung des Vertreters selbst zurückgewiesen. Die Kammer führte damals aus, von einem anwaltlichen Vertreter müsse erwartet werden, dass er sich bei Vorlage einer anfechtbaren Entscheidung alle formalen und inhaltlichen Aspekte des Fortgangs des Verfahrens durch den Kopf gehen lasse. Das heiße, dass er die Notierung der Fristen überprüfen müsse. Normalerweise gehe damit eine eigenständige Fristberechnung einher. Die Beschwerdeführerin hat vorgebracht, dass der Entscheidung T 719/03 ein anderer Sachverhalt zugrunde liege, da hier anders als im vorliegenden Fall eine unerfahrene Hilfskraft beteiligt gewesen sei. Aus der Entscheidung geht jedoch klar hervor, dass es nach Auffassung der Kammer unabhängig von der Zuverlässigkeit der Hilfskraft zu den allgemeinen beruflichen Pflichten des Vertreters gehört, eine eigenständige Fristberechnung vorzunehmen (s. Nummern 3.1 und 3.2 der Entscheidungsgründe).

14. In der von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidung T 43/96 vom 5. Juli 1996 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) hat die Beschwerdekammer dem Wiedereinsetzungsantrag unter Hinweis auf ein einmaliges Versehen der Sekretärin stattgegeben, ohne auf die Pflichten des Vertreters selbst einzugehen. Die mit der vorliegenden Sache befasste Kammer sieht sich hierdurch aber nicht zu einer Änderung ihrer Auffassung veranlasst, da jeder Einzelfall nach dem jeweiligen Sachverhalt entschieden werden muss und in der damaligen Entscheidung nichts Näheres zur Beteiligung des Vertreters gesagt wurde. Die Beschwerdeführerin hat ferner die Entscheidung T 309/88 vom 28. Februar 1990 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) zu ihren Gunsten angezogen. In diesem Fall war aber die Frist versäumt worden, weil die Sekretärin sie nicht in das Fristenbuch eingetragen hatte. Dieser Fehler wurde nicht dem Vertreter angelastet, da er über ein gut funktionierendes System verfügte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er seine eigenen Pflichten vernachlässigt hat.

15. Die Beschwerdeführerin hält die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für geboten, weil die Frist um nur 2 Werktage versäumt worden sei und der Verlust eines Patents im Verhältnis dazu einen großen Schaden bedeuten könne. Die Rechtsprechung ist in diesem Punkt offenbar nicht ganz einheitlich (s. oben genannter Rechtsprechungsbericht, VI.E.9). Nach Auffassung der mit der vorliegenden Sache befassten Kammer ist als maßgebendes Kriterium in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob beim Umgang mit der Frist alle gebotene Sorgfalt beachtet wurde. In Artikel 122 (1) EPÜ ist keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgesehen, sondern vielmehr eine Würdigung der Umstände vorgeschrieben, die zum Fristversäumnis geführt haben. Ist die Frist einmal abgelaufen, so tritt der Rechtsverlust ein, und es ist unerheblich, um wie viele Tage die Frist versäumt wurde. Maßgeblich ist lediglich das Verhalten vor dem Ablauf der Frist und nicht die Dauer der Verzögerung (s. die neueren Entscheidungen T 1561/05 (s. oben), Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe und T 1401/05 vom 20. September 2006 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), Nr. 14 der Entscheidungsgründe). Die Zubilligung zusätzlicher Tage nach Ablauf einer Frist, in denen die Fristversäumung keine Rechtsfolgen hat, brächte bei der Anwendung des Artikels 122 EPÜ zudem ein Element der Willkür ins Spiel, was dem Grundsatz der Rechtssicherheit widerspräche.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen.

2. Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen.